Die Karte der Geschichte - Grundlage für
gegenseitige Vorwürfe oder für
Versöhnung und Partnerschaft?
Wladimir Putin
Wenige Tage vor den Gedenkveranstaltungen zum Beginn des II.
Weltkrieges veröffentlichte die Gazeta Wyborcza einen für diese Zeitung geschriebenen Artikel von
Wladimir Putin zum polnisch-russischen Verhältnis.
Der Artikel sprach schwierige historische Fragen, die das beiderseitige
Verhältnis betreffen aber zwischen ihnen kontrovers diskutiert und bewertet
werden, offensiv an. In Polen wurde er
mit Interesse aufgenommen und bis in konservative Kreise hinein als ein
Fortschritt bezeichnet. Auch für die deutsche Diskussion um den Beginn und die
Ursachen des II. Weltkrieges ist er von großem Interesse, weshalb POLEN und wir ihn mit nur geringen Kürzungen
in eigener Übersetzung als Dokumentation veröffentlicht.
Schon sieben Jahrzehnte trennen
uns von dem tragischen, schwarzen Datum in der Geschichte der Zivilisation -
dem 1. September 1939, dem ersten Tag des zerstörerischsten und blutigsten
Krieges, den Europa und die ganze Menschheit erleben mussten. (...)
Die gemeinsame moralische Pflicht
der heute Lebenden ist es, sich vor den Gefallenen zu verneigen, vor dem Mut
und der Standhaftigkeit der Soldaten verschiedener Länder, die den Nazismus
bekämpft und vernichtet haben.
Das 20. Jahrhundert hinterließ
tiefe, nicht verheilende Wunden - Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die
nazistische Okkupation des überwiegenden Teils Europas und die Tragödie des
Holocaust, die Spaltung des Kontinents aufgrund ideologischer Grundsätze. Aber
im Gedächtnis der Europäer blieben auch der siegreiche Mai 1945, die
Schlussakte von Helsinki, der Fall der Berliner Mauer, gewaltige demokratische
Veränderungen in der Sowjetunion und in Osteuropa Ende der 1980er Anfang der 1990er Jahre.
Das alles ist unsere gemeinsame
Geschichte, von der wir uns nicht abtrennen können. Und es gibt keinen Richter,
der ein absolut unvoreingenommenes Urteil über die Vergangenheit sprechen
könnte, wie es auch kein Land gibt, das keine tragischen Seiten, jähe Umbrüche
und staatliche Entscheidungen kennen würde, die weit von moralischen Prinzipien
entfernt sind. Wir sind verpflichtet, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wenn
wir eine friedliche und glückliche Zukunft haben wollen. Es ist jedoch äußerst
schädlich und unverantwortlich, mit dem Andenken zu spekulieren, die Geschichte
zu präparieren und in ihr Anlässe für gegenseitige Ansprüche und Kränkungen zu
suchen.
Halbwahrheiten sind immer
heimtückisch. Vergangene Tragödien, die nicht vollständig bewusst gemacht
wurden oder in einer verlogenen und heuchlerischen Art und Weise, führen
unvermeidlich zu neuen politisch-historischen Phobien, durch die sich Staaten
und Völker gegenseitig zerstören. Sie wirken auf das gesellschaftliche
Bewusstsein, deformieren es, um so unredlichen Politikern nützlich zu sein.
Die Leinwand der Geschichte ist
keine billige Reproduktion, die man stümperhaft retuschieren und von der man je
nach Wunsch des Auftraggebers wegnehmen kann, was nicht gefällt, oder wo man
den Hintergrund ändert, indem man helle oder dunkle Farben hinzufügt. Leider
haben wires heutzutage nicht selten mit solchen
Verdrehungen der Vergangenheit zu tun. Wir sehen Versuche, die Geschichte nach
den Bedürfnissen der jeweils aktuellen politischen Konjunktur neu zu schreiben.
