Polens Wege
Von Holger Politt, Warschau
Damals veränderten sich Europas Grenzen. Zahlreiche Länder vor allem in der Mitte des Kontinents hatten im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Gebietsverluste oder Gebietsgewinne, einige gingen für längere Zeit in andere Staatlichkeit auf, Polen hingegen wurde als einziges Land verschoben - zweihundert bis dreihundert Kilometer nach Westen. Der Anteil jener Menschen an der Gesamtbevölkerung, die sich in einer für sie völlig fremden Umgebung niederlassen mussten, war der mit Abstand höchste unter allen Ländern Europas. Nach den Menschenopfern - jeder fünfte Bürger Polens verlor sein Leben -, dem Ausmaß der Kriegszerstörungen, von denen nur wenige Landstriche unberührt blieben, war dies die dritte schwere Hypothek aus Kriegszeiten, die aber zugleich als Herausforderung angenommen werden konnte. Auch wenn das Land politisch nach dem Krieg tief gespalten war, mussten nach dem Potsdamer Vertrag wenigstens im Westen des Landes neue Tatsachen geschaffen werden, denn auf der einen Seite stand das sich nur moralisch als Sieger empfindende Lager der Londoner Exilregierung, auf der anderen das von Moskau unterstützte neue Regierungslager in Warschau.
Das Engagement in dieser Frage
verkörperte wie kein anderer der Kommunist W³adys³aw Gomu³ka, der als Minister
für die so genannten wiedergewonnenen Gebiete um die
schnelle unwiderrufliche Einbindung der ehemaligen deutschen Gebiete in das
Staatsterritorium des neuen Polen rang. Das völkerrechtliche Hauptproblem
bestand in der Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze, der
Oder-Neiße-Grenze, durch die deutschen Nachbarn. Den krönenden Höhepunkt seines
Engagements in Sachen Grenzsicherung erlebte Gomu³ka im Dezember 1970, als
Willy Brandt im Namen der Bundesrepublik Deutschland in Warschau die
Unverletzlichkeit dieser Grenze erklärte. Es waren die letzten Tage Gomu³kas im
Amt des Ersten Sekretärs des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei
(PVAP), also des mächtigsten Mannes im Lande. Die blutige Niederschlagung
scheinbar unorganisierter, stürmischer Proteste von Werft- und Hafenarbeitern
in mehreren Küstenstädten wurden dem Manne zum politischen Verhängnis, der sich
als Arbeiterpolitiker verstand und für den die polnische Staatsräson oberstes
politisches Gut gewesen war.
Dies bekam der deutsche Kommunist
und Arbeiterpolitiker Max Reimann zu spüren, als er Anfang September 1970 im
Einverständnis mit der DDR-Führung zu einem längeren Gespräch bei Gomu³ka
weilte. Es ging fast ausschließlich um die Oder-Neiße-Grenze, die durch die DDR
bereits seit zwei Jahrzehnten anerkannt war. Man wollte wissen, wie Gomułka persönlich das Vorprellen seines Landes
gegenüber Bonn einschätzte. Reimann, der 1950 im Bundestag im Namen der KPD die
Oder-Neiße-Grenze verteidigte und sich daraufhin durch Bundeskanzler Adenauer
anhören durfte, dass eine solche Rede den Interessen Deutschlands zuwiderlaufe
und die Rednertribüne entweihe, erhielt eine Lehrstunde in polnischer Staatsräson.
Gomu³ka begründete das Interesse
Warschaus an einer schnellen vertraglichen Regelung der Oder-Neiße-Linie mit
Bonn mit dem unmissverständlichen Hinweis, dass der durch Moskau gewährte
diplomatische und politische Schutz in dieser für das Land so lebenswichtigen
Frage längst nicht mehr ausreiche. Polen habe den Entwicklungen in und zwischen
beiden deutschen Staaten Rechnung zu tragen und müsse deshalb rechtzeitig für
einen möglichst umfassenden Schutz der Grenze Sorge tragen. Da Polens
Möglichkeiten auf Bonn via Westmächte oder mit der Hilfe Moskaus und Berlins
einzuwirken eher begrenzter Natur seien, sei nur der direkte Weg offen gewesen.
Reimanns Entgegnung, die in der DDR stationierten Sowjettruppen seien doch aber
der wirkungsvollste Schutz für die Oder-Neiße-Grenze, entkräftete Gomu³ka mit
der lapidaren Bemerkung, sie werden dort nicht ewig stehen. Kurz vor seiner
Ablösung zeigte sich einer der wichtigsten Männer des sowjetischen Blocks davon
überzeugt, dass die Spaltung Deutschlands nur eine gewisse Zeitspanne lang
aufrechterhalten werden kann und dass die Uhr bereits am Ablaufen ist.
Heute wissen wir, wer Recht
gehabt hat. Die Weichenstellung Moskaus mit Edward Gierek und Erich Honecker
war der letztlich vollständig gescheiterte Versuch, Gomułkas
Litanei gegenstandslos zu machen. Polens Genossen aber lebten auch nach den Tagen
Gomu³kas in der tiefen Überzeugung, dass Moskau einst die DDR herausrücken
werde. Polens Kampf um die diplomatische und völkerrechtliche Absicherung der
Oder-Neiße-Linie war frühzeitig zu einem Wettlauf mit der Zeit geworden. So war
es 1970 und so war es 1989-1991, als die jeweils amtierenden Bundeskanzler in
einer aus polnischer Sicht ausreichenden Weise die Unantastbarkeit der
polnischen Westgrenze an Oder und Neiße erklärten.
Bei Markus Wolf („Letzte
Gespräche“, Berlin 2007, S. 206f.) findet sich folgende aufschlussreiche
Bemerkung über die Schnelligkeit, mit der die UdSSR die Ware DDR 1990 auf den
Tisch warf: „Da müsste man jetzt wahrscheinlich trennen zwischen der Politik,
wie sie ablief, und dem subjektiven Empfinden vieler sowjetischer Funktionäre,
sowohl in der Sowjetunion selbst als auch hier in der DDR. Ich kannte sehr
viele, bis in hohe Posten hinein, die sprachen von ‚unseren Deutschen', so, wie
wir von den ‚Freunden' sprachen und das sehr ehrlich und aus ganzem Herzen. Die
DDR hielt man für einen echten Verbündeten, auf sie konnte man sich verlassen.
(…) Ich hatte nie Zweifel an dieser Freundschaft. Natürlich gab es einzelne
Russen, bei denen ich sofort spürte: Aha, die Großmacht. Strukturell freilich
war die DDR für Moskau hauptsächlich eine Figur im politischen Schachspiel
gegen den Westen. Eine Figur, mit der man manövrierte. Der erlebte
Freundschaftsgedanke hat diese Wahrheit, das muss ich auch für mich sagen, weitgehend
verdrängt.“ Keine Frage also, dass Polens Genossen, die es aus historischen
Gründen mit Freundschaftsgedanken nicht so einfach halten konnten, diese
Wahrheit nie aus den Augen ließen.
Kurz vor Abschluss der
Vertragsverhandlungen zwischen Polen und der Bundesrepublik hatte Botschafter
Jan Ptasiński ein längeres Gespräch beim
sowjetischen Außenminister. Er fasste die entscheidenden Äußerungen Andrej
Gromykos so zusammen: „Bezüglich unserer Berufung auf die Potsdamer Abmachungen
verwies er auf seine Bemerkungen vom Juli (1970) auf der Beratung zwischen den
Leitungen der Auslandsressorts der UdSSR und Polens. Er sei der Auffassung,
dass die Formulierung ‚im Potsdamer Abkommen festgelegte Grenzen' Doppeldeutigkeit
bei späteren Interpretationen Deutschlands nicht ausschließe. Das Potsdamer Abkommen
habe die abschließende Anerkennung der Grenze bis zu einem Friedensabkommen
vertagt. Die seiner Meinung nach beste und verbindlichste Formulierung sei die
im Moskauer Vertrag enthaltene Feststellung ‚bestehende Grenzen’. Diese
Feststellung sei eindeutig, könne nicht alternativ ausgelegt werden. Unabhängig
davon, wie die BRD es zu interpretieren versuchen wird, der Vertrag spreche
ganz für sich. Wir könnten in diesem Falle ausdrücklich davon sprechen, dass
der Vertrag mit der BRD eigentlich ein Friedensvertrag sei. Das habe auch Bahr
bei den Moskauer Verhandlungen bestätigt. (…)". (Bd. I, S. 123)
Zwei wichtige Teilnehmer auf
polnischer Seite haben im Anschluss an die Dokumentensammlung die Bedeutung des
Vertrages zwischen der Bundesrepublik und Polen für die deutsch-polnischen
insgesamt sowie die damit einhergehenden blockinternen Feinheiten zusammengefasst.
Polens damaliger Außenminister Stefan Jędrychowski
schreibt: „Die Verhandlungen begannen 1970. Sie fanden in sechs Runden auf der
Stufe der stellvertretenden Minister statt. (...) Auf unsere Gespräche
reagierte die Sowjetunion, die Bahr nach Moskau einlud und ihm die Durchführung
parallel stattfindender Verhandlungen UdSSR-BRD vorschlug. Die Sowjetunion
orientierte auf einen schnellen positiven Abschluss der Gespräche mit der BRD,
um bei den Verhandlungen mit den übrigen Staaten des sozialistischen Blocks den
Hut aufzubehalten. Im Ergebnis fanden die Gespräche gleichzeitig statt. In
Polen traten einige Politiker, u. a. der stellvertretende Außenminister Wolniak, für eine schnelle Beendigung der Gespräche noch
vor der Sowjetunion ein. Gomu³ka hingegen drängelte nicht“ (Bd. I, S. 125).
