Am Scheitel
der Parabel
Von Helmut Ridder
Im Nachstehenden drucken wir einen Text aus der Feder Helmut Ridders nach (er erschien zuerst in konkret 6/95, S.
42-46), der seine Diagnose deutscher republikanischer Befindlichkeit
exemplarisch und in einem treffenden Bild zum Ausdruck bringt: das von einer
deutschen Republik zur anderen fortgeschriebene sedative
Demokratieverständnis, das sich allenfalls die Erlangung untertäniger
„Freiheitlichkeit“ auf dem Petitionswege vorzustellen vermag und sich daher
beeilt, dem „Staatsbürger“ - man übersetze das Wort in eine beliebige
Fremdsprache, um sich seines Gehalts zu vergewissern - den eingebüßten
Monarchen in Gestalt des Staates zurückzugeben, der ihm gegen den frischen Wind
jenseits der Landesgrenzen real existierender Demokratie ein fürsorgliches
Wollmützchen auf das ängstliche Haupt und über die an diesem befindlichen Denk-
und Sinnesorgane stülpt. Kritisch einzuwenden wäre mit Hellmut von Gerlach,
dass sich auch die Entstehung der ersten Republik - von der zweiten und dritten
zu schweigen - nicht dem revolutionären Willen zu ihrer Verwirklichung (den es
gewiss gegeben hat), sondern einzig und allein dem Zusammenbruch der alten
Ordnung verdankt. C. K.
Warum Sebastian Haffners Buch
„Der Verrat“ so wichtig ist? Eine Parabel ist, erinnern wir uns an geliebte
oder gefürchtete Schulstunden der Befassung mit analytischer Geometrie, die
Gesamtheit aller Punkte, die von einem festen Punkt, dem Brennpunkt F, und
einer festen Gerade (l), Leitlinie genannt, gleichen Abstand haben. Das Lot vom
Brennpunkt auf die Leitlinie, es heißt Symmetrieachse, schneidet auf seinem
halben Wege die Parabel in ihrem Scheitelpunkt (A), von dem die beiden Äste der
Parabel ausgehen und der zugleich der Punkt des kleinsten Abstands vom
Brennpunkt einerseits und von der Leitlinie andererseits ist. Klarer, knapper
und doch aussagekräftiger als durch eine Parabel, die auch einen Wust von
Mythen entzaubert, mit dem die postnazistischen Deutschen sich und die Welt
über ihr Verhältnis zur Demokratie belügen, kann kein Diagramm die einzigartige
Verlaufsgeschichte deutschen Demokratieverfehlens in zwei Jahrhunderten veranschaulichen:
Auf dem verfassungsloser Zeit entsteigenden Parabelast
gerät der vom preußischen Expansionsstreben dynamisierte, von Bismarck durch
drei provozierte und gewonnene Kriege „geschmiedete“, im Land des besiegten
französischen „Erbfeindes“ triumphal als Kaiserreich proklamierte, aber mit
Augenmaß für die Grenzen des dauerhaft Machbaren nur auf den Großteil einer
„verspäteten“ Nation „kleindeutsch“ zugeschnittene Staat in das
Gravitationsfeld der Demokratie, des Brennpunkts der Parabel. Wird es ihn aus
seiner Kometenbahn herauslösen und in den Hafen der (von ihren ungeduldigen,
aber mittlerweile gestrandeten Überholern als
„bürgerlich“ verschrienen) Demokratie einlaufen lassen, den der europäische
Westen längst erreicht hat?
Mitnichten, denn da ist die sich
gerade in dieser Gefahrenzone bewährende antirevolutionäre Leitlinie der
Parabel vor! Sie hat ihren Ursprung in der mit dem legitimistischen
Wiener Kongreß beginnenden Ära der Restauration. Den
von diesem Kongreß aus der Taufe gehobenen, nicht
sonderlich funktionstüchtigen und unter dem Einfluß
des preußisch-österreichischen Rivalisierens um Führungsmacht geschwächten
Deutschen Bund hat die Reichsgründung von 1867/71 zwar endgültig liquidiert.
Doch das von ihm tradierte antirevolutionäre, monarchische Legitimationsprinzip
hat sie übernommen und blitzblank poliert. Es gehört ja auch zum Kern „unseres
deutschen Wesens“, das auch die Väter der Paulskirchenverfassung in Rechts und
Links umfassender Einmütigkeit vor der „traurigen Nachäffung französischer
Vorbilder“ bewahrt wissen wollten. Verständlicherweise. Schließlich ging ihr
von Petitionen inspirierter Auftrag dahin, den schon vorhandenen süd- und mitteldeutschen
Konstitutionalismus fortzuschreiben und das Ergebnis einem auf dem Gebiet des
Deutschen Bundes vereinigten Deutschland als Reichsverfassung vorzuhalten. Und
auch die am 18. März 1848 in Berlin niederkartätschten
Demonstranten waren keine revolutionär zur Demokratie aufgebrochene Bewegung
gewesen, sondern königstreue Petenten, die öffentlich
einforderten, was durch königliche Versprechen längst bewilligt war.
