Tragik der
politischen Ungeduld.
Zum 65.
Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands
Von
Vor fünf Jahren, genau am 1. August 2004, sagte Gerhard Schröder, der
damalige Bundeskanzler, in Warschau ohne Umschweife, dieser Tag sei ein Tag der
deutschen Schande. Deutsche Bundeskanzler sagen so etwas höchst selten. Der
junge Gerhard Zwerenz hatte es bereits damals, im August 1944 gewusst, denn als
er von der italienischen Front nach Warschau umgesetzt wurde, um den Aufstand
niederzuschlagen, desertierte er. Er flüchtet vom rechten Weichselufer aus in
Richtung Osten, von wo die Rote Armee unaufhaltsam auf die östliche Stadtgrenze
der polnischen Hauptstadt vorrückte. Von den komplizierten politischen
Umständen dieses Aufstands konnte der junge deutsche Soldat nichts wissen. Er
hatte auch keine Vorstellung davon, dass die Stadt 14 Monate zuvor im Ghetto
schon einmal von einem Inferno heimgesucht wurde. Aber er hatte ein Gefühl für
das sich anbahnende Verbrechen, welches einen deutschen Bundeskanzler 60 Jahre
später veranlasste, von einer Schandtat zu sprechen.
In der Wahrnehmung der meisten
Polen ist der Warschauer Aufstand eines der zentralen Ereignisse des Zweiten
Weltkriegs. Wer an einem 1. August die Gelegenheit hat, in der Stadt zu sein,
wird auf Schritt und Tritt die große emotionale Verbundenheit spüren, die den
Aufständischen entgegengebracht wird. Die hohe Ehrerweisung gilt den
Landsleuten, die ihren waghalsigen Kampf zumeist mit dem Leben bezahlen
mussten. In den vielen Jahrzehnten, die seit dem Aufstand ins Land gegangen
sind, stiegen sie im öffentlichen Bild in den Rang untadeliger Nationalhelden
auf, die in der besten Tradition polnischer Unabhängigkeitskämpfe des 18. und
19. Jahrhundert stehen. Staatspräsident Lech Kaczyński knüpft an dieses
Bild an, wenn er meint, der Aufstand sei Polens größter Beitrag im Zweiten
Weltkrieg gewesen. Die Aufständischen, so sein knappes Fazit, hätten an
entscheidender Front für ein freies Polen gekämpft. Dass aber zu keiner Zeit
eine realistische Aussicht auf einen militärischen oder politischen Erfolg
bestanden hatte, wird dabei nicht erwähnt. Es zählt vor allem das moralische
Beispiel, der aufopfernde Heldenmut der vielen jungen Aufständischen, die sich
dem brutalsten Okkupanten, den die Stadt jemals in ihrer Geschichte gesehen
hat, mit tausendfach unterlegenen militärischen Mitteln offen entgegenstellten.
Ihr legitimes Ziel war die Befreiung der Stadt von der deutschen Besetzung.
Die USA und Großbritannien, die
nach der Konferenz in Teheran mit der UdSSR im Bunde bereits eine europäische
Nachkriegsordnung zu zimmern begannen, ließen Polens Exilregierung in London
vorher über diplomatische Kanäle wissen, dass sie einem Aufstand dieser
Größenordnung wegen der ins Auge fallenden militärischen Unterlegenheit keinen
politischen Nutzen abringen könnten. Die Westalliierten hegten im Sommer 1944
die stille Hoffnung, dass Warschau aus- und stillhalten würde. Ein in vieler
Hinsicht aussichtsloser Waffengang gegen die Deutschen lag nicht in ihrem
Interesse. Sie wollten das widerständige Warschau, den treuen Verbündeten, der
seine politischen Sympathien fest auf die Westalliierten ausrichtete, nicht in
letzter Stunde geopfert sehen.
In Warschau wurde in den
Julitagen des Jahres 1944 jedoch anders entschieden. Die Führungsspitze der
Armia Krajowa (AK), die im Untergrund über ein dichtes und verzweigtes Netzwerk
des Widerstands verfügte, empfahl der Londoner Exilregierung, den Aufstand in
der besetzten Hauptstadt zu wagen, auch wenn um das hohe Risiko gewusst wurde,
welches sich aus dem eklatanten Missverhältnis zwischen dem nominellen
Mannschaftsbestand - die AK verfügte im Aufstandsgebiet über mehrere
zehntausend Soldaten -, und der höchst unzureichenden Bewaffnung ergab. Die
Führung des Aufstands rechnete vor allem mit dem menschlichen Faktor, mit dem
persönlichen Mut der Menschen, die seit Jahren auf den Moment der Abrechnung
mit den Okkupanten warteten. Diese vage Hoffnung gab den Ausschlag für eine
Entscheidung, die zu den tragischen in der Geschichte des Landes gezählt werden
muss.
