„Über Lügenbrücken gibt es keine
Versöhnung“
Symposium zum 70. Jahrestag des deutschen
Überfalls auf Polen
Von Susanne Willems
Mit einem eindringlichen Plädoyer für eine wahrheitsgetreue
Geschichtsvermittlung grüßte Iwona Kosłowska namens des polnischen Botschafters Dr. Marek
Prawda am 28. August 2009 das von der Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu
Polen gemeinsam mit der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und
Weltkriegsforschung und der Akademie für politische Bildung der Rosa Luxemburg
Stiftung veranstaltete Symposium: „Die persönlichen Erinnerungen werden wieder
wach. Das Leid wird wieder stärker spürbar. Die Trauer um die unzähligen Opfer
der skrupellosen Besatzungsherrschaft mit Massenmord, gewaltsamer Umsiedlung
wird zum 70. Mal die Herzen der Polen schmerzen lassen. (...) Wir dürfen es
nicht zulassen, dass eine historische Amnesie um sich greift, historische
Fakten gefälscht werden und die Geschichte umgeschrieben wird.“
Ein mehrheitlich Berliner
Publikum nutzte die Gelegenheit des eintägigen Symposiums zur Diskussion der
wissenschaftlichen Vorträge zu den politischen, ökonomischen und militärischen
Bedingungen des deutschen ńberfalls auf Polen am
1. September 1939. Als erster Referent konstatierte Prof. Dr. Werner Röhr,
Mitherausgeber der 1988 bis 1996 erschienenen neunbändigen Edition „Europa
unterm Hakenkreuz“, dessen Forschungen zur deutschen Besatzungspolitik in Polen
1939-1945 unter dem Titel „Occupatio Poloniae“ 2004 in der Edition Organon
als Beiheft 4 des Bulletins für Faschismus- und Weltkriegsforschung publiziert
sind, dass aus Anlass der diesjährigen Jahrestage über die Geschichte mehr
gelogen werde, als je zuvor, und warnte, dass es über Lügenbrücken keine Versöhnung
gibt. Zwei Konstrukte beherrschen die öffentliche Meinungsbildung nicht nur in
Polen: erst Stalin habe den deutschen Überfall auf Polen durch den Pakt vom 23.
August 1939 ermöglicht sowie Polen war durch den sowjetischen und den deutschen
Nachbarn in gleicher Weise in seiner Existenz bedroht.
Polens innen- und außenpolitische Lage und der deutsch-sowjetische
Vertrag
Zunächst skizzierte Röhr die
innere und äußere Lage Polens in der Zwischenkriegszeit: die Schwierigkeiten
der Staatsbildung aus drei Teilungsgebieten und des Übergangs eines Agrarlands
zur Industrialisierung mit 4 Millionen landlosen Bauern, sinkendem
Lebensstandard und eskalierender Gewalt gegenüber der ukrainischen und der
jüdischen Minderheit im Land, dessen Industrieproduktion trotz Entstehung eines
neuen zentralpolnischen Industriereviers bis 1938 nicht das Vorkriegsniveau von
1913 erreichte und das nach dem 11. November 1918 auf der Basis von Pi³sudskis
Konzeption Polens als Vielvölkerstaat Staatsgründungskriege führte, in denen im
Süden das Teschener Gebiet mit der besten Steinkohle
Europas und im Norden das Wilnaer Gebiet umstritten blieben. Im Osten führte
Polen den Krieg, der 1921 im Grenzdiktat des Rigaer Friedens mit Sowjetrussland
mündete und Polen um die mehrheitlich belorussischen und ukrainischen
Landesteile erweiterte. Im Westen hielt Deutschland den Konflikt um
Oberschlesien offen, das mit einem Drittel seines Territoriums, aber drei
Fünfteln seines industriellen Potentials Polen zugewachsen war, für die
deutsche Industrie eine „blutende Grenze im Osten“, Polen nicht mehr als ein
„Saisonstaat“ des bekämpften Vertragssystems von Versailles, den man zunächst
durch eine Wirtschaftsblockade nierderringen zu
können glaubte.