Siebzig Jahre danach, im November
1918, im Zeichen der unabwendbar gewordenen militärischen Niederlage des alldeutsch-wilhelminisch gewordenen und nach der
„Weltmacht“ greifenden neuen Kaiserreichs also ist der Kritische Punkt der
größten Nähe zur Demokratie erreicht, an dem nun wirklich eine Revolution ausbricht,
die ihren demokratischen Ehrennamen verdient, die also weder um Bewilligungen
nachsucht, noch auch nur auf deren Einlösung pocht, die erste - und in zwei
Jahrhunderten einzige - deutsche Revolution. Der Punkt, an dem der fallende Parabelast beginnt, auf dem das mit der Reichsgründung vom
Stapel gelaufene deutsche Staatsschiff auf der anderen Seite der Symmetrieachse
dem Gravitationsfeld des Brennpunkts Demokratie wieder entkommen konnte. Der
Punkt, an dem es entscheidend und um jeden Preis darauf ankam, die antirevolutionäre
Leitlinie funktionstüchtig zu erhalten, die die Schwerkraft des Brennpunkts
ausschaltet. Der Punkt, der im Geschichtsbewußtsein
der politischen Klasse dieses Landes nicht unzufällig verdunkelt ist, weil sie
nicht weiß, daß Demokratie um den Preis der totalen
Preisgabe ihrer Risiken nicht zu haben ist. Der Punkt, ohne dessen Erhellung
aber nicht zureichend erkannt werden kann, wann und wie rechte und linke deutsche
Revolutionsphobie sich zu einer Schubkraft bündelten, deren ungeheure
ideologische Wucht bis heute ausgereicht hat, um das angeblich zäsurlos fortexistierende Deutschland von 1871 zäsurlos vor demokratischen Kursabweichungen zu bewahren.
Diesen Punkt nimmt Sebastian Haffner in seinem 1993 vom „Verlag 1900 Berlin“
neu herausgebrachten Buch. „Der Verrat“ ins Visier.
Grundakkord einer Preußenmelodie
Haffner ist aus den Reihen
zünftiger Historiker die „Meisterschaft eines Tonsetzers in Sachen Geschichte“
bescheinigt worden. Dies im Zusammenhang mit seinem 1978 erschienenen Buch
Preußen ohne Legende, mit dem er tatsächlich den „Grundakkord“ der seit dem
Ende der siebziger Jahre anschwellenden (mittlerweile wieder abgeklungenen)
„Preußenmelodie“ anschlagen konnte - eine attraktiv ausgestattete und breiten
Widerhall findende Veröffentlichung, deren Erfolg der quasi-offiziösen
Produktion hegemonischer politischer Ideologien in
der BRD mehr als gelegen kam, war diese doch durch den Aufbruch der
DDR-Historiker zur „Aneignung“ auch von preußischem „Erbe“ zunehmend in
Zugzwang geraten. Das nicht nur wissenschaftlich Problematische an Haffners
publizistischem Paukenschlag war seine Fixierung auf die, wie er meint,
„eigentliche preußische Geschichte“, kurz auf das sozusagen klassische Preußen
des 18. Jahrhunderts, dessen Bild er denn auch mit gleichermaßen gewisssenhafter wie liebevoller Feder gezeichnet hat. So
werden die relative Modernität und Aufgeklärtheit jenes Preußen und sein absolutistischer
Kampf gegen ständische Borniertheit von Haffner zutreffend in helles Licht
gerückt, wohingegen Preußens weitere Wirkungsgeschichte seit der Französischen
Revolution hier im Dunkeln bleibt. Sie endete nach Haffner jedenfalls als eine
mit der Reichsgründung von 1871 beginnende „Agonie“ des „langen Sterbens“; in
„glorioser Form“ habe Preußen abgedankt, nachdem Bismarck ihm mit seiner zur
Reichsgründung führenden Politik „den Todeskeim eingeimpft“ habe. Da denkt man
doch unwillkürlich an die durch die März-Unruhen von 1848 ausgelöste königliche
Verheißung, Preußen werde künftig in Deutschland aufgehen. (Der dies ankündigende
rhetorische Meister in der Kunst patriotischen Abwiegelns wollte aber keine
Kaiserkrone von Meister Bäckers usw. Gnaden und hatte ein verpreußtes
Deutschland im Kopf.) Oder, in der Europa-Ära mit dem Namen Maastricht, an die
proklamierte Europäisierung der durch die Eingliederung der DDR frisch
„vergrößerten“ BRD (indes zäh an der Einreihung Deutschlands bei den
Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und für die Beherrschung Europas durch
seinen deutsch bestimmten Macht-“Kern“ gearbeitet
wird).
Um auf Haffners Szenario von
Preußens Abdankung zurückzukommen: Es läßt nicht
erkennen, mit welchem Stachel das zu Tode geimpfte Preußen, verendend oder
nicht, den geschmack- und geschichtslos mit Reichsflitter behängten neuen und
ersten deutschen Nationalstaat gegen die Demokratie immunisiert hat. Es hat ihn
unlösbar an die Kette der sich in den Erblanden der Heiligen Allianz
behauptenden, per se antirevolutionären monarchischen Legitimation geschmiedet,
ohne deren Zerbrechen im gesamtgesellschaftlichen Bewußtsein
aber im neuzeitlich-nationalstaatlichen Europa seit 1789 die unüberholbare Revolution aus dem Geist der Aufklärung
zerbricht und, selbst wo und wenn im Wege der Reform von oben demokratische
Institutionen und Verfahren eingeführt und praktiziert werden, die Demokratie
ohne das sie sichernde Fundament der Verinnerlichung demokratischer Ideologie
bleibt.
