Helmut Ridder 1919-2007

 

Von Christoph Koch

 

Er war nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern die Scheidung - die Scheidung von Gegebenem und lediglich Vorgegebenem, von Erkenntniswillen und Interesse, von Einsicht und Meinung, von Demokratie und Staatsschutz, von Freiheit und Freiheitlichkeit, von Bürger und Staatsbürger, von Recht und Instrumentalisierung des Rechts, von Aufrichtigkeit und Liederlichkeit des Denkens und der Gesinnung. Unerbittlich bestand er auf der durch keine Rücksicht korrumpierten Lauterkeit der Wahrheitssuche als der unerlässlichen Voraussetzung der Ermittlung der Notwendigkeit, die nicht allein in Wesenseinheit das historische Sein und den Imperativ seiner Veränderung umfasst, sondern darüberhinaus der notwendigen Veränderung den Weg weist. Und unerschrocken hat er eingeschärft, dass nichts von alledem zu haben ist ohne das uneinschränkbare Risiko seines Preises - die Wahrheit nicht, die Demokratie nicht und erst recht nicht die persönliche Geradlinigkeit.

 

„Politik ist die Praxis der Wissenschaft des Notwendigen“, hat Helmut Ridder die Zusammenhänge auf die Formel gebracht, die dem politischen Bemühen die Messlatte weist. Es ist zugleich die Formel seines eigenen Lebens. Da das Notwendige eine in steter Veränderung begriffene historische Größe ist, ist es allein auf dem Wege der Aneignung seiner Geschichte zu erfassen. Helmut Ridder besaß die Geschichte nicht allein in Gestalt ihrer politischen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen, sondern vor allem auch in Gestalt ihrer philosophischen, literarischen und musikalischen Selbstreflexion. So verfügt das gedankliche Handwerkszeug seiner Wissenschaft, deren geistiger Hintergrund ein bedachter, gegen alle Anfechtung der Zeitläufe gefeiter westfälischer Katholizismus war, auf der Höhe der philosophischen Entwicklung selbstverständlich über die Gedanken von Hegel und Marx. Nicht die geringste seiner Lieben galt der nachgerade erschreckend hellsichtigen Dichterin, die der gleichen westfälischen Heimat entstammte und in deren Lebenszeit die frühen Manifestationen des Heranreifens der Republik im Schoße des Feudalstaats fallen. Auf dem Klavier spielte er die bürgerlichen Komponisten des 19. Jh.s und setzte sich mit den Präludien und Fugen Schostakowitschs auseinander.

Der Jurist Helmut Ridder hat das stets werdende Recht als die Organisationsform der Gesellschaft verstanden, deren Aufgabe es ist, die eherne Forderung der Wegweisung durch die jeweils gewordene Notwendigkeit zu erfüllen, und deren Bankrott es bedeutet, sollte sie die Erfüllung verfehlen. Er vertrat dieses Verständnis in einer Zeit und in einem Ambiente gründlicher Verfehlung. Zu seinen Lebzeiten haben es vier deutsche Republiken nicht vermocht, zu sich selbst zu finden. Als Fortsetzung vorbürgerlicher Vorkehrungen zur Verhinderung von Demokratie und gesellschaftlichem Fortschritt betrieben, haben sie den aus Feudal- in Staatsbesitz übergegangenen Untertan gegen die Freiheiten, die ihm jenseits von Rhein, Ärmelkanal und Atlantik erreichte zivilgesellschaftliche Standards eröffnen, durch Zuckerbrot und Peitsche weitgehend immunisiert. Helmut Ridder ist der Anwalt der verhinderten Republik. Das unbeirrbare Plädoyer für ihre Verwirklichung und die beißende Anklage ihrer Vereitelung ist der Kern seines Lebenswerkes. Allen deutschen Gebilden, die die Republik im Namen führen, hat er die Kluft vor Augen gehalten, die ihre Wirklichkeit von ihrem Begriff scheidet, der ihnen als unerledigte, um den Preis des Scheiterns unausweichliche Aufgabe gleichwohl vorgeschrieben blieb und bleibt. Zwei deutsche Republiken, die unterschiedliche Gesellschaftsordnungen organisierten, sind auf je eigentümliche Weise an dem Versäumnis gescheitert. Helmut Ridder hat als die Ursachen des Versäumnisses die der Republik als Taufgabe des Feudalstaats in der Wiege verabreichte antidemokratische Schutzimpfung aufgezeigt, die das ungeliebte und seiner selbst zu keiner Zeit gewisse Kind im Konflikt zwischen Staat und Verfassung bis auf den heutigen Tag die Partei des Staates ergreifen lassen. Und er hat daran aufgewiesen, dass die Demokratie ein notwendig zu durchschreitendes Tor jedweder Republik gleichgültig welchen gesellschaftlichen Zuschnitts ist. Dass keine Demokratie den Namen verdient, die die grundlegendste menschliche Tätigkeit, die wirtschaftliche, beiseite lässt, hat er gewusst, doch m. W. nicht ausgesprochen.