Einer schonungslosen Kritik
unterzog Röhr die Außenpolitik Józef Becks, der nach
dem Tod Pi³sudskis 1935 den Wechsel von der Gleichgewichts- oder Äquidistanzpolitik zwischen Deutschland und der Sowjetunion
zu einer Annäherung an den faschistischen Block vollzog, eine selbstmörderische
Politik, die 1938 im Windschatten der von Großbritannien und Frankreich in
München sanktionierten deutschen Aggression gegen die Tschechoslowakei in der Annektion des tschechischen Olsagebiets
gipfelte. Zu spät erkannte Józef Beck, daß Nazideutschland hinter der - durch Vereinbarungen zu
deutsch-polnischer Gemeinsamkeit in der Geschichtsschreibung, im
Jugendaustausch und im Dialog der Juristen ausgeschmückten - Fassade der
Nichtangriffsvereinbarung vom 26. Januar 1934 an der antipolnischen
Stoßrichtung seiner revisionistischen Politik festhielt, also weder die Grenzen
Polens, noch dessen aus dem Status Danzigs als Freier Stadt resultierenden
Rechte anerkannte. Erst im März 1939 verweigerte sich Polen der von Deutschland
angebotenen Rolle als unterworfener Satellit und Juniorpartner der deutschen
Expansionspolitik.
Zu den deutschen Vorbereitungen
auf den ab März 1939 von Hitler intern angekündigten und mit der Direktive zum
„Fall Weiß“ vom 11. April 1939 militärisch geplanten Angriffskrieg gegen Polen
gehörten Militärmanöver, die Aufstellung der Einsatzgruppen des
Sicherheitsdiensts der SS, die Organisation der Polizeibataillone der
Ordnungspolizei, die Formierung und Aufrüstung des Militärs in Danzig, darunter
des Sturmbanns Eimann, das den Massenmord an den
psychisch Kranken und die Morde an Gefangenen in Stutthof
unmittelbar nach Kriegsbeginn verantwortete, die Aktivitäten des militärischen
Geheimdienstes, dessen Kriegsorganisation insbesondere in Oberschlesien die
unzerstörte Übernahme von Industrieanlagen vorbereitete, die antipolnische
Hetze in Deutschland, deren Kern die Lügen über angebliche polnische Verbrechen
an Volksdeutschen waren, und schließlich die Planungen für den A-Fall auf dem
innerdeutschen Kriegsschauplatz: die bereits in Karteien des SD erfassten
Antifaschisten und Kriegsgegner waren zu Tausenden und Abertausenden bei
Kriegsbeginn zu verhaften und in die Konzentrationslager zu verschleppen. Die
wissenschaftlich-industrielle Zusamenarbeit ließ die
deutschen Konzerne detaillierte Programme für den Raubzug gegen Polen bereithalten,
deren vorrangige Ziele die Übernahme des Steinkohle- und Eisenerzbergbaus, der
Verhüttungsanlagen und der Schwerchemie im Südwesten Polens und die der
Chemischen Produktion im ganzen Land waren. Während sich 1938 noch eine
militärische Opposition gegen die Aggression gegen die Tschechoslowakei
formiert hatte, führte die Kriegstreiberei 1939, und zwar wegen ihrer
antipolnischen Stoßrichtung, weder zu Differenzen, noch zu Fraktionierungen
innerhalb der deutschen militärischen Führung. Der Öffentlichkeit kündigte sich
der Krieg gegen Polen durch die antipolnische Hetzberichterstattung in den
gleichgeschalteten Medien an.
Das polnische Militär hingegen
war - wegen der illusionären Politik in den 30er Jahren - unvorbereitet, zumal
die militärische Führung erst im Jahr 1937 den von Mossow
vorgelegten Plan zur Landesverteidigung abgelehnt hatte, der, insofern realistischer
als die damalige Außenpolitik, ein Bündnis mit der Sowjetunion für notwendig
hielt. Die militärische Strategie aber setzte auf die formale Zusage der
Westmächte für eine wirtschaftliche und logistische Militärhilfe ab dem 15. Tag
des Kriegs. Doch hatten Großbritannien und Frankreich sich im Sinne der Politik
von München lange vor dem bisher als Datum des Verrats geltenden 12. September
1939 geeinigt, wie jüngste Forschungen des polnischen Militärhistorikers Lech Wyszczelski aufgrund britischer Regierungsakten zeigen,
dass sie sich für Polen nicht in einen Krieg hineinziehen lassen würden.