Eine Revolution von oben - eine was?
Nichts war revolutionär an den
vor- und nachmärzlichen preußischen Reformen, die zur
Lösung der immer brennender werdenden „sozialen Frage“ nichts beigetragen haben
und, an den Interessen der unterprivilegierten Schichten vorbei, der Anpassung
der vorhandenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung an die Erfordernisse
des industriellen Zeitalters im Sinne der Privilegierten, des entfalteten
Bildungs- und Besitzbürgertums, dienten. Das semantische Verwirrspiel mit dem
Begriff der „Revolution von oben“ erreichte übrigens erst vor zehn Jahren
seinen grotesken Höhepunkt, als nach dem Vorgang zeitgenössischer Akteure und ganzer
Schulen von akademischen Historikern der DDR-Historiker Ernst Engelberg in
seinem 1985 erschienenen Werk Bismarck - Urpreuße und Reichsgründer ganz
unbedenklich die Rede von der preußischen „Revolution von oben“ übernahm und
speziell als „Revolution in Kriegsform“ („von oben“ kam im Juni 1866 die Eröffnung
der preußischen Kriegshandlungen gegen Österreich ganz gewiß)
einen der gewalttätigsten Beiträge Bismarcks zur ersten deutschen Vereinigung
verstanden wissen wollte.
Es ist offenbar ein großer, politisch
äußerst buntscheckiger Kreis von in- und ausländischen Preußen- und
Bismarckfans, von deutschnationalen, kommunistischen und sonstigen Anbetern
erfolgreicher und dadurch „legitimierter“ Machtausübung, dem dieser Ausbund von
antirevolutionärer Perversion des Revolutionsbegriffs entwachsen ist. Gehört
Sebastian Haffner, erfolgreicher Tonsetzer der am lautesten von den
Verschwörern gegen die Neuzeit und ihr der Aufklärung geschuldetes
Fortschrittsmotiv gesungenen Preußenmelodie zu diesem buntscheckigen Kreis,
d.h. zu einer die Massenmedien infiltrierenden und durch den ideologischen
Transfer des scheinbar von Erfolg gekrönten „Modells Deutschland“ europaweit an
Boden gewinnenden Liga für geschichtlichen Rückschritt? Steht Haffner, vielbefehdet, wo nicht totgeschwiegen als Verfasser des
Werks über „Verrat“, den Verrat einer Revolution nämlich, auf der anderen
Seite? Zu der dann aber die in der BRD von ihren Chefideologen durchs
Godesberger Tor geschleifte und so „regierungsfähig“ gemachte Sozialdemokratie nicht
gehören kann! Denn ihre Hofgeschichtsschreiber attestieren dem „historisierenden Publizisten“ Haffner einen „nur noch als
pathologisch zu bezeichnenden Haß“ auf Friedrich
Ebert. Der hat sich nun allerdings zeitlebens dazu bekannt, daß
er die Revolution „wie die Sünde“ hasse.
Ebert als „historische Schlüsselfigur“
Ebert ist die historische
Schlüsselfigur im Deutschland des 9. November 1918. Er, der die Führung der Mehrheits-SPD fest im Griff hatte, hat sich an diesem Tage
vom resignierenden Reichskanzler Prinz Max von Baden durch einen
verfassungswidrigen, aber nicht als revolutionär, sondern als vom Notstand der
alten Ordnung gedeckt begriffenen Akt die Befugnis zur Übernahme der
Spitzenfunktion in der zivilen Reichsleitung übertragen lassen. Von seinen
Entscheidungen hing es ab, ob diese Sozialdemokratie und ihre die großenteils
gewerkschaftlich organisierten Massen des Industrieproletariats, der Underdogs
des preußisch-deutschen Kaiserreichs, umfassenden Anhänger doch noch als
ausschlaggebender Machtfaktor der ausgebrochenen Revolution freigesetzt oder
als solcher mit dem Repressionsinstrumentarium der alten Ordnung stillgelegt
und von derselben endlich als staats- und systemtragende
Kraft anerkannt werden würde - um für die Zwecke ihrer (damals anders nicht
mehr möglichen) Sanierung verheizt zu werden: Die siegreiche Gegenrevolution frißt die von ihr eingekauften Proselyten - nachtragend,
nachhaltig, gründlich, langsam aber sicher, über Generationen hinweg. Das ist
aber kein bei Historikern, Politologen und Publizisten branchengängiges Thema
geworden (daß die um der Menschenrechte willen zur
Befreiung aus der Vormundschaft von Staats- und Fürstensouveränität angetretene
Revolution ihre eigenen Kinder fräße, wird hingegen häufig geschrieben, wobei
nicht bedacht wird, daß sie in dem Maße, wie
installierter Terror das Ringen um ihre gesamtgesellschaftliche Annahme und
Verinnerlichung durchsetzt oder ersetzt, selbst verraten wird).
