Zum Tod von Marek Edelman

Der Hüter

 

Von Friedrich Leidinger

 

Als Marek Edelman, der letzte überlebende Führer der Jüdischen Kampforganisation des Warschauer Ghettos am 2. Oktober 2009 starb, war er vielleicht 90 Jahre alt. Sein Geburtstag ist unbekannt; in seinem Pass stand der Neujahrstag 1919, er selber vermutete, er sei 1921 geboren. Er kam in Homel (Gomel) im heutigen Belarus als einziges Kind einer jüdischen Arbeiterfamilie zur Welt. Sein Vater, Natan Feliks Edelman, Mitglied der Sozialistisch-Revolutionären Partei, verstarb bereits 1924.

 

Edelman wuchs in Warschau auf. „Ja, das ist meine Stadt, hier habe ich polnisch, jiddisch und deutsch gelernt; hier habe ich in der Schule gelernt, dass man sich immer um die Anderen kümmern muss. Aber hier war es auch, dass mir jemand ins Gesicht schlug, einfach weil ich Jude war.“ Mit seiner Mutter sprach er jiddisch, in der Schule und auf der Arbeit polnisch. Cecylia Edelman gehörte zum ‚Bund', dem Algemejner Jidisher Arbeter Bund in Rusland, Pojln un Lite (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Russland, Polen und Litauen). Über seine Mutter gelangte auch Edelman in den Bund. Hier fand er nach ihrem frühen Tod 1934 seine neue Familie.

„Der Bund war die Partei der jüdischen Arbeiter in den Gebieten zwischen Weichsel und Don, wo man jiddisch sprach, jiddisch träumte und jiddisch sang. (...) Die Bundisten erwarteten nicht die Ankunft des Messias, noch hatten sie vor, nach Palästina auszuwandern. Sie betrachteten Polen als ihr Land und sie kämpften für ein sozialistisches, gerechtes Polen, in dem jede Nationalität - Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche - kulturelle Autonomie genießen sollte, in dem die Rechte der Minderheiten gewährleistet wären.“ Mit seinen Nachwuchsorganisationen - dem skif - Socjalistiszer Kinder Farband, der Jugendorganisation Cukunft und den zahlreichen Schulungsstätten, Sommerlagern und sogar einem Sanatorium für tuberkulöse Kinder bot der Bund den Familien der jüdischen Arbeiter, Handwerker und Kleinhändler umfassende soziale Unterstützung. Solidarität machte nicht vor nationalen Schranken Halt. Auch Kinder streikender deutscher und polnischer Bergleute wurden aufgenommen.

Ende September 1939 kehrte Marek Edelman in die polnische Hauptstadt mit ihren über 380.000 jüdischen Einwohnern zurück, und beteiligte sich an der Organisation des Widerstandes. Die Grausamkeit des deutschen Besatzungsregimes war schnell klar. Aber niemand konnte sich damals vorstellen, dass die Ermordung aller polnischen Juden bevorstand. Im Untergrund arbeitete Edelman für Szmul Zygielbojm, einen führenden Bundisten, der während der Belagerung Warschaus Arbeiterbataillone zur Verteidigung der Stadt organisiert hatte. Ende 1939 ging Zygielbojm ins Exil. Als am 12. Mai 1943 der Rundfunk die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto meldete, setzte er verzweifelt über die Untätigkeit, mit der die ganze Welt der Vernichtung des jüdischen Volkes zuschaute, seinem Leben ein Ende.

Ende 1940 riegelten die Deutschen mehrere Stadtteile im Zentrum Warschaus als „Jüdischen Wohnbezirk“, das Warschauer Ghetto ab, in das nicht allein alle Warschauer Juden, sondern auch Juden aus den umliegenden Kleinstädten und Dörfern eingewiesen wurden. Wohl über 550.000 Menschen wurden in dem engen Stadtbezirk eingepfercht. Die politischen Organisationen setzten ihre Tätigkeit unter den erschwerten Bedingungen fort. Die Menschen im Ghetto hatten nichts zu essen, und jeden Tag starben Tausende an Hunger und Krankheit. Auf der „arischen Seite“ gab es Unterstützung, allen voran die ¿egota, eine Untergrundorganisation zur Rettung von Juden. Aber da waren auch die „Szmalcowniks“, die die Zwangslage der Juden ausnutzten, sie erpressten und am Ende doch der Gestapo auslieferten.

