Ein Aufstand weniger

Von | 10. Juli 2014

70 Jahre nach dem Warschauer Aufstand

Ein Aufstand weniger

Erinnerung an eine der großen nationalen Tragödien

 Von Holger Politt

Das Mahnmal zum Gedenken an den Warschauer Aufstand vor dem Gebäude des Appellationsgerichts. Gleich daneben befindet sich der Sitz des Verbandes der Aufständischen.  Foto: Kumpf

Das Mahnmal zum Gedenken an den Warschauer Aufstand vor dem Gebäude des Appellationsgerichts.
Gleich daneben befindet sich der Sitz des Verbandes der Aufständischen.
Foto: Kumpf

Verwunderlich ist nicht, dass das Kriegsrecht von 1981 in Polens Öffentlichkeit höchst umstritten bleibt, verwunderlich ist vielmehr, dass es der Warschauer Aufstand von 1944 immer weniger ist. Den jüngsten Beweis für die Heftigkeit, mit der über die jüngere Zeitgeschichte gestritten wird, lieferten die teils primitiv vorgetragenen Proteste gegen Wojciech Jaruzelski, die nach dessen Ableben Ende Mai in Warschau hochschwappten.

Als Polens neuer Fußballmeister Legia Warschau zum Saisonausklang im vollbesetzten heimischen Stadion die Mannschaft von Lech Poznań empfing, konnten die 30.000 Zuschauer ein wunderliches Schauspiel sehen. Mitten im Spiel wurde durch Fußballfans ein nicht zu übersehenes Transparent entrollt, auf dem geschrieben stand, Jaruzelski hätte gleich einem Tierkadaver verscharrt gehört. Erst nach einer reichlichen Viertelstunde griffen Ordnungskräfte ein und entfernten die peinliche Schmiererei.

Dieser Vorfall ist insofern interessant, weil das Umfeld von Legia in den letzten Jahren erfolgreich versucht hat, dem Klub die Aura des Warschauer Aufstands zu verpassen. Unbesiegte Stadt, unbesiegter Klub – so die einfache Botschaft für die Fans, die allen sozialen Schichten entstammen. Um zu spüren, auf welchen fruchtbaren Boden das trifft, genügt bereits der bloße Stadionbesuch.

Nun mag berechtigt eingeworfen werden, dass Fußballstadien überall auf der Welt Orte seien, in der die Sehnsucht nach übersichtlichen, klar geordneten Verhältnissen sich wenigstens für anderthalb Stunden Raum verschaffe und wo das einzelne Wort nicht auf die Goldwaage gehöre. Da Legia Warschau aber nicht irgendein beliebiger Vorstadtklub ist und selbst die harte Fanszene angeblich unter Kontrolle steht, illustriert der Vorfall doch ganz gut, wie öffentliche Stimmungsbilder geschichtspolitisch geschickt instrumentalisiert und gelenkt werden können.

Szenenwechsel. An Jaruzelskis Grab begegnen sich Jerzy Urban und Adam Michnik, zwei herausragende Publizisten und legendäre Zeitungsmacher. 1981 standen sie in vorderster Reihe auf den entgegengesetzten Polen der Barrikade. Was sie jetzt zusammenführte, war die Erinnerung an den Runden Tisch, mit dem in Mitteleuropa im Frühjahr 1989 ein neues geschichtliches Kapitel aufgestoßen wurde. Jaruzelskis Anteil am Zustandekommen des Tisches ist unbestritten. Vor dem Friedhof steht indes ein Häuflein Unentwegter, das eine schnelle Abrechnung mit den Beteiligten des Runden Tisches fordert, weil die jetzt so schnell das Zeitliche segnen würden. Wenige Tage später wird in Adam Michniks „Gazeta Wyborcza“ eine Rechnung aufgezeigt: Die etwa 100 Todesopfer in den 1980er Jahren sollten ins Verhältnis gesetzt werden zu den 379 Menschen, die allein an den ersten drei Tagen des Maiumsturzes von 1926 ums Leben kamen, den Józef Piłsudski anführte.

