Die Kreation
der glücklichen Versager
Wurstmenschen
zwischen Unsicherheit und Selbstverwirklichung
Von Sylka Scholz
Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, dem Abbau von
sicheren Arbeitsplätzen, der Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen
und dauerhafter Arbeitslosigkeit wird das Misslingen individueller Lebenspläne
zu einem Massenphänomen. Am unteren Ende wird die Gruppe der „Entbehrlichen“
immer größer, die dauerhaft aus dem Erwerbssystem ausgeschlossen und damit auch
kulturell, institutionell und sozial ausgegrenzt sind. Zeitgleich entsteht eine
neue Querkategorie sozialer Ungleichheit: die „Überflüssigen“ der gut
Qualifizierten, die zwar nur zeitweise von Arbeitslosigkeit betroffen sind,
aber mit dem neuen negativen Risikobewusstsein leben müssen, dass es auch
diejenigen treffen kann, deren Position bisher garantiert zu sein schien.
Angesichts dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse gibt es ein großes
öffentliches Interesse an neuen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern im Umgang mit
individuellem und kollektivem „Scheitern“.
Seit Ende der 1990er Jahre bilden
sich Gruppen, wie etwa die glücklichen Arbeitslosen um Guillaume Paoili, die mit dieser provokativen Bezeichnung das
negative Stigma von Arbeitslosigkeit positiv wenden wollen. Es gibt
Selbsthilfegruppen für Gescheiterte, eine Fülle von Internetplattformen, die
dafür werben, dass man „schöner“ oder
„besser“ scheitern kann (wie etwa die Agentur für gescheites Scheitern). In
Berlin startete zum Jahrtausendbeginn die Veranstaltungsreihe Die Show des
Scheiterns und der Der Club der polnischen Versager öffnete seine Tore.
Ich bezeichne diese neuen
öffentlichen Reden über „Scheitern“ als einen „Diskurs der Gescheiterten“. So
unterschiedlich die Projekte sind, gemeinsam ist ihnen, dass sie bisherige
Kriterien eines „gelungenen Lebens“, die sich immer weniger realisieren lassen,
in Frage stellen und nach alternativen Lebensentwürfen suchen. Betrachtet man
den Club der polnischen Versager als Teil dieses Diskurses, lässt sich daran
anschließend fragen: Wovon ist die Rede, wenn von „Scheitern“ gesprochen wird?
Wann gilt eine Person bzw. ein Leben als „gescheitert“? Welche alternativen
Sinngebungen von „Scheitern“ werden entworfen?
Der Club der polnischen Versager
Die vier Gründungsmitglieder des
Clubs der Polnischen Versager - Wojciech Stamm, Leszek Oswiecimski,
Piotr Mordel und Adam Gusowski - kamen Ende der 1980er Jahre als Flüchtlinge nach
Westberlin. Vor allem die Schwierigkeiten bei der Integration in den
Arbeitsmarkt waren für sie der Anlass, den Bund der Polnischen Versager zu
gründen. Die Migranten sahen sich mit einer Abwertung
ihrer bisherigen Qualifikationen und schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt
konfrontiert. Sie machten Erfahrungen von Ausgrenzung und des potenziell Überflüssigseins.
Ähnlich wie die Glücklichen
Arbeitslosen reagierten sie mit einer Selbststigmatisierung auf die Ausgrenzungserfahrungen. Mit der 1995 kreierten Bezeichnung
Bund der Polnischen Versager. Polenmarkt e.V. nimmt die Gruppe eine negative
Fremdzuschreibung auf und setzt sie als Selbstbeschreibung ein. Damit eröffnet
sich auch die Möglichkeit, deren Bedeutung zu verschieben: Indem die
Fremdbilder als Selbstbilder eingesetzt werden, werden sie ironisch gewendet.
Verstärkt wird dieses Spiel mit den Stereotypen noch durch das Anhängsel im Namen:
Polenmarkt e.V. Im West-Berlin der 1980er Jahre entstand auf dem Potsdamer
Platz und in der Kantstrasse der legendäre „Polenmarkt“, der von den Anwohnern
mit Argwohn betrachtet wurde. Negative Stereotypisierungen über die „polnische
Wirtschaft“ waren und sind in der Bevölkerung weit verbreitet.