In einem Umfeld obrigkeitlicher wie untertäniger Demokratiephobie, in dem mit der Wahrheit zuvörderst das schmückende Beiwort „unangenehm“ einhergeht und in dem die Geradlinigkeit - abgesehen von geradliniger Ungeradlinigkeit - als Eigenschaft vornehmlich des Gegners von Demokratie und gesellschaftlichem Fortschritt in Erscheinung tritt, konnte diese Haltung nicht auf den Beifall der Menge rechnen. Helmut Ridder hat die herrschende Lehre, in der das Recht sein Zusammengehen mit dem politischen Interesse der Flucht vor stattgehabter Geschichte allenfalls notdürftig zu verhehlen wusste, beharrlich vor die Schranken gefordert. Er focht mit scharfer Klinge und einem mit wachsendem Einblick zunehmend flammenderem Zorn. Die Bereitschaft, der Herausforderung Folge zu leisten, war nicht eben verbreitet, da die Aussicht auf ein unbeschadetes Verlassen des Turnierplatzes gering war. An die Stelle der gedanklichen Auseinandersetzung traten die geistig weniger strapaziösen Mittel des Kleinhaltens einer als politisch unerwünscht korrekt erkannten wissenschaftlichen Einsicht.

In Einklang mit einem exzeptionellen Bundespräsidenten liebte Helmut Ridder seine Frau. Maria Ridder war es, die ihn mit dem polnischen Hintergrund ihrer familiären Herkunft vertraut machte und ihn an die Thematik der deutsch-polnischen Beziehungen heranführte. Augenblicks fand er sich im Brennpunkt der Lebenslüge der zweiten deutschen Republik und ihrer Nachfolgerin. Der Name der Lebenslüge ist Deutschlanddoktrin, ihr Inhalt die Option auf eine Revision der Geschichte und die Wiederherstellung des Reiches. Helmut Ridder hat sie in all ihren Ausformungen in zahlreichen Veröffentlichungen auf wissenschaftlicher und nicht allein im Rahmen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V., der er von 1977 bis 1992 vorstand, auch auf politischer Ebene bekämpft, und es ist keine gewagte Behauptung, dass sich sein Verdikt als beständiger denn die Republik erweisen wird.

Helmut Ridder hat zahlreiche Schüler einflussreiche Stellungen in Wissenschaft und Politik einnehmen sehen, und er hat mit wachem Auge verfolgt, wieweit sie die Prüfung bestehen. Die Auffassung, dass ihr Schicksal eine Veränderung des von ihm diagnostizierten Befundes der Republik anzeige, hat er nicht geteilt. Ich selbst gehöre nicht zu seinen Schülern, aber ich betrachte Helmut Ridder als meinen akademischen Lehrer und fühle mich in der Pflicht, den Erkenntnissen, zu denen ich in der nicht immer mühelosen Auseinandersetzung mit den von ihm verfochtenen Einsichten  gelangt bin, zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen.