Deutsch-Polnische Schulbuchempfehlungen

 

Von Udo Kühn

 

In der kontinuierlichen Nutzung der neuen deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Warschauer Vertrag [1970] stehen die gemeinsamen Bemühungen um eine Revision des Inhalts der deutschen sowie der polnischen Schulbücher wohl an der Spitze. „Die 1972 gegründete Gemeinsame UNESCO-Schulbuchkommission der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen war ein Kind der Entspannungsära...“  [Włodzimierz Borodziej]1. Seit Februar 1972 wurden insgesamt 30 gemeinsame Konferenzen von deutschen und polnischen Historikern abwechselnd in Deutschland bzw. Polen durchgeführt. Seit Mitte der 90er Jahre werden neue Themen in Form von Lehrerhandreichungen erarbeitet.

 

Am 19. Oktober 2005 fand in der Landesvertretung des Landes Brandenburg beim Bund ein deutsch-polnisches Symposium zum Thema „Ist gemeinsame Erinnerung möglich? Polen und Deutschland 60 Jahre nach der Potsdamer Konferenz“ statt. Aus der inzwischen erschienenen Dokumentation2 zu den Schulbuchempfehlungen: „An den Texten hat sich ein heftiger Streit zwischen den deutschen und den polnischen Historikern entzündet. Diese Debatte zu den 1976 verabschiedeten ‚Empfehlungen für die Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen'3 war jedoch sehr produktiv. Denn all das trug wesentlich zu einer neuen Einstellung zu Polen bei, die heute kritische und faire Diskussionen ermöglicht. Wir sehen also, wie wichtig für den deutsch-polnischen Dialog solche Initiativen gewesen sind.“ (Christoph Kleßmann).

Wenn ich so die Diskussionsbeiträge des Symposiums studiere, habe ich allerdings den Eindruck, dass heutzutage bei den „neuesten“ deutsch-polnischen Beziehungen die Sowjetunion zum „Prügelknaben“ herhalten muss.

Die Schulbuchempfehlungen von 1976 wurden in der politischen Szene der siebziger Jahre heiß diskutiert, was sogar zu sogenannten „Alternativ-Empfehlungen zur Behandlung der deutsch-polnischen Geschichte in Schulbüchern“ (Josef Joachim Menzel u.a.) im Jahre 1979 führte, kräftig unterstützt durch die CDU4. Den ganzen damaligen „Hickhack“ um die Schulbuchempfehlungen im Einzelnen zu dokumentieren, würde den Rahmen meines Beitrags sprengen.

Mit bahnbrechend war das Büchlein einer Berliner Arbeitsgruppe, herausgegeben von Günter Berndt und Reinhard Strecker:: „Polen - ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen; Geschichtsschreibung und Schulbücher; Beiträge zum Polenbild der Deutschen“ (ROWOHLT-Taschenbuch Nr. 1500, Hamburg 1971).

Treibende Kraft bei diesen deutsch-polnischen Verständigungsbemühungen war immer das Internationale Schulbuchinstitut (seit 1975 Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung / im Internet unter: www.gei.de) in Braunschweig, gemeinsam mit seinen polnischen Partnern.

Bei einer meiner Standortrecherchen am 30. April 1976 in Braunschweig hatte das Institut einen Bestand von ca. 125.000 Bänden, überwiegend Schulbücher. Polnische Schul- und Lehrbücher waren mit insgesamt 1200 Titeln vertreten. Solch eine umfassende Einrichtung gab es damals vergleichsweise nur noch in Tokio und Delhi.

Zur Umsetzung dieser Schulbuchempfehlungen von 1976 engagierten sich viele fortschrittliche Kräfte, zum Beispiel auch die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland: So fand am 28./29. Februar 1980 zusammen mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bielefeld und der Stadt Bielefeld ein gut besuchtes Symposium, eine Bestandsaufnahme zu „10 Jahre Warschauer Vertrag“ statt. Einer der vier Arbeitskreise beschäftigte sich mit den Schulbuchempfehlungen. Auch beim Zweiten Mitgliedergespräch der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD vom 1. bis 3. Juni 1984 in der Heimvolkshochschule Heinrich Hansen in Lage-Hörste zum Thema „POLEN und wir“ hatte u.a. eine Arbeitsgruppe den Titel „Schulbuchempfehlungen - und wie geht es weiter?“.

1983 wurde eine Broschüre von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD, gemeinsam herausgegeben mit dem Hessischen Jugendring, der GEW Hessen und der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste unter anderem zum Thema Schulbuchempfehlungen mit dem Titel „Schritte zur deutsch-polnischen Verständigung“ (siehe Titelblatt im Faksimile).

Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung führte bereits 1977 eine Konferenz zusammen mit dem Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten in Bonn durch5.

„Die deutschsprachige Fassung der ‚Empfehlungen' [von 1976] erreichte bis Anfang der 90er Jahre eine Gesamtauflage von ca. 300.000 Exemplaren, die polnische blieb auf einige Tausend begrenzt"1 (S.12). Allerdings handelte es sich nur um ein dünnes Heft, das in sehr komprimierter Form, beginnend mit den „Slawen und Germanen im Altertum und frühen Mittelalter“, auch heute noch sehr aussagekräftig ist. Lediglich das Kapitel „Geographie“ ist meines Erachtens änderungs- und ergänzungsbedürftig.

Die neu erarbeitete Lehrerhandreichung1 ist mit über 400 Seiten (nur deutschsprachig) völlig anders konzipiert und behandelt lediglich das Zwanzigste Jahrhundert. Was fehlt, sind eine Darstellung bzw. Materialien zu den letzten 30 Jahren dieses Jahrhunderts mit seiner sehr positiven Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses, besonders im gegenseitigen Kulturaustausch der Städtepartnerschaften und last not least der immensen Detailarbeit der Deutsch-Polnischen Gesellschaften.

Gerade diese positive Entwicklung wäre interessant für Lehrer und Schüler und vielleicht anregend für eigene Initiativen, denn bekanntlich haben oft polnische Schulen Probleme, deutsche Partner für einen Schüleraustausch zu finden. Zum Beispiel: „35 Prozent der polnischen Gymnasiasten lernen Deutsch. 200 Städtepartnerschaften schaffen Begegnungen auf örtlicher Ebene. Aber rund 200 polnische Schulen suchen noch immer Kontakte in Deutschland - ohne Erfolg.“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 9. Oktober 1997). Immerhin wurde wenigstens bei der „Didaktischen Einführung“ festgehalten: “Die kulturellen, vor allem die wissenschaftlichen Beziehungen kamen in den siebziger Jahren zu kraftvoller Blüte“1 (S.25).

Andrerseits ist das Postulat, „das gesamte Vertragswerk zwischen Deutschland und Polen mit Leben zu erfüllen“1 (S.100) ein „alter Hut“, denn bereits 1972 wurde dies mit den „Göttinger Gesprächen“ angegangen: „Diese Göttinger Gespräche gehen auf eine deutsche Bürgerinitiative zurück. Nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages vom 7. Dezember 1970 fand sich eine Handvoll Personen ohne wichtiges Amt und Mandat zusammen, um Möglichkeiten zu finden, diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen, praktische Normalisierung zu betreiben. Initiator war der hannoversche Regierungsdirektor Hans Beske, ein Mann, der schon lange durch Reden, Schriften und Taten Deutsche und Polen zu versöhnen sucht - und den deshalb mancher anfeindete.“ (Dietrich Möller in DIE ZEIT vom 20. Oktober 1972).

Die vorliegende Lehrerhandreichung bietet eine Fülle von Materialien zum Unterricht, durchnummeriert von M 1 bis M 205, eine wirklich kompetente Sammlung, beinahe zuviel für den „normalen“ Lehrer und seine Schüler. Es fällt dabei auf, dass einer der Schwerpunkte auf die Themen „Flucht und Vertreibung“ gelegt wurde, denn von den insgesamt 205 Anschauungsmaterialien befassen sich ca. 20 % damit. Dagegen fehlt der Hinweis, dass sich heutzutage in fast allen westdeutschen Ortschaften und Städten eine Danziger- oder Breslauer-Straße (Platz, Ring etc.) befindet. Dazu braucht man aber nur das Postleitzahlenbuch aufzuschlagen.

Dagegen wird man von Literaturverweise gerade zu überschwemmt. Literaturhinweise dienen ja eigentlich der Vollständigkeit, wobei „Wichtiges“ in den Materialien auszugsweise zitiert wird. So weit, so gut, aber warum ausgerechnet Kurt Lück, ein sehr produktiver „Volkstumskämpfer und Forscher“ der dreißiger und vierziger Jahre zu Wort kommen muss (M 168 und M 182), verwundert mich etwas; hat er doch beispielsweise 1940 ein Buch mit dem Titel „Die Cholmer und Lubliner Deutschen kehren heim ins Vaterland“ herausgebracht, mit einem Geleitwort des Generalgouverneurs Dr. Frank und des Gauleiters und Reichsstatthalters Arthur Greiser. Daraus wurde aber nichts zitiert.