In einigen Ländern ist man noch weiter gegangen: Man heroisiert die Helfer der
Nazis, stellt Opfer und Henker, Befreier und Okkupanten in eine Reihe. (...)
Man reißt künstlich Episoden aus
dem historischen Hintergrund, dem politischen und wirtschaftlichen oder
militärstrategischen Zusammenhang heraus. Die Vorkriegssituation wird
fragmentarisch betrachtet und ohne einen Ursache-Wirkung Verbindung.
Symptomatisch ist, dass sich mit der Entstellung der Geschichte häufig jene
befassen, die doppelte Standards auch in der Gegenwartspolitik anwenden.
Unwillkürlich stellt sich die
Frage, wie weit Leute, die solche Mythen schaffen, von den Autoren des
Stalinschen "Kurzen Lehrgangs der Geschichte" entfernt sind, in dem
Namen oder Ereignisse die dem "Führer aller Völker" nicht genehm waren,
einfach weggewischt und durch schablonenhafte, völlig ideologisierte Versionen
des Geschehenen ersetzt wurden.
So fordert man uns heute auf,
ohne alle Bedenken anzuerkennen, dass der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt
vom 23. August 1939 der einzige „Auslöser“ des Zweiten Weltkriegs gewesen sei.
Die Verfechter dieser Position stellen sich allerdings elementare Fragen nicht:
Hinterließ der Vertrag von Versailles, der einen Schlussstrich unter den Ersten
Weltkrieg zog, nicht eine Vielzahl von „Zeitbomben“? Die wichtigste war, dass
nicht nur die Niederlage, sondern auch die Demütigung Deutschlands
festgeschrieben wurde. Und ist es nicht so, dass Grenzen in Europa nicht
bereits lange vor dem 1. September 1939 niedergerissen wurden? Gab es nicht den
Anschluss Österreichs, gab es nicht die Zerstückelung der Tschechoslowakei, als
sich nicht nur Deutschland, sondern auch Ungarn und Polen real an der
territorialen Aufteilung Europas beteiligten? Am gleichen Tag, als das Münchner
Abkommen geschlossen wurde, stellte Polen der Tschechoslowakei ein eigenes
Ultimatum und zeitgleich mit den deutschen Truppen schickte es seine Armee in
die Gebiete von Cieszyn und Frystak.
Kann man die Augen vor den
Versuchen der westlichen Demokratien verschließen, sich hinter den Kulissen bei
Hitler „freizukaufen“ und seine Aggression nach Osten umzulenken? Davor, wie
planmäßig und mit allgemeiner Duldung die Sicherheitsgarantien und die in
Europa existierenden Systeme der Rüstungsbegrenzung demontiert wurden?
Schließlich: Wie war das militärpolitische
Echo der Vereinbarung vom 29. September 1938 in München? Hatte Hitler nicht
schon damals richtig verstanden, dass man ihm „alles erlauben“ würde? Dass
Frankreich und England „keinen Finger rühren“ würden, um ihre Verbündeten zu
verteidigen? Der „komische Krieg“ an der Westfront, das tragische Schicksal des
ohne Hilfe bleibenden Polen zeigten leider, dass seine Hoffnungen ihn nicht
trogen.
Ohne jeden Zweifel kann man den
im August 1939 abgeschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt mit vollem Recht verurteilen.
Aber ein Jahr zuvor hatten Frankreich und England in München das bekannte
Abkommen mit Hitler, das alle Hoffnungen auf die Bildung einer Einheitsfront im
Kampf gegen den Faschismus zerstörte.
Heute verstehen wir, dass jede
Form von Abkommen mit dem nazistischen Regime aus moralischer Sicht unannehmbar
war und keinerlei Aussichten auf praktische Realisierung hatte. Aber im Kontext
der historischen Ereignisse jener Zeit sah sich die Sowjetunion nicht nur
völlig alleine mit Deutschland konfrontiert, weil die westlichen Staaten das
vorgeschlagene System der kollektiven Sicherheit ablehnten. Sondern sie stand
auch vor der Bedrohung eines Zweifrontenkrieges, weil gerade im August 1939 das
Feuer des Konflikts mit den Japanern am Fluss Chalchyn
Gol mit voller Kraft entbrannte.