Das Neue ist, dass sich diese
Gruppe in der Öffentlichkeit ausdrücklich auf ihre nationale Herkunft bezieht,
denn anders als andere Zuwanderungsgruppen bilden polnische Migranten
und Migrantinnen in Berlin keine sogenannten
ethnischen Kolonien, sie assimilieren sich im gesamten Stadtgebiet und
versuchen ihre nationale Herkunft in der Öffentlichkeit meist zu verbergen. Mit
der deutsch-polnischen Literaturzeitschrift Kolano,
deutschsprachigen Theaterproduktionen und Satireradiosendungen beim Sender Multikulti machte und macht die Gruppe das polnische Kunst-
und Kulturleben für eine größere Öffentlichkeit sichtbar. Eine ungeahnte Popularität
erreichten die Polnischen Versager mit der Eröffnung der Clubraume im
Spätsommer 2001. Seitdem präsentieren die Polnischen Versager wöchentlich polnische
Filme, veranstalten Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen (vgl.
http://www.polnischeversager.de).
Im Jahr 2002 erschien der Roman
Klub der Polnischen Wurstmenschen, geschrieben von Leszek Herman Oswiecimski, der später auch verfilmt und als Theaterstück
inszeniert wurde. Der Roman ist eine Mischung aus Märchen, Schelmenroman und Roadmovie: Anfang der 1990er Jahre sind die Deutschen ganz
verrückt nach polnischer Wurst. Polen erlebt sein Wirtschaftswunder, doch dann
wird die Einfuhr der polnischen Wurst von den Deutschen in den EU-Binnenmarkt
verboten. Freigesetzte Wissenschaftler erfinden deshalb Lebewesen aus
polnischer Wurstware, die über die Grenze geschmuggelt werden sollen, um
anschließend auf deutschen Fleischertheken zerlegt zu werden. Der erste Versuch
scheitert! Immerhin können der dicke, der große und der dünne Wurstmensch
fliehen. Die Drei geraten zwischen die Fronten des polnischen und des deutschen
Geheimdienstes. Auf vielen Umwegen finden sich die Wurstmenschen in Berlin
zusammen und gründen einen Klub.
Im Roman geht es also um die
künstlerische Auseinandersetzung mit der Migration, gleichzeitig wird jedoch
auch um das Verhältnis von Deutschen und Polen in der Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft reflektiert. Darüber hinaus erfolgt eine philosophische und historische
Auseinandersetzung mit dem Thema Versagen. Der Autor Leszek Oswiecimski
entwirft eine Genealogie von Versagertypen und differenziert einen spezifischen
polnischen Typus. Er macht sich in diesem Kontext auf die Suche nach einer
positiven Bedeutung von Scheitern. Ihm geht es nicht nur um eine Neudeutung von
Scheitern. Sein Ziel ist es, „dass die ganze Lächerlichkeit unseres krampfhaften
Festhaltens an der verlogenen Größe und am vermeintlichen Erfolg uns vor Augen
tritt“. (S. 110). Deshalb sollen die Polen sich persönlich zu ihrem „nationalen
Versagen“ bekennen und es ausdrücken.
Und so ist es auch die Aufgabe
der drei Wursthelden, auf ihrem Weg der Identitätsfindung „mehr
Selbstunsicherheit [zu] gewinnen“ (S.133). Zentral dafür ist die Literatur,
denn auf Grund eines „genetischen Defekts“ haben alle drei Wurstmenschen einen
„Drang zur Literatur“ (S. 85) und beginnen selbst Lyrik, Essays, Traktate zu
schreiben. Bedeutsam ist aber auch die Auseinandersetzung mit der Philosophie
der Existenzialisten. Insofern wird im Roman auch, wie Uwe Rada
dies formuliert, eine Art „literarische Gebrauchsphilosophie“ entworfen.
Am Ende des Romans sind sowohl
die deutschen als auch die polnischen Geheimdienstler besiegt, und es findet
sich eine Gruppe zusammen, die gemeinsam miteinander glücklich sein will, indem
sie „massenhaft Zwiespalt und Zweifel (...) und noch mehr Selbstunsicherheit
gewinnen (will)“ (S.156). Als Voraussetzung für dieses Glück gilt jedoch die
Absage an eine berufliche Karriere und das Streben nach beruflichem Erfolg. Die
Wurstmenschen selbst gehen in dieser Gruppe aus Polen und Deutschen nicht
gänzlich auf, sondern gründen eine neue „ethnische“ Zugehörigkeit, weil sie
mittlerweile „so viel Gefallen an ihrem wurstmenschlichen Anderssein fanden“.
Deshalb gründen sie einen Klub in einer großen Stadt. Auf der letzten Seite des
Romans folgt das Manifest der Wurstmenschen das mit dem 1995 erschienenen
Manifest der Polnischen Versager identisch ist. Darin konstituieren sie sich
als eine kleine, exklusive Gruppe, die sich vom „Rest“, den „Menschen des Erfolgs“,
abgrenzt. Sie stellen den Anspruch, sich nicht an deren „Terror der Vollkommenheit“
orientieren zu wollen und trotz ihrer permanenten Missgeschicke als kreative
Menschen sozial anerkannt zu werden.