Trotz der dehumanisierenden Bedingungen gelang es, ein ziviles und kulturelles Leben im Ghetto zu organisieren. „Nicht aus dem Terror ist die Widerstandsbewegung geboren. Der Terror tötet den Widerstand. Was ihn belebt, ist der Geist der Solidarität und der Brüderlichkeit.“ Die Bundisten konnten ihre Erfahrung aus dem politischen Kampf der Vorkriegszeit nutzen. Anders als die Zionisten, die sich nur auf die Ausreise nach Palästina vorbereitet hatten, verfügten sie über ein soziales Netz und Strukturen. Es gab Theater, Konzerte, ja sogar Unterricht. In einer geheimen Medizinischen Hochschule unterrichteten Professoren der Warschauer Universität. Im Café rezitierte der Dichter Władysław Szlengel; in den Hinterhöfen sah man die Tänzerin Pola Lypszyc oder hörte den Geiger Ludwig Holomann und den Dirigenten Simon Pullman.

Bereits im November 1939 gründeten ehemalige jüdische Offiziere der polnischen Armee den Jüdischen Militärverband (ŻZW) mit etwa 250 Aktiven. Der ŻZW verfügte über einige Handfeuerwaffen und eine funktionierende Befehlsstruktur. Als Anfang 1942 die ersten Nachrichten von der Shoah eintrafen, bemühten sich Kommunisten und Zionisten um Gründung einer „antifaschistischen Front“ im Ghetto, der sich aber die Bundisten aus Misstrauen gegen die Kommunisten nicht anschlossen. Man wollte das Risiko nicht durch die Zusammenarbeit mit Menschen vergrößern, die man nicht kannte. Die fünfhundert Männer und Frauen der Miliz des Bund trainierten unter Anleitung von Offizieren der Armia Krajowa (AK), der polnischen Untergrundarmee, den bewaffneten Kampf. Zwar hatten sie keine Waffen, aber sie träumten davon, einmal an der Befreiung Warschaus mitzuwirken. Doch spätestens im Juli 1942 war jeder Gedanke daran illusorisch. Innerhalb weniger Wochen deportierten die Deutschen in der „Großen Aktion“ den größten Teil der noch nicht gestorbenen Ghettobevölkerung aus nach Treblinka. Der Vorsitzende des Judenrates, Adam Czerniaków beging Selbstmord.

Nur etwa 60.000 verblieben in den Resten des Ghettos. Die meisten Kämpfer des Bund waren unter den Deportierten. Die Übrigen begriffen ihre aussichtslose Lage. Unter diesen Umständen schlossen sich am 15. November 1942 aller Kräfte des jüdischen Widerstandes zur Jüdischen Kampforganisation (ŻOB) zusammen. Höchstens 220 Kämpfer zählten die ŻOB, junge Frauen und Männer. Viele kannten sich aus der politischen Arbeit der Vorkriegszeit. Edelman wurde in der fünfköpfigen Führung der ŻOB für die Nachrichtendienste verantwortlich. Über seine Kontakte zur arischen Seite leitete er einen Bericht über die große Vernichtungsaktion und den Beginn des Widerstandes im Januar 1943 in den Westen.

Die wenigen Waffen der ŻOB stammten von kommunistischen Widerstandsgruppen. Höchstens jeder Zehnte verfügte über eine einfache Handfeuerwaffe. Ein Gewehr hatte niemand. Für die Fertigung von Brandsätzen wurde sogar eine Fabrik eingerichtet. Nach dem Krieg fand man in Warschau bei Bauarbeiten auf einem Grundstück tausende von Zündern.

Zur ersten militärischen Aktion kam es am 18. Januar 1943. Die Deutschen hatten das Ghetto abgeriegelt und rückten ins Ghetto vor, um die verbliebene Bevölkerung zu deportieren. An der Ecke Milastraße-Zamenhofstraße eröffnete eine Kampfgruppe das Feuer. Obwohl die Kämpfer nur mit wenigen Pistolen bewaffnet waren, lieferten sie der Wehrmacht ein längeres Feuergefecht und entkamen schließlich durch die Kanalisation. Eine andere Kampfgruppe wurde gefangen genommen, aber sie weigerten sich am Umschlagplatz, in den Zug zu steigen und wurden am Ende alle dort erschossen. Die tatsächliche militärische Stärke (oder besser Schwäche) der jüdischen Kämpfer stand in keinem Verhältnis zur enormen psychologischen Wirkung ihres Widerstandes - nicht allein auf die Deutschen, die darauf in keiner Weise gefasst waren und sich daher verwirrt und demoralisiert zurückzogen. Der militärische Erfolg der ¿OB setzte auch die Führung der AK, die bis dahin eher abwartend taktiert hatte, unter immer stärkeren Druck ihrer Mitglieder, die eine militärische Konfrontation mit den Besatzern verlangten. Schließlich war die AK-Führung nun zu Waffenlieferungen bereit, was angesichts der völlig unzureichenden eigenen Vorräte nur bedeuten konnte, die Not zu teilen.

Was waren die Motive der jüdischen Kämpfer? „Wir wussten ganz genau, dass wir keine Chance hatten zu gewinnen. Wir wollten einfach nicht den Deutschen erlauben, alleine den Zeitpunkt und Ort unseres Todes zu bestimmen. Wir wussten, uns erwartet der Tod. So wie die Anderen, die nach Treblinka geschickt wurden.“ Jene, die gefasst in den Zug stiegen, sah Edelman nicht als willenlose Masse, sie zeigten äußersten Mut. „Ihr Tod war bei weitem heroischer. Wir wussten nicht, wann wir uns die Kugel geben würden, jene aber gingen einem sicheren Tod entgegen, nackt ausgezogen in einer Gaskammer oder auf dem Rande eines Massengrabs stehend, eine Kugel in den Hinterkopf erwartend.“

Am 18. April 1943 drangen deutsche Soldaten in die Reste des Ghettos ein, um die dort noch lebenden Juden zum "Umschlagplatz" zu bringen. Sie stießen auf so heftigen Widerstand, dass ihr Vormarsch schon im Anfang stecken blieb. Zwanzig Tage dauerten die Kämpfe, in denen die Deutschen schwere Waffen, Flammenwerfer und Luftwaffe gegen einige hundert Pistolen, mehrere Dutzend Sprengfallen und hunderte von Molotowcocktails einsetzten. Der Ausgang des ungleichen Kampfes stand von Anfang an fest, und doch kämpften die Juden mit allen verfügbaren Mitteln. Edelman wurde gefangen genommen und konnte wieder entkommen, ein anderes Mal hielt ihn ein SS-Mann am Haarschopf, und konnte ihn doch nicht festhalten. Seine Ortskenntnis half ihm, sich im Kampfgebiet durch das Netz von Abwasserkanälen zu bewegen.

Am 10. Mai hatten die fast Deutschen das gesamte Ghetto unter Kontrolle. Edelman schlug sich mit den noch lebenden Leuten seiner Gruppe, etwa 60 Kämpfern, auf die arische Seite durch, um sich dem Untergrund anzuschließen. Auf Befehl des AK Kommandanten Stefan Rowecki („Grot“) gingen sie nach Osten, um sich einer AK Einheit am Bug anzuschließen, doch kam nur ein Teil von ihnen dort an. Die Vereinigung mit der AK kam nicht zustande und die Gruppe löste sich auf. In den folgenden Monaten lebte Edelman ständig versteckt bei Menschen, die ihm Unterkunft und Essen gaben. Oft musste er fliehen, manchmal wurde er verraten, manchmal bezahlten die Menschen, die ihm halfen, mit ihrem Leben. Am 1. August 1944 schloss er sich dem Warschauer Aufstand an. Als Jude misstrauten ihm viele nationalistische AK-Leute, aber bei einer Kampfgruppe der linken Armia Ludowa (Volksarmee) fand er Anschluss. Nach der Kapitulation der Aufständischen versteckte er sich in einem Keller in der völlig zerstörten Stadt, bis ihn Freunde herausholten und nach Grodzisk brachten. Dort erlebte Edelman am 17. Januar 1945 den Einmarsch der Roten Armee.

Nach der Befreiung reiste Edelman durch das zerstörte Land. Er war bewaffnet. Überall kam es in den unruhigen Nachkriegsjahren zu Morden an Juden, oft politisch motiviert, weil rechte Gruppen die Juden für die kommunistische Machtübernahme verantwortlich machten. Er suchte nach politischen Gefährten und Freunden, versuchte den Bund zu reorganisieren. Aber das Volk dieser Partei lebte nicht mehr. Und die noch Lebenden mochten meistens nicht bei den Kommunisten bleiben. Zionistische Organisationen warben für eine Ausreise nach Palästina. Andere suchten die Emigration nach Amerika oder Westeuropa. Edelman entschied sich zu bleiben. Er schrieb seine Erfahrungen aus dem Ghetto auf, heiratete Ala Margolis, eine Bekannte aus dem Untergrund, zog nach £ódŸ, und begann ein Studium der Medizin. Als 1948 die Überreste des Bund den Eintritt in die Vereinigte Arbeiterpartei beschlossen, hatte er nichts mehr damit zu tun. Er fuhr ins Ausland, nach Frankreich, Italien, Israel und die USA und kehrte immer wieder nach Polen zurück.