Auf polnischer Seite wurden nach
dem Ende der Kämpfe im Oktober 1944 über 200 000 Todesopfer gezählt. Wird die
hohe Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung berücksichtigt - alleine über
180 000, kann gut ermessen werden, mit welchen brutalen Mitteln die
Niederwerfung des Aufstands durch die deutsche Seite erfolgte. Im Ergebnis
ihres Sieges zerstörten die Okkupanten ab Oktober 1944 Warschaus Innenstadt,
versuchten, Polens Hauptstadt endgültig von der Landkarte zu tilgen. Die
überlebenden Warschauer, etwa eine halbe Million Menschen, mussten die Stadt
verlassen und wurden an verschiedenen Orten interniert. Als die Rote Armee im
Januar 1945 die deutschen Soldaten aus Warschau vertrieb, fand sie auf der
linken Weichselseite eine menschenleere Stadt und ein schier endloses
Trümmerfeld vor. In Kapitulationsverhandlungen gelang es der AK-Führung, für
die am Leben gebliebenen Aufständischen den Status von Soldaten einer regulären
Armee auszuhandeln, so dass sie in die Kriegsgefangenschaft kamen. An die
Abmachung, die am Leben gebliebenen Zivilisten in der Stadt zu belassen,
hielten die Deutschen sich nicht.
Wenn Historiker heute auf dieses
Ereignis zurückschauen, kommen sie nicht umhin, die Tatsache festzuhalten, dass
der Warschauer Aufstand den Krieg in Europa um keinen einzigen Tag verkürzt,
der deutschen Seite vergleichsweise nur geringfügigen materiellen und
zahlenmäßigen Schaden zugefügt hat. Es trat im Ergebnis das ein, was die
westlichen Alliierten insgeheim befürchteten. Die Niederlage des Aufstands
besiegelte das faktische Ende der AK als einer wichtigen politischen Kraft, das
Ende einer Untergrundstruktur, die im besetzten Europa ihres gleichen zu suchen
hatte. Sie besiegelte das Ende aller Träume des Londoner Lagers, nach dem Krieg
in territorialer, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht an das
Vorkriegspolen anknüpfen zu können. Der heimliche Sieger hieß Stalin, der von
nun an kaum noch übertriebene Rücksicht auf das bürgerliche, das westliche
Polen zu nehmen brauchte. Für ihn zählten in Polen von nun an immer mehr die
Kommunisten, die in den dreißiger Jahren seinem die Kommunistische Partei
Polens eiskalt vernichtenden Terror entkommen waren und nun zu den Gründungsvätern
der Volksrepublik Polen werden mussten und schließlich wurden.
Oberflächlich betrachtet könnte
der Opfergang der Warschauer als bloße Fortsetzung der Aufstandstradition des
19. Jahrhunderts verstanden werden, in deren Kontext Polens beste Köpfe ihrem
Volk in tiefer Verzweiflung über die empfindlichen und deprimierenden
Niederlagen die Rolle eines Christus der Nationen zuschrieben, welcher, sich
opfernd, die anderen rettete. Berühmt wurde die Losung „Für unsere und eure
Freiheit“. Näher betrachtet wird aber der Anfang des Zweiten Weltkriegs zum
besseren Schlüssel für das Verständnis.
Im September 1939 wurde das Land
nach Beschlusslage eines teuflischen Paktes zwischen Hitler und Stalin
aufgeteilt. Zu Grabe getragen wurde das Versailler System und Polen als dessen
Symbol. Die damaligen und späteren sowjetischen Erklärungen, wonach der Westen
sein eigenes Nachkriegssystem bereits mit dem Münchener Abkommen von 1938
abgerissen habe, im September 1939 im Osten Polens somit lediglich den eigenen
legitimen Schutzbedürfnisse nachgekommen worden sei, sprachen immer nur einen
Teil der historischen Wahrheit aus. Bei den Siegesfeiern an der zwischen den
beiden Diktatoren vereinbarten Demarkationslinie, die mitten durch das damalige
Polen verlief, wurde gemeinsam das Ende des Bastards von Versailles begrüßt.
Stalin übersah sträflich, dass es Hitler bereits um viel weiter gefasste Ziele
ging. Sein blindmachender Hass auf die westlichen Demokratien und auf das
bürgerliche Polen brach ihm und seinem Land fast das Genick, da er sich zum
Partner einen Bluthund auserkor, der es auf Europas Osten in ganz besonderer,
brutaler Weise abgesehen hatte.