Ebert hat mit keiner der von ihm
am Scheitel der Parabel getroffenen Entscheidungen und begangenen Taten seinen
antirevolutionären Haß verraten. Er bewahrte das
Staatsschiff des Deutschen Reiches vor jeder revolutionären Kursabweichung und
wurde ganz folgerichtig von der Nationalversammlung, die in Weimar unter dem
bewaffneten Schutz der alten Ordnung zusammengetreten war, zum ersten
Präsidenten einer „Republik“ gewählt, die sich pflichtgemäß und kursgetreu der
revolutionären Voraussetzungen ihrer Entstehung schämte, hätten ihre
Honoratioren sonst doch tatsächlich französische Vorbilder „nachgeäfft“ und den
9. November 1918 wie den Sturm auf die Bastille gefeiert („man“ traf sich statt
dessen am 18. Januar, dem Jahrestag der Reichsgründung, zum „Herrenessen“). Der
Pflege des moralischen und politischen Vermächtnisses von Friedrich Ebert hat
sich in der BRD die nach ihm benannte Stiftung angenommen; ihre Bewährung als
gern konsultierter, instruierender Braintrust für Probleme des Anhaltens,
Kanalisierens oder auch Zurückwerfens revolutionärer Aufbrüche in Ländern, die
aus dem Kolonialstatus entlassen worden sind oder sich von der Herrschaft (vulgo) „faschistischer“ Diktatoren befreien konnten, steht
außer Zweifel.
Friedrich Ebert ist auch in
Haffners packendem Bericht über den „Verrat“ der Revolution von 1918/19 die
zentrale Figur. Wie sie in den Vordergrund des Geschehens rückte; wie, warum
und zu welchen konspirativen Zwecken sie sich der Koordinierung mit der
obersten Heeresleitung versicherte; wie sie dazu beitrug, daß
den revolutionär entstandenen und dürftig organisierten Hoffnungsträgern, den
Arbeiter- und Soldatenräten und dem Rat der Volksbeauftragten, der Zugang zur
Macht versperrt blieb, bis sie wie Eintagsfliegen verendeten; wie sie, und sei
es auch nur durch Schweigen, diejenigen deckte, die die Mörder von Wegbereitern
und Verkörperern der alles andere als mordenden
Revolution (exemplarisch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg) deckten („Ebert
hat, soviel man feststellen kann, immer wie das Grab dazu geschwiegen“,
schreibt Haffner, S. 149; auf jüngst erbrachte Belege für Noskes
Anteil, der über „kalte Genugtuung“ weit hinausging, verweist der Verleger in
einem Nachwort zur 2. Auflage, 1994, S. 205ff) - alles das berichtet Haffner.
Und er berichtet, indem er Fakten
mitteilt, Fakten und nochmals Fakten, viele Fakten, so geordnet, daß Vorgänge sichtbar werden. Er stellt und beantwortet
keine Gretchenfragen. Über die Analyse - sie läßt
sich nicht auf die für das Wiegen der Fakten zur Verfügung stehende
Präzisionswaage legen - ist m. E. stellenweise zu streiten (ich komme darauf auch
deswegen noch zurück, weil da der Haffner sichtbar wird, der das „klassische“
Preußen liebevoll im „Goldrähmchen“ - so eine m. E. ganz treffende Bemerkung
der Kritik - präsentiert hat). „Die Fakten stimmen“, durfte Haffner auch 1979
im Nachwort zur Neuausgabe seines Buches schreiben (in der hier angezeigten
Ausgabe S. 201), in dem die Texte seiner „Stern“-Serie
„Der große Verrat“ von 1968 zusammengefaßt sind. Gut,
daß schon damals nicht wie beim in denselben
Jahrzehnten behandelten Preußenthema die Liebe, sondern der Zorn seine Feder
beflügelt hat, ein Zorn, der die Fakten nicht entstellt und dessen der Autor
sich bewußt war, wie er sich der Gerechtigkeit seines
Zorns gewiß war. Profitiert hat davon die
Eindringlichkeit dieser Schilderung der Machenschaften und der Rollenverteilung
beim Niederschlagen einer Revolution, die ins Geschichtsbewußtsein
der „normalen“ Absolventen deutscher Schulen in Weimar, im „Dritten Reich“ und
seither in Westdeutschland als „spartakistischer“
oder gar „bolschewistischer“ Aufruhr eingegangen ist.
Gnadenlose Fakten
Haffner hat ausweislich der
bisherigen Ausgaben mit Titel und Untertitel seines Werks experimentiert. In
der hier angezeigten neuesten Ausgabe lautet der Untertitel 1918/1919 - als
Deutschland wurde, wie es ist. Er greift inhaltlich am weitesten und eben auch
bis in die Gegenwart aus. Wie sehr das „Deutschland, wie es ist“ sich davon
getroffen fühlt, erweist die nicht vom Zorn beflügelte, sondern von der Wut
angestachelte Schmähkritik, die aus zwei Richtungen im Verdikt über den Verfasser
und sein Buch zusammenfließt. Die Quellen dieser beiden Kritikströme
entspringen je einem der beiden Lager der Vermächtnisnehmer der Großen
Antirevolutionären Koalition (ich schlage das Kürzel GAK vor) von 1918/19, in
welcher sich der sozialdemokratische Juniorpartner, der begierig nach dem von
den blitzschnell reagierenden Arbeitgeberverbänden ausgelegten
sozialpolitischen Köder (Anerkennung der Gewerkschaften als „berufene Vertreter
der Arbeiterschaft“ mit der Folge der Legalisierung von Arbeitskämpfen etc.)