Er weigerte sich, in die Partei einzutreten, er verprellte seine ehemaligen Genossen, die ihm klar machen wollten, er gehöre nach Israel, er widerstand den immer wieder in Polen aufflammenden antisemitischen Kampagnen. Er blieb.

Marek Edelman wurde Herzchirurg und bewies außerordentliche Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Unter seiner Leitung fand in Łódź die erste Herztransplantation in Polen statt. Als die Parteisekretärin seines Krankenhauses 1953 im Rahmen einer Kampagne gegen jüdische Ärzte, die angeblich Stalin vergiften wollten, ihn am Betreten des Operationssaales hindern wollte, verpasste er ihr eine Ohrfeige, und damit war die Sache erledigt. 1968 wurde im Rahmen einer neuerlichen antisemitischen Kampagne seine Habilitationsschrift abgelehnt. Seine Frau verließ Polen und ging mit den gemeinsamen Kindern nach Frankreich. Er blieb. „Einer musste schließlich hierbleiben, um die Gräber zu hüten, damit keiner auf sie spuckt.“

Mit der polnischen Oppositionsbewegung der 1970er Jahre sympathisierte Edelman, ohne sich ihr anzuschließen. 1976 führte er ausgedehnte Gespräche mit der Journalistin Hanna Krall . 1981 saß er nach Verhängung des Kriegsrechts im Gefängnis, kam aber nach Interventionen polnischer und ausländischer Intellektueller wieder frei. Die Einladung zur offiziellen Feier des 40. Jahrestages des Ghettoaufstandes in Warschau 1983 schlug er aus. 10 Jahre später protestierte er gegen die Einladung des israelischen Staatspräsidenten zum Ghetto-Gedenktag, der Aufstand sei eine polnische und keine israelische Angelegenheit gewesen. 1997 besuchte Edelman ein weiteres Mal Israel und traf sich bei der Gelegenheit auch in Gaza mit Arafat, was ihm die israelische Öffentlichkeit mehrheitlich nicht verzieh. Am 17. April 1998, verlieh ihm Präsident Aleksander Kwaśniewski den „Weißen Adler-Orden“, die höchste Auszeichnung der polnischen Republik. Edelman dankte in der ihm eigenen Weise: Dieser Orden sei ein Orden für Polen, das nach der Ermordung von über 3 Millionen seiner Bürger verwaist ist, und mit ihnen auch ihre Kultur verloren hat, die sich durch die Jahrhunderte mit der polnischen Kultur, Sprache und Gebräuchen vermischt hat.

Seine letzten Jahre verbrachte Marek Edelman allein in seiner Genossenschaftswohnung in Łódź, umgeben von den Bildern, die sein Leben seit seiner Jugend begleiteten - Flammen, Asche, Gesichter von Menschen, die Entsetzen, Grauen spiegelten. Er war ein „Überlebender“. Er lebte, doch um ihn herum waren die Schatten von Millionen, die seine Sprache gesprochen, seine Kultur gelebt hatten, für deren Platz in Polen, für deren Leben und Freiheit er gekämpft hatte. Sie waren tot, und außer ihren Gräbern und ihrer Asche hinterließen sie ihm quälende Erinnerungen an alles menschliche Gefühl und Verstand übersteigende, grauenvolle Schicksale. Die Ärztin im Kinderkrankenhaus, die ihre kleinen Patienten lieber in ihren Bettchen sterben ließ, als sie den Deutschen auszuliefern; die Mutter, die ihr Baby erdrosselte, als sie in einer Gruppe Flüchtender im Kanal ausharrte, damit es sie durch sein Schreien nicht verriet. Seine eigene Erinnerung an die Freudenmädchen, die er auf der Flucht aus dem Ghetto zurückgelassen hatte. Manchmal rief ihn jemand, der wie er überlebt hatte und mit dem Bösen nicht fertig war, in der Nacht an und redete stundenlang. Manchmal sprach er vom Tod, den er tausendfach gesehen hatte. Am schwersten schien es ihm, hilflos in einem Bett den Tod zu erwarten. Er war der Hüter der Würde der Ermordeten. Bis zu seinem letzten Atemzug.                                           m