Großbritannien war zwar weiterhin bereit, die Unabhängigkeit Polens, nicht aber
dessen Grenzen und damit territoriale Integrität zu garantieren. Als Profiteur der deutschen Aggression gegen die
Tschechoslowakei saß Polen in der Falle: von Deutschland militärisch an drei
Flanken bedroht wurde es zum Bauernopfer der zuerst antisowjetischen Politik
Großbritanniens und Frankreichs, die ihrerseits eine deutsche Aggression im
Westen hinauszuzögern trachteten.
Als die Sowjetunion am 23. August
1939 das deutsche Angebot eines Nichtangriffsvertrags akzeptierte, waren die
von sowjetischer Seite initiierten Verhandlungen mit den Westmächten um eine
kollektiv zu garantierende Sicherheit gegen jede deutsche Aggression
gescheitert, nicht zuletzt an der illusionären Erwartung Polens, die
Sowjetunion einseitig zum militärischen Beistand verpflichten zu können. Alle
Dokumente widerlegen die als Kern eines antisowjetischen und antitotalitären Geschichtsbilds
unverzichtbare und als Element eines nationalen Selbstbildes in Polen populäre
These, erst der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939
habe den Überfall auf Polen ermöglicht. Diesen plante Nazideutschland, nachdem
Polen sich 1939 weigerte, Juniorpartner der faschistischen Expansion zu werden,
unter allen Umständen; richtig aber ist, dass der Pakt den deutschen
Angriffskrieg erleichterte. Aus sowjetischer Sicht war die Option auf
Neutralität angenehmer, als sich - ohne Durchmarschrechte - mit Großbritannien
und Frankreich zum militärischen Eingreifen zu verpflichten. Diese taktische
Überlegung allerdings machte die Sowjetunion zu einer Grundsatzfrage und
entschied sich im Staatsinteresse für die territoriale Beute und gegen den
Antifaschismus, ein Bankrott revolutionärer sowjetischer Außenpolitik, der mit
der Auswechslung Litvinows gegen Molotow einherging. Die polnische
Öffentlichkeit und die politische und militärische Führung Polens, von
Frankreich und Großbritannien in Unkenntnis über ihre veränderte strategische
Grundentscheidung gehalten, getäuscht und belogen, und deshalb weiterhin auf
die - im Mai 1939 bestätigte - Zusage nach dem französisch-polnischen Vertrag
von 1921 fixiert, am 15. Kriegstag militärisch einzugreifen, erfassten die
Bedeutung des sowjetischen Einmarschs am 17. September 1939 zunächst nicht.
Der Abschluss des Vertrags vom
23. August 1939 war für beide Seiten nicht zwingend: Die Sowjetunion hätte den
Nichtangriffsvertrag schließen können, auch ohne sich an dem Länderschacher der
völkerrechtswidrigen Zusatzvereinbarungen zu beteiligen; ohne den Vertrag und
den Einmarsch der Roten Armee in Polen hingegen wäre Deutschland die Option
eines - der Slowakei vergleichbaren - faschistischen westukrainischen
Marionettenstaats geblieben.
Deutsche Diversionsaktivitäten in Polen vor Kriegsbeginn
Der Warschauer Historiker Dr. Tomasz Chinciński befasste
sich mit den kriegsvorbereitenden parallelen
Aktivitäten deutscher Geheimdienste in Polen ab Oktober 1938: des Amtes Abwehr
des Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unter Canaris und des Sicherheitsdiensts
(SD) der SS unter Heydrich. Während der militärische Geheimdienst die „kleine
Kriegführung“ durch Waffenlieferungen an deutsche Agenten in Polen
vorbereitete, die den deutschen Einmarsch militärisch stützen und insbesondere
kriegswirtschaftlich bedeutsame Industrieanlagen vor etwaiger Zerstörung übernehmen
sollten, organisierte der SD die Diversantentätigkeit in Polen. Bereits im
Sommer 1939 plante der SD 180 Attentate auf 223 Objekte, die als Provokationen
gegen Volksdeutsche in Polen und an der polnisch-deutschen Grenze inszeniert
für die westlichen Regierungen und die Öffentlichkeit einen Anlass für den
geplanten deutschen Angriffskrieg liefern sollten, was Hitler noch am 22.
August 1939 vor der Wehrmachtsführung mit den Worten bekräftigte, er werde
„propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob
glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit
gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf
das Recht an, sondern auf den Sieg“.
Ziel der Untersuchung Chincińskis ist die Klärung der bis heute die
polnisch-deutschen Beziehungen belastenden Frage, in welchem Umfang sich
Angehörige der deutschen Minderheit in Polen an der von der militärischen
Abwehr vorbereiteten Spionage, Diversion und Sabotage beteiligt haben. Die Zahl
der Opfer deutscher Herkunft durch polnische Gegenwehr im September 1939 setzte
die nazistische Propaganda auf 58.000 hoch; eine frühe polnische
Nachkriegsdokumentation weist 3.257 Tote nach. Chinciński,
dessen Buch „Hitlers Vorposten: Die Rolle der deutschen Diversion in der
Hitlerschen Politik gegen Polen 1939“ vor der Publikation steht, schätzt die
Zahl der Opfer deutscher Herkunft in Polen auf 2.000 Personen.
Angeworben hatte die Abwehr nach
eigenen Berichten durch ihre Agenten zwischen Februar und Juli 1939 fast 11.000
Diversanten: mehr als 6.000 deutsche und etwa 4.000 ukrainische Nationalisten;
außerdem organisierte sie sudentendeutsche Diversantengruppen. Maßgeblich aber
für das 1939 wachsende Misstrauen von Polen gegen Volksdeutsche in Polen war
nach den Forschungsergebnissen Chincińskis nicht
die militärische, sondern die politische Diversion: der Erfolg der Desinformationskampagnen
über angebliche antideutsche Greueltaten, wodurch die
interventionistische Propaganda den Enthusiasmus
eines Teils der Volksdeutschen für den nach München erwarteten Erfolg einer
territorial-revisionistischen Politik gegenüber Polen mobilisierte und zur
Eskalation polnisch-deutscher Spannungen in Polen instrumentalisierte. So wurde
Polen auch der Übungsplatz für das Zusammenwirken der deutschen Geheimdienste
in den weit gefassten Aktivitäten der Diversion. Auf die Tradition der
„Brandenburger“, die von der Abwehr als Bau-Lehr-Kompanie z.b.V.
800 für die Spionage im Rücken des Feindes aufgestellte Diversionstruppe,
beruft sich bis heute auch die Bundeswehr.
Die militärischen und
polizeilichen Diversionsaktivitäten gegen Polen jedoch entfalteten nicht die
beabsichtige Wirkung: nur die Ausführung von zehn der mehr als 180 geplanten
Anschläge lässt sich bestätigen und die polnische Presse entlarvte diese gleich
als Einzelaktionen örtlicher Nazis. Erfolgreich war der SD hingegen mit den zum
Kriegsbeginn fingierten Überfällen auf den Gleiwitzer
Rundfunksender, das Zollamt in Stodo³y und das Forsthaus in Byczyna,
doch ungeteilt überzeugen konnte die propagandistische Ausschlachtung des
Anschlags auf den Sender Gleiwitz weder die deutsche
noch die ausländische Öffentlichkeit. Die drei strategisch wichtigsten
militärischen Diversionsakte zur Sicherung des deutschen Vormarsches, die
Besetzung eines Bahntunnels unter dem Jabłonka-Paß
und der Weichselbrücken in Tczew und Grudziądz scheiterten. Die Diversanten im
oberschlesischen Industrierevier wiederum hatten leichtes Spiel, weil die
Übernahme intakter Industrieanlagen zugleich das Ergebnis des Verhaltens der
polnischen Armee war, die sich in der Illusion einer baldigen Rückkehr aufgrund
des erwarteten Eingreifens der Westmächte zurückzog. Nur in der Wojewodschaft Poznań
verzeichnete die deutsche Abwehr Erfolge; wo immer deutsche Diversanten aber in
Kämpfe mit Einheiten der polnischen Armee gerieten, scheiterten die deutschen
Sicherungsversuche.
Erfolgreicher waren Sabotageakte
der von der deutschen Abwehr angeworbenen Diversanten gegen die Mobilmachung
und im Rücken der polnischen Armee, Anschläge auf Verkehrs- und
Telefonverbindungen in den Wochen vor und nach Kriegsbeginn, darunter als
spektakulärste die Sprengungen der Bahngleise unweit von Wisznica
und Przeworsk am 18. und der Bombenanschlag auf den
Bahnhof von Tarnów am 28. August 1939. Chinciñskis resümiert, dass erstens die Beteiligung von
weniger als einem Prozent der in Polen lebenden Deutschen an der
Diversantentätigkeit die nationale Minderheit als Ganzes Repressalien
ausgeliefert hat und zweitens manche Polen im Kampf gegen Diversanten zur
Selbstjustiz griffen, die auch zufällige, unschuldige Opfer traf.
Die britische Garantie gegenüber Polen
Prof. Dr. Siegfried Bünger befasste sich mit der britischen Haltung zu Polen
angesichts der fortgesetzten deutschen Expansionspolitik und entfachte die
Debatte um die Kritik der britischen Appeasement-Politik.
Die britische Außenpolitik gegen den deutschen Aggressor folgte dem Prinzip,
„Gegensätze zu den aggressiven Staaten auf Kosten anderer Länder zu bereinigen,
einen Interessenausgleich mit ihnen zu Lasten Dritter herbeizuführen“.
Ernüchterndes Fazit seiner Analyse der britischen Außenpolitik, die seit
Abschluss des Viererpakts mit Italien und Deutschland am 15. Juli 1933 den
Verdacht nährte, den Frieden im Zweifel auf Kosten kleiner Staaten zu erkaufen:
die britische Regierung hielt - sogar nach dem deutschen Bruch des Münchener
Abkommens im März 1939 - an der in den zwanziger Jahren festgeschriebenen
amtlichen Linie fest, Polen nicht mehr zu garantieren als die staatliche
Unabhängigkeit, nicht aber dessen territoriale Integrität in seinen existierenden
Grenzen. Folglich wollte Großbritannien zu Beginn eines Kriegs nur an die Seite
Frankreichs treten, nicht aber für Polens Existenz militärisch gegen Deutschland
eingreifen. Vor diesem Hintergrund ist die Kriegserklärung Großbritanniens
gegen Deutschland vom 3. September 1939 als ein innenpolitisches Zugeständnis
vor allem der öffentlichen und parlamentarischen Regierungskritik zu verdanken.
Offiziell preisgegeben hatte die britische Politik Polen, als sie am 12.
September 1939 die zwei Monate zuvor vom Militär formulierte Strategie übernahm
und dem US-Präsidenten als Leitlinie des britischen Handelns übermittelte: „Das
Schicksal Polens wird letzlich vom Ausgang des
Krieges abhängen; d.h. von unserer Fähigkeit, Deutschland zu besiegen, und
nicht von unserer Fähigkeit, Polen von Anfang an von Druck zu entlasten.“
Sicherung kriegs- und indistriewichtiger
Rohstoffe
Ein Schlaglicht auf den Stand der
Kriegsvorbereitungen im Jahr 1939 warf Prof. Dr. Dietrich Eichholtz,
Autor der 1969 bis 1996 erschienenen dreibändigen Geschichte der deutschen
Kriegswirtschaft 1939-1945 und mehrerer seit 2005 vom Leipziger
Universitätsverlag publizierten Studien zum deutschen Erdölimperialismus. Nach
abermals 25 Jahren und mit denselben Zielen richtete der deutsche Imperialismus
seine Aggression gegen die Mächte, die er bereits im Ersten Weltkrieg erfolglos
herausgefordert hatte. Die expansionistische Zielsetzung sollte Europa „von
Bordeaux bis Odessa“ (Carl Duisberg, 1931) den deutschen Interessen unterwerfen.
Die bekannte Hoßbach-Niederschrift vom 5. November
1937 beweist, dass die Naziclique bereit war, um der Expansion willen gegen
Österreich, die Tschechoslowakei und eventuell Polen den Krieg zu riskieren.