Durchaus begründet befand es die
sowjetische Diplomatie jener Zeit zumindest für unklug, das Angebot
Deutschlands über einen Nichtangriffspakt in einer Lage abzulehnen, da mögliche
Verbündete der UdSSR im Westen auf analoge Vereinbarungen mit dem Deutschen
Reich bereits eingegangen waren und nicht mit der Sowjetunion zusammenarbeiten
wollten, so dass sie alleine der mächtigen Militärmaschine des Nazismus
gegenüber stand.
Ich denke, dass gerade das
Münchener Abkommen zur Vereinzelung derer führte, die die natürlichen
Verbündeten im Kampf gegen den Faschismus waren sowie Misstrauen und Argwohn
zwischen ihnen sähte. Im Rückblick auf die
Vergangenheit sollten wir alle - im Westen wie im Osten Europas - unbedingt
daran denken, zu welchen Tragödien Kleinmut, Kabinettspolitik hinter den
Kulissen und das Streben führen, die eigene Sicherheit und eigene nationale
Interessen auf Kosten anderer zu sichern. Man muss daran erinnern, dass es
keine vernünftige und verantwortungsvolle Politik außerhalb moralischer und
rechtlicher Rahmen geben kann.
Meiner Meinung nach ist der
ethische Gesichtspunkt der Politik besonders wichtig. In diesem Zusammenhang
erinnere ich daran, dass der unmoralische Charakter des
Molotow-Ribbentrop-Paktes in unserem Land eine eindeutige parlamentarische
Wertung erfahren hat. [Am 24. Dezember 1989 verabschiedete der Volkskongress
der UdSSR eine Erklärung, die den Pakt von 1939 verurteilte.] Das kann man
bisher von einer Reihe anderer Staaten nicht sagen, obwohl auch sie in den 30er
Jahren strittige Entscheidungen getroffen hatten.
Und noch eine Lehre der
Geschichte: Alle Erfahrungen der Zeit vom Versailler Frieden bis zum Beginn des
Zweiten Weltkrieges zeigen überzeugend, dass es unmöglich ist, ein effektives
System kollektiver Sicherheit ohne Beteiligung aller Länder des Kontinents zu
schaffen - eingeschlossen Russland.
Ich bin davon überzeugt, dass
Europa zu einer objektiven Beurteilung der tragischen gemeinsamen Vergangenheit
im Stande ist und sich vor der Wiederholung früherer Fehler schützen kann.
(...)
Für die Völker der Sowjetunion,
Polens und anderer Staaten war es eine Krieg ums
Leben, um das Recht auf ihre eigene Kultur, ihre Sprache, ihre Zukunft. Wir
erinnern uns aller, die an diesem Kampf gemeinsam mit dem sowjetischen Volk
teilnahmen. Der Polen, die sich als erste dem Aggressor in den Weg stellten, Warschau
und die Westerplatte im September 1939 mutig verteidigten und später in den
Reihen der Anders-Armee und der Polnischen Streitkräfte, der Armia Krajowa [Landes-Armee] und
der Armia Ludowa
[Volks-Armee] kämpften. Der Amerikaner, Engländer, Franzosen, Kanadier und
anderer Kämpfer der zweiten Front, die Westeuropa befreiten. Der Deutschen, die
ohne Furcht vor Repressionen dem Hitlerregime Widerstand leisteten. (...)
Es ist offensichtlich, dass diese
Logok [der Zusammenarbeit] sich in keinster Weise mit einem Rückgriff auf das konfrontative
Erbe des kalten Krieges in Übereinstimmung bringen lässt, einem engstirnigen,
blockierenden Hinwenden zu den Schlüsselproblemen der Gegenwart. Eine wirklich
demokratische und multipolare Stärkung humanistischer Grundlagen für die
internationalen Beziehungen fordert die Zurückweisung von Fremdenfeindlichkeit
und der Versuche, sich über das Recht zu stellen.