Das Thema „Ost- bzw. Westforschung“ wird zwar behandelt, aber nur die Tätigkeit des Westinstituts in Posen (Instytut Zachodni) erwähnt (M 183 und M 184). Das Johann Gottfried Herder-Institut in Marburg mit seiner „Ostforschung“ und die Aktivitäten des „Göttinger Arbeitskreises“ bleiben ausgeklammert. Gerade über letzteres wären Informationen interessant gewesen, dabei wird aus deren umstrittenen Publikationen (M 105 und M 106) ausführlich zitiert. Von Helga Hirsch erscheint hier ein ausführlicher Beitrag (M 200) „über Deutschland in der polnischen Presse“, das Gegenstück „über Polen in der deutschen Presse“ vermisse ich.

Der letzte Materialbeitrag (M 205) befasst sich mit „Deutschland und Polen im Spiegel von Briefmarken“. Hierzu folgendes: 1970 erschien im Wissen Verlag in Stuttgart eine Enzyklopädie für den Briefmarkensammler, das Heft 24 wurde polnischen Briefmarken gewidmet. Einmal davon abgesehen, dass der geschichtliche Begleittext zu wünschen übrig lässt, ist darin interessanterweise zu einer Briefmarkenwiedergabe erwähnt: „Polen als deutsches Generalgouvernement; Dienstmarke aus dem Jahre 1940: Das Generalgouvernement ist ein abgeschlossenes deutsches Briefmarken-Sammelgebiet und weist 125 Sondermarken, sowie Dienst- und Zustellmarken auf.“ Soweit als Ergänzung zur Lehrerhandreichung. Übrigens hat mir Dr. Jozef Konieczny, Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Instytut Zachodni in Poznań im September 1973 dankenswerterweise eine kritische Bearbeitung des Begleittextes zum Briefmarkenheft erstellt, die bei einem Wochenendseminar der Volkshochschule Wiesbaden zur Verwendung kam.

In einem Bericht über die 20. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz vom 1.-6. Juni 1987 in Posen  stellte Thomas Volker fest: „Schon jetzt ist 'überdeutlich' (...), daß sich die Lehrbücher in beiden Staaten gegenüber der Ausgangslage von 1972 erheblich verändert haben: die Textanteile der jeweils anderen Nationalgeschichte sind umfangreicher, die Darstellung anspruchsvoller geworden.“ Und er zitiert Wolfgang Jacobmeyer vom Georg-Eckert-Institut: „Insofern hat es in der gegenwärtigen Situation wenig Sinn, mit dem Unterton eines politischen Vorwurfs die ‘Umsetzung’ der Empfehlungen zu fordern’ (...) Sie seien heute schon zu einem ‘historischen Text’ geworden.“. wie auch Professor Dr. Władysław Markiewicz, den Vorsitzenden der Kommission auf polnischer Seite: „Wir können nicht verstehen, warum die Kultusministerkonferenz die Unterstützung der Arbeit der Schulbuchkommission verweigert.“

Am 14. Dezember 1976 schrieb mir Professor Dr. Walter Mertineit, Vorsitzender der Schulbuchkommission auf deutscher Seite: „...Zur Zeit bläst uns innenpolitisch der Wind ein wenig ins Gesicht, aber wir sind überzeugt, daß die Empfehlungen ihr Eigenleben gewinnen werden und im übrigen die Zeit ihnen Recht geben...“ Er ist viel zu früh im Jahre 1987 gestorben, aber die Zeit hat ihm tatsächlich Recht gegeben

 

1 Ursula A.J. Becher; Wlodzimierz Borodziej; Robert Maier (Hrsg.): Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert; Analysen - Quellen - didaktische Hinweise; Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2001; Studien zur Internationalen Schulbuchforschung; Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts; Band 82/C; 432 S.

2 Basil Kerski und Zdzislaw Owczarek (Hrsg.): Ist gemeinsame Erinnerung möglich? 60 Jahre nach der Potsdamer Konferenz; Berlin 2005; 216 S.; in deutscher und polnischer Sprache; kostenlos erhältlich über das Polnische Institut Berlin, Burgstraße 27, 10178 Berlin

3 Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission: Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen; Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung; 22. Bd.; Braunschweig 1977; 56 S.; in deutscher und polnischer Sprache

4 CDU-Landesverband Hessen (Hrsg.): Verständigung durch Wahrheit; Die Alternativ-Empfehlungen zur Behandlung der deutsch-polnischen Geschichte in den Schulbüchern; "Gelbe Reihe der CDU Hessen", Nr. 15, Februar 1979; 31 S.

5 Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die Schulbuchempfehlungen im Prozeß der Normalisierung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Eine Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten in Bonn vom 28. bis 30. November 1977 Bonn; 1978