schnappte, sehenden Auges austricksen ließ. Das „stärkste Stück“: wie
Ludendorff, der während des Krieges auch die zivile Reichsleitung seinem Diktat
hatte unterwerfen können, es in seiner feinen deutschen Generalstabsart fertiggebracht hat, durch die Erfindung der
„Dolchstoßlegende“ die Schuld an der militärischen Niederlage den
sozialdemokratischen Führern in die Schuhe zu schieben und sie dadurch in den
Augen aller „Patrioten“ nachhaltig zu diskreditieren, beschreibt Haffner in den
Eingangskapiteln (S.19 ff). Am Ende vom Lohn des Seniorpartners für den
„Verrat“, speziell davon handelnd, daß Ebert mit dem
von der deutschen Justiz in Weimar gern übernommenen Vorwurf des Landesverrats
„buchstäblich zu Tode gehetzt“ wurde (S. 196 ff), zitiert Haffner das Gedicht
„Die Vergeltung“ von Annette von Droste-Hülshoff. Dieses Gedicht zu lesen und
noch einiges mehr von ihr, sei den „linken“ Veranstaltern des lärmenden
postfaschistischen Antifaschismus empfohlen, der zur Zeit kräftig dazu beiträgt,
daß Deutschland das Treppchen der Sieger vom 8. Mai
1945 erklimmen kann, von wo aus der Griff nach der Hegemonie über Europa kürzer
und die nächsten nationalistischen Revisionsrunden leichter werden. Sie, die
vor lauter Geschichtslosigkeit politisch begriffsstutzigen lieben „Linken“,
würden dadurch etwas über die Unbestechlichkeit der Geschichte lernen können
und beim nächsten Blick auf den deutschen Greenback
nicht mehr mit der Bundesbank meinen, das Bild eines bigotten Frauenzimmers vor
sich zu haben, sondern verstehen, warum Friedrich Engels sich beeilt hat,
dieser großen Seherin seine Aufwartung zu machen (aber davon steht in der von
den 68ern benutzten Literatur nichts).
Die Wut der sozialdemokratischen
Schmähkritik, die sich in Undeutlichkeiten über Haffners Deutungen verlieren muß, weil sie die von ihm vermeldeten Fakten nicht leugnen
kann, richtet sich gegen die Verbreitung von schädlichem Wissen. Es läßt wie jedes Wissen den Gewissenswurm gedeihen, der hier
aber in besonders störender Weise das Nachdenken über die moralische Qualität
und den politischen Sinn der von der parteiförmigen deutschen Sozialdemokratie
bis heute fortgesetzten Beteiligung am antirevolutionär-antidemokratischen
Kampf provoziert. Mental hat sich diese Sozialdemokratie auch durch Kündigung,
schnöden Undank und Schlimmeres nie vom Seniorpartner aus der GAK verabschieden
lassen, in der sie 1918/19 mit ihm zusammen zu aktionistischer Hochform
aufgelaufen ist. Auch nicht dadurch, daß der 1932 mit
den Stimmen der sozialdemokratischen Wählerschaft wiedergewählte
Reichspräsident (Hindenburgs Devise: „Die Treue ist das Mark der Ehre“) durch
seinen Auftritt beim „Staatsakt von Potsdam“ die Ausdehnung der Verfolgung von
Feinden der „nationalen Erhebung“ auch auf den sozialdemokratischen
Juniorpartner absegnete. Denn als zwei Tage später in der Kroll-Oper
der sozialdemokratische Fraktionschef Otto Wels (über seine Rolle bei der
Erwürgung der Revolution von 1918/19 berichtet Haffner ausführlich) das Nein
der Fraktion zum „Ermächtigungsgesetz“ in seiner später vielzitierten
(und selten gelesenen) Rede begründete, hatte er an den außenpolitischen
Bestrebungen der „Regierung der nationalen Konzentration“ nichts und an der
Proklamation der totalen Überwindung des „Systems“ von Weimar eigentlich nur
auszusetzen, daß die Sozialdemokratie und andere in
Weimar bewährte antirevolutionäre Organisationen in Verkennung ihrer Verdienste
und mit der Unterstellung staatsfeindlicher Wühlarbeit vom großen Werk des
Neuaufbaus ausgeschlossen sein sollten (m.W. hat anläßlich der 50. Wiederkehr des Jahrestages der
Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ von den zeitgeschichtlich
engagierten deutschen Historikern nur Golo Mann eine komplette demokratische
Alternative zu dieser Rede ausformuliert). Womit Wels recht
hatte, und wobei er auch kaum übersehen haben dürfte, daß
der Seniorpartner schon damit rechnete, für die nächsten tausend Jahre auf
Krankenhilfe von „links“ nicht mehr angewiesen zu sein. Jedenfalls war die
Erwiderung des „Führers“ (von den schnell gewendeten Staatsrechtlern im
anhebenden „Dritten Reich“ als „Abrechnung“ bezeichnet) der Hohn konsolidierter
Macht über besiegelte Ohnmacht einer Partei, die es selbst danach noch über
sich brachte, ihren Vorstand zu „entjuden“, und
hoffte, dadurch ihre endgültige Liquidierung verhindern zu können.