Die historische Aussöhnung
zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Krieg ebnete den Weg für die
Entstehung der Europäischen Union. In der folgenden Zeit erlaubten es die
Klugheit und Großmütigkeit des russischen und deutschen Volkes sowie die
Umsicht der staatlichen Verantwortlichen beider Länder den entscheidenden
Schritt zum Aufbau eines Groß-Europas. Die Partnerschaft zwischen Russland und
Deutschland wurde zum Beispiel für das Aufeinanderzuugehen
und Schauen in die Zukunft bei sorgsamen Bewahrung der
Erinnerung an die Vergangenheit. Heute spielt die russisch-deutsche
Zusammenarbeit eine sehr bedeutende, positive Rolle in der internationalen und
europäischen Politik.
Ich bin sicher, dass die
russisch-polnischen Beziehungen früher oder später dieses hohe aus wirklicher
Partnerschaft erwachsene Niveau erreichen. Des leigt
im Interesse unserer Völker und des gesamten europäischen Kontinents.
Ich bin unendlich dankbar dafür,
dass in Polen, wo in polnischer Erde über 600 Tausend Soldaten der Roten Armee
ruhen, die ihr Leben für dessen Befreiung gaben, mit Sorgfalt und angemessener
Wertschätzung unsere Militärfriedhöfe umsorgt werden. Ich bitte Sie mir zu
glauben, dass diese Worte keine höfliche Formel sind, sondern ehrlich gemeint
sind aus tiefstem Herzen herrühren.
Das Volk Russlands, dessen
Schicksal ein totalitäres Regime ins Unglück gezogen hat, versteht gut die
Gefühle der Polen im Zusammenhang mit Katyn, wo Tausende
polnischer Soldaten begraben liegen. Wir sind verpflichtet, das Andenken an die
Opfer dieses Verbrechens gemeinsam zu schützen. Die Gedenkstätten von Katyn und Mednoje wie auch die
tragischen Schicksale der russischen Soldaten, die während des Krieges 1920 in
polnische Gefangenschaft gerieten, müssen zu Symbolen gemeinsamer Trauer und
gegenseitigen Vergebens werden.
Die Schatten der Vergangenheit
dürfen nicht mehr länger den heutigen und erst recht den morgigen Tag der
Zusammenarbeit zwischen Polen und Russland verdunkeln. Unsere Pflicht gegenüber
den Gefallenen, gegenüber der Geschichte überhaupt besteht darin, alles für die
Befreiung der russisch-polnischen Beziehungen von der übergroßen Bürde des
Misstrauens und der Voreingenommenheiten zu tun, die wir als Erbe übernommen
haben. (...)
Das Jahr 2008 erwies sich als ein
gelungenes für unsere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, der Handelsaustausch
wuchs um mehr als das 1,5-Fache. (...) Vor Russland und Polen eröffnen sich vielversprechende Perspektiven für partnerschaftliche
Arbeit und Beziehungen, wie sie zweier großer europäischer Nationen würdig
sind...
Zum Schluss möchte ich allen
Polen - vor allem aber allen Kombatanten des II.
Weltkrieges - die herrlichsten Grüße aussprechen und wünsche ihnen Frieden,
Glück und Wohlergehen.
(Karty
historii - powód do wzajemnych pretensji czy podstaw pojednania i partnerstwa? Von der
russischen Botschaft in Warschau herausgegebenen polnischsprachigen Version
aus: Gazeta Wyborcza
31.8.2009, http://wyborcza.pl/2029020,75477,6983945.html; Übersetzung aus dem
Polnischen: Wulf Schade, Bochum; Kürzungen von der Redaktion, in [ ] vom Übersetzer)