Nachdem sich alle territorialen Eingliederungen bis März 1939 ohne Krieg hatten
durchsetzen lassen, unterschrieb Hitler am 3. und 11. April 1939 die
militärische Weisung für den „Fall Weiß“, den Angriffskrieg gegen Polen. Monate
vor dem 23. August 1939 hielten die zum Krieg treibenden Kräfte im Militär und
in der Industrie ihre Vorstellungen fest. In einer lange nicht bekannten Rede
des Generalstabschefs des Heeres begrüßte Halder den intern angekündigten
Angriffskrieg: Polen sei jetzt zu „zermalmen“, müsse „nicht nur geschlagen,
sondern liquidiert“ werden; „Wir müssen in spätestens drei Wochen mit Polen
fertig sein, ja möglichst schon in 14 Tagen. Dann wird es von den Russen
abhängen, ob die Ostfront zum europäischen Schicksal wird oder nicht. In jedem
Fall wird dann eine siegreiche Armee, erfüllt von dem Geist gewonnener
Riesenschlachten, bereit stehen, um entweder dem Bolschewismus entgegenzutreten
oder - nach dem Westen geworfen zu werden.“
Eine gleichfalls erst vor kurzem
aufgefundene Denkschrift des Wehrwirtschaftsstabs des OKW unter Thomas
erörterte Ende April 1939 die „Mineralölversorgung Deutschlands im Kriege“ -
gegen die westeuropäischen Mächte und die Sowjetunion. Als Aufgaben der
Wehrmacht benannte diese: „1. Beherrschung der rumänischen Ölfelder und somit
des gesamten Donauraums. 2. Durchführung der Besetzung unter Vorbedacht der
Erhaltung und Betriebsfähigkeit der rumänischen Erdölindustrie. 3. Schutz der
Transportwege, Erdölanlagen, Raffinerien und Tankläger.“
Dann sollte der Raubzug fortgesetzt werden: estnischer Ölschiefer, das Erdöl im
galizischen Polen, und schließlich „das größte und lohnendste
Ziel: die Beherrschung des gewaltigsten Erdölgebietes Europas, Kaukasien“.
Die wichtigsten wirtschaftlichen
Planzahlen für die deutsche Kriegführung aber erstellten ab Frühjahr 1939 die
in die Vierjahresplanbehörde Görings von der Industrie entsandten Experten. Die
im Juli/August 1939 abgeschlossene Untersuchung des Reichsamts für
Wirtschaftsausbau unter Krauch von der IG-Farbenindustrie listete auf 25 Seiten
mit 60seitigem Anhang und 45 Karten unter dem Titel „Möglichkeiten einer
Großraumwehrwirtschaft unter deutscher Führung“ den deutschen Bedarf an
Rohstoffen auf, den 20 kontinentaleuropäische Staaten decken sollten, damit
Deutschland für den - nach damaliger Planung - bis 1942 zu entfesselnden Krieg
gegen die Westmächte trotz weltweiter Blockade gerüstet sei. Gegen aufkommendes
Misstrauen der europäischen Nachbarn, für deutsche Interessen ausgenutzt, vom
Weltmarkt abgeschnitten und in einen Weltkrieg hineingezogen zu werden, bot
sich die deutsche Wirtschaft „als Stoßtrupp“ an: „Soweit irgend möglich,
friedliche Durchdringung und Verflechtung der Volkswirtschaften des
Großwirtschaftsraumes im Sinne des höchsten Nutzeffekts für den Lebensstandard
im Frieden und für die Blockadesicherheit im Krieg.“. Nach Plan waren der
deutsche Friedens- und Kriegsbedarf 1942 ohnehin nahezu identisch und dessen
„restlose Sicherung nur mit den Rohstoffen Rußlands
möglich“. Bei einem Scheitern dieserart Bündnispolitik empfahl Krauch,
Lieferausfälle durch die chemische Kriegführung auszugleichen - „als das
billigste und unbegrenzt zur Verfügung stehende Kriegsmittel“.
Die militärische Aggression gegen
Polen und die Sowjetunion setzten die Autoren der Denkschrift nicht nur wegen
der Erdöllagerstätten in Polen, der Ukraine und auf der Krim voraus.
Vollständig eingeplant war die Steinkohleerzeugung
Polens und die von Eisen und Stahl war zu ergänzen im „Rückgriff auf Polnisch-Oberschlesien, Olsa-Schlesien
und die Ukraine. Die dortigen Verhüttungsstätten müssen schon jetzt
hinsichtlich ihrer technischen und personellen Einrichtungen erkundet werden.