Nach dem durch fremde Siegermacht
und ohne auch nur einen deutschen Hauch von Revolution herbeigeführten
vorzeitigen Ende der tausend Jahre war sie wieder da, gut genug dafür, im
Westen vom Vordemokraten Konrad Adenauer mit den gerade noch vom „Dritten
Reich“ benutzten Zwecklügen als Vorhut des Bolschewismus verleumdet zu werden,
seinen Chauvinismus mit einer Ballung von Realitätsverlust („Kanzler der
Alliierten“) und anarchistischem Unverstand übertrumpfen zu wollen, sich dann
brav nach der Decke des antirevolutionären Seniorpartners zu strecken und in
der SBZ/DDR im Machtschatten der sowjetischen Revolutionsüberholer
in ein deutsches Experiment der Revolutionsüberholung verwickelt zu werden, bei
dem sie heute ausschließlich Opfer gewesen sein will, um mit dem Seniorpartner
mithalten zu können, der die als Eingliederung der DDR vollzogene deutsche
Vereinigung von 1990 auch als seinen „Sieg“ feiert (und dadurch die Spaltung
der Nation in zwei Gesellschaften recht eigentlich erst einleitet: Die Ossis
werden mit Hilfe ihrer eigenen Wendehälse, Racheengel und servilen Simpel zu
einer Gesellschaft reuiger oder verstockter Besiegter; die Wessis sind die
Animateure eines juristischen und politischen Gerichtstags von Siegern).
Revolutionsüberholer auf der großen politischen Bühne
Ich muß
hier zur Vermeidung von Mißverständnissen etwas
genauer erläutern, was ich unter „Revolutionsüberholung“ richtig verstanden
wissen möchte. Die Revolutionsüberholer erscheinen
mit der russischen Oktoberrevolution auf der großen politischen Bühne. Sie
glauben, dadurch, daß sie die „bürgerliche“
Revolution nicht nur nicht zu Ende führen wollen, sondern sie als überflüssig
sogar einfach „ausfallen“ lassen, allen Irrwegen, Rückschlägen usw. derselben
entgehen zu können, und verkennen, daß sie damit die
demokratische Imprägnierung des gesellschaftlichen Bewußtseins
verhindern, die im Wegdenken von Souveränität besteht. Sie sind selbst Legitimisten, die denn auch auf einen dem Volk vorgesetzten
Souverän nicht verzichten können, und - provozieren so erst die mit der
monarchischen Legitimation brechende, nicht ersetzbare Revolution (die
Aufständischen von 1956 im sozialistischen Ungarn waren Revolutionäre im Sinne
dieser irritierend immer noch „bürgerlich“ genannten Revolution, indem sie
keineswegs „den Sozialismus abschaffen“ und das dem Anspruch nach vorhandene
Rätesystem nicht etwa beseitigen, sondern durch Befreiung von den Einwirkungen
einer souverän agierenden Partei überhaupt erst Wirklichkeit werden lassen
wollten).
Die Revolutionsüberholer,
die in der SBZ den Seniorpartner der GAK der Deutschen gewaltsam als
Machtfaktor ausgeschaltet haben, konnten dort den verbleibenden Juniorpartner,
wenn auch unter eindrucksvoller Assistenz des zur Besatzungsmacht gewordenen
Großen Bruders und mit erheblichem Druck auf die bekannte Solidaritätsdrüse, so
doch gerade deswegen ohne physische Gewaltsamkeit in ihr Experiment einspannen,
weil es mit der antirevolutionären Mentalität des Juniorpartners harmonierte.
Das zu begreifen und darüber angesichts des heute in vollem Umfang übersehbaren
Ergebnisses nachzudenken, müßte Sache des Juniorpartners
sein. Der lamentiert aber lieber über erlittene Fußtritte, um sich als
Verfolgter des DDR-Regimes in der erstarkten GAK neben dem Seniorpartner behaupten
zu können. - Des wenigen, was die westdeutsche Sozialdemokratie immerhin
geleistet hat, als sie mal „mehr Demokratie wagen“ wollte und als sie sich an
der Vorbereitung einer deutschen Vereinigung durch Verständigung versuchte,
schämt sie sich, wie ihre Altvordern von 1918/19 sich der ihnen nachgesagten
Beteiligung an der damaligen Revolution geschämt haben. Haffners Verrat ist für
ihre Führung heute noch ärgerlicher als die früheren Ausgaben, weil der Inhalt
des Buches die Aufforderung zu einem Selbstreinigungsprozeß
darstellt, der von heute an rückwärts den in Generationen angehäuften Stoff zu
verarbeiten hätte. Das wäre schmerzhaft, riskierte vielleicht Verluste von
aktuellen Einflußmöglichkeiten, hätte aber Zukunft. Darauf
zu verzichten, ist bequem und garantiert die Verlängerung einer Gegenwart, in
der der Juniorpartner immer darauf gefaßt sein muß, daß er mit einem Fußtritt in
sein schon von den Altvordern abgehärtetes Hinterteil für seine
antirevolutionären Dienste entlohnt wird.