Fazit
Obwohl sich die Kritik gegen die
Erfolgskultur als Ganzes richtet, ist für die Polnischen Versager der Erfolg
vor allem an den Erwerbsbereich geknüpft. Mit der Negativbewertung ist
folgerichtig auch der Abschied von einem Lebensentwurf verbunden, der auf eben
dieses berufliche Vorwärtskommen und die berufliche Anerkennung ausgerichtet
ist. Kritisiert wird die Entfremdung, die das Individuum bei der Erwerbsarbeit
erfährt. Erst jenseits von Erwerbsarbeit öffnen sich dem Individuum „neue
Welten von Wissen und Fakten, von denen (...es) bisher nichts gehört hatte“
(S.106). Dem kühlen und kaltblütigen Spezialisten der westeuropaischen
Erfolgskultur wird ein Wesen gegenübergestellt, das gefühlvoll und
intellektuell ist, sich künstlerisch betätigt und das sich Zweifel erlaubt an
seinen tiefen Überzeugungen und Weltanschauungen. Dieser „neue Mensch“, so der
Autor in einem Interview, hat auch das Potenzial, die Welt zu verbessern, indem
er zweifelt und grübelt.
In diesem Entwurf eines „neuen
Menschen“ wird implizit das auf Erwerbsarbeit fokussierte hegemoniale
Männlichkeitsmodell kritisiert und eine Alternative entworfen. Obwohl dies
nicht explizit gesagt wird, verhandelt der Roman die Lebensentwürfe von
männlichen Wesen. Dass die Wurstmenschen männlichen Geschlechts sind, daran
lässt der Autor keinen Zweifel. Oswiecimskis
alternativer Entwurf setzt das Versagen im bzw. die Absage an ein Berufsleben
voraus. Dem männlichen „Berufsmenschentum“ stellt er
einen Lebensentwurf gegenüber, in dessen Mittelpunkt intellektuelles und
künstlerisches Schaffen um seiner selbst willen steht. Das Unterlaufen des
Erfolgsprinzips, Versagen und Selbstzweifel werden zum konstitutiven Moment
eines alternativen Lebensmodells aufgewertet, das in komplexen Bezügen zu
sowohl modernen als auch postmodernen philosophischen und künstlerischen
Konzepten steht.
Gerade diese Kritik an einem auf
Erwerbsarbeit zentrierten Lebenslauf halte ich für einen dringend notwendigen
Beitrag im öffentlichen Diskurs. Denn trotz des Rückgangs an Arbeitsplätzen
gewinnt in den Lebensentwürfen von Männern (und nun auch Frauen) Erwerbsarbeit
an neuer Strahlkraft und auch die Politik hält an dem unrealistischen Ziel
einer Vollerwerbsgesellschaft fest. Das massenweise Scheitern von Biographien
ist durch diese Ausrichtung fast vorprogrammiert. Umso dringender sind
alternative Diskurse notwendig wie ihn die Polnischen Versager und andere
„Gescheiterte“ öffentlich formulieren.
Bei dem Beitrag handelt es sich um
eine gekürzte Fassung der Analyse des aktuellen Diskurses der „Gescheiterten“,
nachzulesen in: Sylka Scholz: Die „Show des
Scheiterns“ und der „Club der PolnischenVersager“.
Der (neue) Diskurs der Gescheiterten. Zahlmann, Stefan/Scholz, Sylka (Hg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite
moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005.
Zuerst erschienen in der
Zeitschrift: arrranca! Scheitern. Ever tried.
Ever failed. Nr
40/2009, S. 18-19
Wir danken der Zeitschrift wie der Autorin für das Nachdruckrecht.
Empfehlungen zum Weiterlesen von Sylka
Scholz:
Bude, Heinz/ Willisch,
Andreas (2006): Das Problem der Exklusion.
Ausgegrenzte, Entbehrliche und Überflüssige. Hamburg
Oswiecimski,
Leszek, Herman (2002): Klub der polnischen Wurstmenschen. Berlin: Versager-Verlag
[Neuauflage 2004 beim Ullsteinverlag]
Rada,
Uwe (2002): "Natürlich habe ich einen Schnurrbart." Leszek Oswiecimski über die Vorlieben seiner polnischen Landsleute,
sein eigenes Versagen als Schriftsteller und den Erfolg von Günter Grass. Die
Tageszeitung. 08.11.2002, 15.
Paoli,
Guillaume (Hg.) (2002): Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste
und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen. Berlin
Scholz, Sylka (2007): Der soziale Wandel von Erwerbsarbeit. Empirische Befunde und offene Fragen. In: Bereswill, Mechthild/ Meuser, Michael/ Scholz, Sylka (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit. Münster, S. 51-67