Artur Starewicz, u. a. Anfang 1971 Leiter der ersten
polnischen Parlamentarierdelegation in der Bundesrepublik, bemerkt: „In einer
Situation, in der in Westdeutschland seit den Adenauer-Zeiten sowohl die
rechten Regierungskreise und Parteien als auch revisionistische Organisationen
unablässig territoriale Forderungen an Polen richteten, hielt Gomu³ka es für
notwendig, dass Polen in der Frage der Oder-Neiße-Grenze ein eigenes Abkommen
mit der BRD haben müsse, befürchtete er doch, dass die sowjetischen Garantien
unter bestimmten Bedingungen (z. B. deutsche Einheit) an Bedeutung verlören.
Wie bekannt, spielten erst die 4+2-Verhandlungen (Paris, August 1990) zum
Zeitpunkt der deutschen Vereinigung die Rolle einer Friedenskonferenz und
bestätigte endgültig die Westgrenze Polens. Es lohnt, daran zu erinnern, dass
Polens größter historischer Sieg, die Westverschiebung des Landes um einige
Hunderte Kilometer bis etwa zu den Grenzen der ersten Piasten,
von den Siegermächten als eine Art Ausgleich für die gewaltigen Kriegsschäden
und den Verlust der Ostterritorien an die UdSSR gesehen wurde. Auf der
Potsdamer Konferenz gab die entschiedene Haltung der Sowjetunion gegenüber
bestimmten Bedenken bei den Westmächten den Ausschlag über die endgültige
Gestalt unserer Westgrenze. In derselben Zeit erklärte der damalige
Ministerpräsident der Londoner Exilregierung, Tomasz Arciszewski, Polen wolle weder Breslau noch Stettin“ (Bd.
I, S. 127).
Wie gut zu sehen ist, verlor die
Führungsmannschaft der Volksrepublik Polen trotz der weitgehend vorbehaltlosen
Bejahung der Westverschiebung, die als eine Art wichtiger zivilisatorischer
Sprung und als gerechter Ausgleich verstanden wurde, niemals die Sorge aus dem
Auge, dass sich die von Polen nicht zu beeinflussenden wichtigen äußeren
Bedingungen in dieser Frage urplötzlich ändern könnten. Aus heutiger
Perspektive wäre hinzuzufügen, dass ihr in dieser so heiklen Frage kaum Fehler
unterlaufen sind.
Davon gibt auch der zweite Band
gutes Zeugnis: Gespräche Jaruzelskis im Zeitraum der sich abzeichnenden
Veränderungen bei Polens westlichen Nachbarn mit deutschen Spitzenpolitikern
aus Ost und West. Von besonderem Wert ist das Schlusswort „Historischer Bogen“,
welches Jaruzelski im Herbst 2006 in Zusammenfassung dieses Bandes und zugleich
seiner langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet der deutsch-polnischen
Beziehungen schrieb. Er endet mit folgendem Ausblick: „Die umwälzenden Vorgänge
der Jahre 1988-1990 verliefen auch weiterhin unter den Bedingungen eines
geteilten Europas, einer geteilten Welt und mit allen daraus entspringenden
Hindernissen und Gefahren. Wir standen bei diesen Ereignissen an vorderster
Linie. Wir kamen da unverwundet heraus. Das war eine große Lehrstunde in Sachen
Geschichte, Politik, Diplomatie. Heute leben wir in einer völlig
gegensätzlichen Situation. Die Einbindung in NATO und EU stellt eine
beispiellose Chance dar. Aber die Nachbarschaft bleibt. Es kommt darauf an, in
dieser viel günstigeren Situation die Politik von historischen Lasten
freizuhalten. Nach vorne schauen. Das betrifft übrigens die Beziehungen zu allen
Nachbarn.“ (Bd. II, S 120).
Jaruzelski sei auch das Wort
gegeben zur Einordnung des 1950 zwischen der DDR und Polen abgeschlossenen
Vertrages von Zgorzelec in die Gesamtheit der
deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Kriege: „Aber diese Beziehungen hatten
ihre spezifische Eigenart. Diese wurde im großen Maße durch die Frage der
Oder-Neiße-Grenze bestimmt. Das war das entscheidende Kriterium für die
polnische Politik. Sie berührte auch die politische Nähe zu unserem
unmittelbaren westlichen Nachbarn. Ich weiß, dass selbst diejenigen, die einst
den deutschen Genossen politische Komplimente machten und mit ihnen Brüderküsse
tauschten, heute nur noch schlecht über die DDR reden. Natürlich nicht ganz
ohne Grund. Und doch gebietet die für Polen so lebenswichtige Grenzfrage es,
auch die andere Seite der Medaille zu sehen. Die Regierenden der DDR übernahmen
eine für die Deutschen ungewöhnlich schwierige und schmerzhafte Entscheidung.
Denn schließlich wurde der Vertrag von Zgorzelec 1950
unterzeichnet, also 20 Jahre vor dem Dezember 1970.“ (Bd. II, S. 105f.).
* Das Gespräch
zwischen Władysław Gomuka und Max Reimann wurde
dokumentiert durch Mieczysław F. Rakowski, Dzienniki Polityczne 1958-1990
[Politische Tagebücher 1958-1990]. W-wa 1998-2005.