Ungleich schlichter strukturiert
ist die Wut des Seniorpartners, der sich durch Haffners Verrat von dem 1954 aus
der Emigration heimgekehrten und lange für die systemkonforme Presse des
CDU-Staates schreibenden Publizisten verraten fühlt. Was diese Schmähkritik
sich nicht erklären und auch nur als „pathologisch“ bezeichnen kann, erklärt
sich jedoch sehr einfach aus der Sensibilität des Autors für die Wahrnehmung
von individueller Unmoral, die sich innergesellschaftlich in den von ihm
beschriebenen Vorgängen auswirkt, deren Zeitzeuge er auch ist. Damit ist er
auch schon früher gelegentlich „unangenehm aufgefallen“, so durch seine Stellungnahmen
zur „Spiegel-Affaire“ und zum Tod des Studenten Benno
Ohnesorg. Die „Typen“, die als Freikorps-Schützen
fröhlich mordeten, hat er schon in seiner Schulzeit kennengelernt
und ist dabei, wie er noch unlängst schrieb, „innerlich auf die Seite der
Erschossenen übergegangen“. Dem Verschweigen und dem Entstellen der
geschichtlichen Wahrheit über die Revolution, die Gegenrevolution und den
Bürgerkrieg mit den Mitteln eines geradezu kriminalistischen Nachspürens und
des dadurch ermöglichten faktentreuen Berichts entgegenzuwirken, rückte ihm als
Aufgabe immer näher, als der demokratische und rechtsstaatliche Lack der BRD
abzublättern begann. Daß diese Kriminalistik mit dem
Interesse des antirevolutionären Seniorpartners an der Verdrängung der blutigen
Wahrheit kollidiert, braucht nicht beschrieben zu werden.
Ich versuche zum Schluß, meinen wichtigsten Einwand gegen das unentbehrliche
Buch zu formulieren. Er richtet sich weder gegen die Intention, noch zweifelt
er die Zuverlässigkeit der Recherchen an, noch stellt er in Frage, daß mit diesem Buch jedem Leser geradezu sprunghaft
Einsichten vermittelt werden, die ihn befähigen, das seinen Bewohnern
weitgehend unbekannte Wesen Deutschland kennenzulernen.
Damit bin ich wieder bei dem Untertitel der vorliegenden Ausgabe: 1918/1919 -
als Deutschland wurde, wie es ist. Er müßte lauten:
„1918/1919 - als Deutschland hätte werden können, wie es auch heute noch nicht
ist, weil es bleiben wollte, wie es war“ - nämlich ein Land, in dem die nur
durch revolutionäres Zerschneiden der monarchischen Legitimation realisierbare
Demokratie nicht angekommen ist. Damit auch nicht politische Kultur,
Verhaltenskodex, Protokoll und Etikette einer konsolidierten Demokratie (hier
gibt es keinen „rechtsstehenden“ Staatsmann, der
einen Voltaire auch dann nicht verhaften würde, wenn er Sartre hieße; hier gibt
es einen durch die Ausstattung mit richterlicher Unabhängigkeit faktisch mit
Staatssouveränität nach innen ausgestatteten Ersatzmonarchen, ein
Bundesverfassungsgericht, das mit dem Gestus der Rechtsfindung potentiell jede
politische Streitfrage allgemeinverbindlich und unanfechtbar entscheiden kann;
hier herrscht die schofle Niedertracht von „Siegern“, die eine ganze
Wählerschaft ohrfeigen dürfen, indem sie den Alterspräsidenten des von ihr
gewählten Parlaments wie Luft behandeln).
Ein Widerspruch in sich - „sozialdemokratische Revolution“
Mein Einwand betrifft Setzungen
und Deutungen in dem geschichtlichen Rahmen, mit dem Haffner das Hauptstück
seines Buches umgeben hat und der an das „Goldrähmchen“ von Haffners
Preußenbild denken läßt. Ich glaube nicht, daß man die mit Hilfe sozialdemokratischer Führer
niedergeschlagene Revolution noch eine „sozialdemokratische“ nennen darf (S.6);
das wäre ein Widerspruch in sich. Nicht nur der sozialdemokratischen Führung,
sondern auch den sozialdemokratischen Massen war durch die Praxis des
Sozialistengesetzes, in dessen Nichtverlängerung auch Franz Mehring
zu Unrecht einen Sieg erblickt hat, längst das revolutionäre Rückgrat restlos
amputiert worden. Demonstriert wurde nicht in Ansehung der Revolution als End-
oder Etappenziel. Die Umzüge und Massenmeetings, gegen die, beritten und mit
blankem Säbel, „eingeschritten“ wurde, zeigten durch ihre Themen, um was es bei
diesen Veranstaltungen ging, die ihren Stolz darin setzten, durch ihre
Ordentlichkeit den Militärparaden die Schau zu stehlen. Es ging (Beispiel:
Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts) darum, in der durch die
Reichsgründung zwecks Revolutionsverhütung errichteten machtvollen Zitadelle
die mit der nicht mehr zu vermeidenden Einrichtung repräsentativer Wählervertretungen
geschaffenen Fenster demokratischer Verwundbarkeit modernen Tagesforderungen
gemäß zwar zu erweitern, ohne jedoch Zweckbestimmung und Funktionsfähigkeit der
Zitadelle in Frage zu stellen bzw. zu beeinträchtigen; die Bauleute der
Zitadelle hatten ja auch gerade wesentlich zur Erwürgung der Pariser Kommune
beigetragen. Es ging einer im im Juste
milieu zubereiteten Sozialdemokratie um die
Mitbestimmung auf den Befehlsebenen der Zitadelle, des Staat und politisches
System gewordenen antirevolutionären Legitimismus. Um
die Zeit des Erfurter Programms von 1891 war bereits das Fundament der GAK
gelegt, die sich am Scheitel der Parabel so hervorragend bewährt hat.