Lech Wałȩsa gebrauchte, als er Jaruzelski würdigte, eine andere Relativierung. Der nämlich sei ein großer Mensch und Politiker gewesen, allerdings einer aus der Generation des Verrats. Verraten worden sei Polen gleichermaßen 1939 wie 1945. So wird die Tür weit aufgestoßen zu einem großen historischen Bogen. Der Warschauer Aufstand als Folge von 1939, als die Bündnisverpflichtungen aus dem Westen nicht viel wert gewesen waren und das Land, die erste Beute im Zweiten Weltkrieg, zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt wurde. Der Aufstand als politischer Versuch, Geschichte wieder geradezurücken, weil die Sowjetunion mittlerweile die militärische Hauptlast trug im Kampf gegen Hitlerdeutschland und es sich abzuzeichnen begann, dass sie als wichtigster Verbündeter des Westens nach dem Krieg über weite Teile im östlichen Europa – einschließlich Polen – hegemonial herrschen werde. Die katastrophale Niederlage des Aufstands, der auf polnischer Seite weit über 200.000 Menschen das Leben kostete, bestätigte das militärisch auf polnischem Boden sich durchsetzende politische Kräfteverhältnis, der Westen hatte seine politischen und militärischen Einflussmöglichkeiten nahezu vollständig verloren. Folgt man der Lesart Wałȩsas, so kam es nun 1945 infolgedessen zum nächsten Verrat, d. h. Polen sei widerstandslos dem sowjetischen Machtbereich überlassen worden.

Im Jahre 2006 schrieb Jaruzelski einen Text, in dem er über die Dynamik der deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1988 bis 1990 reflektierte. Dabei kam er auch auf den eigenen Lebensweg zu sprechen, der ihn im Zweiten Weltkrieg als junger Offizier der polnischen Armee an der Seite sowjetischer Waffenbrüder bis an die Elbe geführt hatte. Als Erfahrung des Kriegs blieb ihm, und hier spricht er für die ganze „Generation des Verrats“, wie Wałȩsa sie nannte, das Versprechen, nie wieder Krieg zuzulassen, nie wieder schwach, nie wieder allein zu sein. Unter den damaligen Bedingungen habe das bedeutet, sich als treuer Bündnispartner Stalins zu behaupten. Die neue Ostgrenze Polens war de facto festgelegt, niemand wäre in der Lage gewesen, daran auch nur einen Millimeter zu ändern. Offen sei hingegen die Frage der künftigen Westgrenze geblieben. Dass es die Oder-Neiße-Linie geworden sei, dass Polen einen hunderte Kilometer umfassenden breiten Zugang zur Ostsee bekommen habe, dass Breslau und Stettin polnisch geworden seien, sei den polnischen Streitkräften und politischen Strukturen zu verdanken gewesen, die als Verbündete Moskaus sich auszeichnen konnten. Der Preis sei hoch gewesen, nämlich die weitgehende politische Abhängigkeit und der Verzicht auf die volle Souveränität, aber die historische Rechnung, so Jaruzelski 2006, habe sich für die Polen und für Polen dennoch gelohnt. Was meint Wałȩsa anderes, wenn er Jaruzelskis Generation als die des Verrats bezeichnet?

Mit Jaruzelskis Tod wurde eine ganze Epoche zu Grabe getragen. Als 2004 in Warschau das Museum des Warschauer Aufstands eröffnete, war das bereits möglich, weil die Wunden, die der Aufstand in Polen selber riss, verheilt waren. Der Stolz, den größten Stadtaufstand in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs öffentlich würdigen zu können, ist nachvollziehbar. Dieser Stolz knüpft ganz unmerklich die Fäden zu den großen Nationalaufständen im 19. Jahrhundert, die ebenfalls scheiterten und einen hohen Blutzoll forderten. Die unbeschreibliche Herausforderung aber, zugleich an eine der großen nationalen Tragödien erinnern zu müssen, die gravierende Auswirkungen für die Zukunft gehabt hatte, musste dem nachstehen, wurde geschichtspolitisch und obendrein falsch verkürzt. Denn die Zukunft, die dann Gegenwart wurde, hat mit dem Lebensweg von Jaruzelski zu tun, der den gefallenen Aufständischen sehr viel näher steht, als es sich die Museumsmacher bis heute eingestehen wollen. Eine Zeit indes, in der in Polen Straßen und Plätze nach Wojciech Jaruzelski benannt, in der ihm zu Ehren Denkmäler aufgestellt werden, ist nicht in Sicht.