Den ersten einmarschierenden Truppen müssen Ingenieure und Techniker zur
Verfügung stehen, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut sind, um
frühzeitig genug gegen Zerstörungsmaßnahmen bei Gruben und Hütten eingreifen zu
können.“ Ohne Zweifel: Militär und Industrie in Deutschland setzten ab April
1939 alles auf eine Karte, verplanten bereits die Beute aus dem bevorstehenden
Krieg gegen Polen und provozierten willentlich den Weltkrieg.
Kriegszustimmung bei der deutschen Bevölkerung?
Der Frage, auf welche Stimmungen
und Erwartungen der deutschen Bevölkerung sich die Machthaber bei Kriegsbeginn
einstellten, ging Prof. Dr. Kurt Pätzold nach. In
scharfem Kontrast zu der populären Kriegsbegeisterung im August 1914 war 25
Jahre später die in der Bevölkerung
verbreitete Stimmung Niedergeschlagenheit und Entsetzen. Die Bevölkerung lehnte
den Krieg, an den die über 35jährigen eine eigene Erinnerung hatten, ab - und
sie hatten dessen Vorboten ab 1933 verdrängt. Die antipolnische Propaganda im
Sommer 1939 erzielte wenig Wirkung. Dass die Machthaber den Krieg mit
Wehrübungen, Hetzkampagnen und Rationierungen ankündigten, alarmierte die
Deutschen nicht, sondern es paralysierte sie. Zu groß erschien nach
sechseinhalb Jahren Naziherrschaft mit kontrolliert eskaliertem Terror der
Schritt, die Kriegsgegnerschaft zu organisieren und ihr politische Kraft zu
verleihen.
Die Naziführung griff auf die
1914 bewährte Demagogie vom „uns aufgezwungenen Krieg“ zurück, es werde „zurückgeschossen“. Nur Englands angeblich von Juden
gelenkte Regierung habe Interesse am Krieg, Hitler hingegen habe den Krieg
nicht gewollt. Die Wehrmacht registrierte amtlich den „Beginn von Kampfhandlungen“.
Das Kalkül, so Pätzold: „Einmal im Krieg, würden die
Deutschen ihn vor allem nicht verlieren wollen. Bei diesem Wunsch ließen sich
die Massen packen und von der Führung gleichsam sicher an den Haken nehmen.“ Das
Wort „Krieg“ benutzte die Propaganda nur mit Blick auf den Gegner, zur
Charakterisierung eigener Politik blieb das Wort, auf das nur die Bürokratie
zur Kennzeichnung ihrer Verordnungen nicht verzichten konnte, zunächst ein Tabu
- bis zur Besetzung Polens, nach der die Zeitungen mit der Lüge titelten
„Kriegsziel erreicht“. Glimpflich davongekommen fürchteten die Deutschen danach
weniger den Krieg, sondern mit jedem ab April 1940 noch folgenden Raubzug und
den an anderen Völkern begangenen Kriegsverbrechen stieg ihre Furcht vor der
Kriegsniederlage, gegen die sie sich noch fünf Jahre bereitwillig mobilisieren
ließen. Nur das Programm der massenhaften Rekrutierung deutscher Frauen in die
Kriegswirtschaft scheiterte im Jahr 1942/43. Ohnehin war Hitler „der entschiedene
Verfechter des Prinzips, die Kriegslasten auf die anderen abzuwälzen, sie
schuften, bluten und sterben zu lassen“, während in Deutschland der
gelegentliche Eindruck von Normalität aufrecht zu erhalten war.
„Jede Generation erinnert sich anders, anders bildet sie ihre
Geschichtsbilder“.
hatte Iwona
Kos³owska zu Beginn des Symposiums ausdrücklich gefordert und das Ziel, das
Wissen über den Zweiten Weltkrieg zu aktualisieren, begrüßt. Die angesprochenen
Themen griffen ausführlich Fragen auf, die in der aktuellen Diskussion - heute
im Jahre 2009 - gerne unter den Tisch fallen. In wie weit diese Fragen auf dem Syposium richtig beantwortet wurden, kann und soll in POLEN
und wir nicht bewertet werden.
Die Autorin, Dr. Susanne Willems, lebt in Berlin als freie Historikerin: geschichtsbżro@t-online.de, Tel.& fax +49 (030) 655 7283, www.susannewillems.de