Haffner registriert die gerade
erwähnten Entwicklungen durchaus (etwa S. 10 ff). Und doch meint er, das Reich
und die revolutionäre Sozialdemokratie seien eigentlich „füreinander bestimmt“
gewesen. Er würdigt die Daten des aufsteigenden Parabelasts
unzureichend, auf dem zwischen 1848 und 1871 das gesamte in der Paulskirche
aktiv gewordene Veränderungspotential zu einer Kraft mit dem einzigen
Aktionsziel der deutschen Vereinigung transformiert wurde. Das war Preußens
Werk. Preußens, aus dessen aufgeklärter Fortschrittlichkeit in demselben
Augenblick, in dem die Revolution den Kontinent erreichte, das demokratieverhindernde Zurückbleiben wurde, das den Bau des
Deutschen Reichs determinierte, welchem die Revolutionsverhütung oder ggf.
-vernichtung oblag. Der diesem Reich bei seiner Gründung entgegengebrachte
Jubel kam aus einem Milieu, in dem selbst der Geist der Paulskirche nicht
heimisch geworden war, deren ganze „revolutionäre“ Missetat doch nur im
Bündeln, Debattieren, Anreichern, Ordnen und Expedieren des Inhalts von
Petitionsstürmen bestanden hatte. Die weder vor- noch vorhergesehene
Novemberrevolution aber wurde von Soldaten und Arbeitern eingeleitet, weitergetragen und aufgenommen, von denen gesagt werden
kann: Sie haben die Revolution nicht gemacht, weil, sondern obwohl sie, soweit
irgendwie sozialdemokratisch eingebunden, entsprechend fest in diesem Milieu
verwurzelt waren. Mit diesem Befund und dem Plädoyer für Zorn statt Liebe in
Sachen Preußen/Deutsches Reich muß ich Haffner jetzt
allein lassen.
Aber werfen wir zusammen noch
einen Blick auf den absteigenden Parabelast: Die aus
der Gegenrevolution und dem anschließenden Bürgerkrieg hervorgegangene
„Republik“, in den fast neun Jahren ihrer Krisen mit dem Diktaturartikel ihrer
Verfassung regiert, stürzt in freiem Fall der maximalen Verwirklichung der in
ihr von der Gegenrevolution angelegten Möglichkeiten entgegen, den zwölf Jahren
des „Dritten Reiches“ mit seinem (keinen revolutionären Aufbruch
hervorrufenden) Regime der Demokratieverhöhnung, der Menschenverachtung, der
Menschenvernichtung, des Völkermords, der planmäßigen Herbeiführung des Zweiten
Weltkriegs, der Okkupationsverbrechen. Fremde intervenierende Siegermacht läßt dann zwei Systeme der kryptomonarchischen
Legitimation entstehen, ein restauratives und eines der Revolutionsüberholung.
Siebzig Jahre nach dem Scheitelpunkt der Parabel, genau gegenüber dem auf der
anderen Seite der Symmetrieachse gescheiterten Versuch einer deutschen
Vereinigung im Zeichen monarchischer Bewilligung, wird eine deutsche
Vereinigung Wirklichkeit, bei der die davon Betroffenen nicht einmal mehr
merken, daß ihnen eine Verfassung übergestülpt worden
ist, die die einen (aus dem Land der Revolutionsüberholung) nicht einmal kennen
können und die die anderen (aus dem Land der Restauration) unbesehen
akzeptieren, weil sie nicht wissen, daß die mit ihr
identische der „alten“ BRD in Wahrheit mit dem Ende derselben auch erloschen
ist: die eingeübte Denkungsart der monarchischen Legitimation macht's möglich.
Doch damals, 1848, steuerte das Staatsschiff noch auf den Brennpunkt Demokratie
zu; 1990 steuert es von ihm weg - wie schon seit und infolge der
Demokratieverfehlung am Scheitelpunkt der Parabel. Trotzdem: Kurskorrekturen
zum Brennpunkt hin sind eher möglich geworden, weil die antirevolutionäre
Leitlinie zum ersten Mal und zwar dadurch empfindlich geschwächt worden ist, daß das antikommunistische Panikorchester der GAK, in dem
der Juniorpartner gern die erste Geige spielen durfte, mit dem plötzlichen und
enormen Schrumpfen der vermeintlichen kommunistischen Gefahr seine wichtigsten
Partituren eingebüßt hat und kaum noch daran vorbeikommen dürfte, seine
Darbietungen ganz einzustellen. m
Sebastian
Haffner: Der Verrat. 1918/1919 - als Deutschland wurde, wie es ist. Verlag 1900
Berlin, Berlin 1993, 208 S.
Aus: Konkret
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040-8512531. Wir danken der Konkret-Redaktion für das Abdruckrecht.
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