Polen war im September 1939 im
Unterschied zu heute territorial eher ein Land Osteuropas. Die Landesgrenzen
verliefen im Schnitt 300 Kilometer weiter östlich. Nur wenige Polen begriffen
nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941, dass von nun
an im Kampf gegen Hitler eine neue Zeitrechnung begann. In den Augen vieler
überfiel einfach der eine Okkupant den anderen. Den meisten fiel es ganz
einfach schwer, in der Roten Armee nun eine Kraft zu sehen, die zu einem ganz
entscheidenden Element im Befreiungskampf Europas vom faschistischen Joch
aufsteigen wird. Einer der noch wenigen war der im US-amerikanischen Exil
weilende Wirtschaftswissenschaftler und Sozialist Oskar Lange, der als Mitglied
der PPS seinen in London weilenden Parteifreunden im Winter 1941/42 mitteilte,
dass die Hoffnungen auf eine Befreiung Polens von nun an im großen Maße an
einen Sieg der Sowjetunion im Krieg gegen Deutschland gebunden seien. Welche
komplizierten Konsequenzen für das Land damit eingeschlossen sein werden, war
ihm bewusst. Kein zweites Land auf Seiten der späteren Sieger erlebte im
Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg eine derartig einschneidende
Verschiebung des eigenen Territoriums, die bereits als solche für mehrere Millionen
Menschen eine totale und damit schmerzhafte Umstülpung aller bisherigen Lebensverhältnisse
bedeutete.
Das Londoner Lager der Polen,
welches an der Themse über die Exilregierung und an der Weichsel über einen
sehr gut organisierten, kampferfahrenen und verlässlichen Untergrund verfügte,
entschied anders, entschied gegen die sich nach den Teheran-Gesprächen
allmählich abzeichnende neue geopolitische Situation im östlichen Teil Europas.
Insofern war der Warschauer Aufstand, auch wenn er sich militärisch
ausschließlich gegen die deutsche Besatzung richtete, eine nicht zu übersehende
Aufwallung gegen die drohende Aufteilung Europas in unterschiedliche Einflusssphären,
die später nach Jalta konkrete Gestalt anzunehmen begann, ein letzter Aufschrei
jener Republik, die im September 1939 unterging und deren übriggebliebenen
Vertreter nun auf das Recht pochten, diese nach dem Krieg wiedererrichten zu
können. Das sich befreiende und befreite Europa begann seine
Nachkriegskonstruktion allerdings nicht mehr nach dem im Zweiten Weltkrieg
endgültig versunkenen Versailler System auszurichten, sondern einigte sich
entsprechend neuer Kräfteverhältnisse unter den Siegermächten auf andere
Koordinaten. Das Londoner Lager der Polen verlor in dieser Hinsicht im Sommer
und Herbst 1944 an der Weichsel den politischen und diplomatischen Anschluss.
Kritiker des Warschauer
Aufstands, wie es sie unter polnischen Historikern nicht wenige gibt, verweisen
immer wieder auf diese Aspekte. Eine wichtige gesellschaftliche und politische
Kraft des Landes stellte sich mit dem riskanten Unternehmen des Aufstands ins
Abseits, spielte danach, wenn es um die Geschicke des Landes ging, eine immer
geringer werdende Rolle. Im Laufe der kommenden Jahre wurden die Reste des
Londoner Lagers immer mehr an den Rand gedrückt, wichen der neuen
gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die sich im Namen Volksrepublik
Polen symbolisierte.
In geopolitischer Hinsicht war die Volksrepublik, deren offizielle Geburtsstunde später auf den 22. Juli 1944, also vor den Aufstand zurückdatiert wurde, ein Kind des in Jalta zwischen den drei entscheidenden Großmächten allgemein akzeptierten Nachkriegssystems, damit also der Gegenentwurf zum Vorkriegspolen. Auf die Welt kam dieses Kind aber bereits vorher, im Moment der Niederlage des Warschauer Aufstands, weshalb bis heute von entsprechender politischer Seite immer wieder versucht wird, die Volksrepublik vor allem als moralisch fragwürdigen Nutznießer der Niederlage der Aufständischen hinzustellen. Eingeschlossen darin ist die Behauptung, die Rote Armee, die Mitte August 1944 das rechte Weichselufer der polnischen Hauptstadt erreicht hatte, wäre in der Lage gewesen, den Aufständischen militärisch beizustehen und den Aufstand zu retten. Stattdessen habe sie tatenlos zugesehen und eine politische Situation geerntet, die den Nachkriegspläne Moskaus sehr entgegengekommen sei. In der Tat, der Ausgang des Aufstands war auch ein politischer Sieg Stalins. Vergessen wird dabei nur, dass die Entscheidung, auf eigene Faust gegen den zu diesem Zeitpunkt zwar angeschlagenen, militärisch aber immer noch mächtigen und kreuzgefährlichen Feind loszuschlagen, alleine in Warschau gefällt wurde. Niemand aus Moskau drängte dazu. Wie gefährlich der Gegner noch war, zeigte sich vom Januar bis Mai 1945, als die Rote Armee und die mit ihr verbündete Polnische Volksarmee auf dem Weg von der Weichsel bis an die Spree Hunderttausende Soldaten verlor.