Woodstock an der Oder

An der deutsch-polnischen Grenze findet das größte Rockfestival Polens und eines der größten in Europa überhaupt statt

 

Von Katrin Schröder

 

Wenn er pfeift, fällt keine Klappe, sondern es geht die Post ab: Roman Polański ist Bahnhofsvorsteher von Zary (Sorau). Zu seinen Pflichten gehört es Jahr für Jahr, eine ganz besondere Haltestelle zu eröffnen: die „Haltestelle Woodstock“, das größte Rockfestival Polens. Jährlich treffen sich in der Nähe der deutsch-polnischen Grenzstadt Kostrzyn (Küstrin) rund 300.000 Rockfans unter dem Motto „Liebe, Freundschaft, Musik“. Doch dieses Jahr könnte es vorerst das letzte Mal gewesen sein. Finanzielle Probleme machen den Veranstaltern des kostenlosen und nicht-kommerziellen Festivals zu schaffen.

 

Der 26-Jährige hat kürzlich den ersten polnischen Energie-Fan-Club gegründet. Rund 80 Polen aus seiner Heimatstadt und aus dem nahe gelegenen Zielona Góra sind bereits Mitglied und reisen regelmäßig zu Bundesliga-Spielen nach Cottbus - wenn die Bayern in der Lausitz spielen, können es auch schon einmal 120 sein. Die Eintrittskarten und die nötigen Reisebusse organisiert Bartczak, genau wie die polnische Fan-Seite im Internet. „Ich bin eben ein Mädchen für alles“, sagt er schlicht.

Die Idee, einen polnischen Fan-Club des Lausitzer Vereins zu gründen, ist auch aus der Not geboren: Um ein Erstliga-Spiel in Polen zu sehen, müssen Fußballfans aus dem Grenzgebiet zu Brandenburg gut 100 Kilometer weit fahren - entweder nach Posen zum Erstligisten Lech Pozna oder in Richtung Niederschlesien zu Zagłębie Lubin. Lechia - der eigentliche Regionalverein aus Zielona Góra dümpelt schon länger in der dritten Liga: „Und da macht Fußball nun wirklich keinen Spaß mehr“, sagt Jakub Bartczak. Im 40 Kilometer entfernten Cottbus hingegen hat er die Möglichkeit, polnische Spielergrößen wie Mariusz Kukielka oder Jungstar Tomasz Bandrowski live zu sehen - beide sind im Gespräch für die polnische Nationalmannschaft.

Doch das allein ist nicht der Grund: Mit Jakub Bartczak wächst eine Generation im polnischen Grenzgebiet heran, für die es zusehends normaler wird, sich als Bewohner einer Region zu verstehen und am Wochenende per Satellit eben auch die deutsche Bundesliga vom Sofa aus zu verfolgen. Jakub Bartczak besuchte eine deutsche Schule in der brandenburgischen Nachbarstadt Guben, studierte an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) Jura. Er spricht fließend Deutsch - ebenso wie sein Bruder Barlomiej, ebenfalls Cottbus-Fan. Der 28-Jährige hat den selben Ausbildungsweg hinter sich, kickte zu Schulzeiten im Fußballverein der deutschen Nachbarstadt und ist seit einem halben Jahr Bürgermeister von Gubin - nicht zuletzt wegen seiner Kontakte ins Nachbarland.

Dass im vergangenen Sommer die Bartczak-Brüder den Kontakt zum FC Energie suchten, kam dem Verein laut Robert Förster, Energie-Betreuer des polnischen Fanprojekts, sehr gelegen: „Fans stehen wie eine Wand hinter dem Verein.“ Und die begann in Cottbus schon vor langer Zeit zu bröckeln. Dass immer mehr Lausitzer ihrer Region den Rücken kehren, bekommt auch der Verein zu spüren: „Mittlerweile haben wir Energie-Fans im gesamten Bundesgebiet“, sagt Förster. Natürlich sei das schön, gerade bei Auswärtsspielen unterstützt zu werden: „Doch eigentlich brauchen wir die hier.“ Die polnischen Fans sollen nun die Reihen wieder füllen, und erhalten dafür vergünstigten Eintritt. Und noch mehr: „Wir hoffen mit den neuen Fans auch polnische Sponsoren zu gewinnen“, erklärt Robert Förster die Geschäftsidee. Auch einen Fanshop im Nachbarland zu eröffnen, sei da nur noch eine Frage der Zeit.

Vor den Spielen muss Jakub Bartczek jeweils Namen, Adressen und Identifikationsnummern des polnischen Ausweise der anreisenden Fans nach Cottbus schicken: „Zur Sicherheit“, sagt Bartczack, „sollten polnische Fans randalieren, kann die Polizei sie sofort identifizieren.“ Er lacht: Weder er noch die anderen Fans sehen so aus, wie die, vor deren Invasion in Deutschland bereits zur Weltmeisterschaft gewarnt wurde. Viele tragen zum Spiel Anzug und Lackschuhe, arbeiten wie er in den Stadtverwaltungen jenseits der Grenze oder haben eigene Geschäfte. Deshalb stören ihn auch die Vorbehalte, die ihm gelegentlich von deutschen Fans im Blog der offiziellen Energie-Internetseite entgegenschlagen. „Die Lausitz endet doch nicht in Deutschland. Aber einige haben das immer noch nicht begriffen.“                            

Die ersten Besucher kamen in diesem Jahr schon zehn Tage vor dem Festivalstart aus der Nähe von Krakau angereist und kampieren seitdem auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Kostrzyn. Als das Festival am Freitag offiziell startete, standen dort bereits Tausende von Zelten. Seit 1995 gibt es die „Haltestelle Woodstock“, seit 2004 findet sie an der deutsch-polnischen Grenze statt, folglich sind unter den Besuchern zahlreiche Deutsche. Auf der Bühne, einer der größten Festivalbühnen Europas, standen in diesem Jahr an zwei Tagen mehr als 40 Bands, unter anderem die US-Rocker von „Type o Negative“ und die Kieler Formation „Smoke Blow“. In jedem Jahr stehen Nachwuchsbands Schlange, um dabei zu sein: Bei den Veranstaltern gingen mehr als 800 Bewerbungen von Musikgruppen ein, darunter 120 aus Deutschland. Musiker aus dem Nachbarland sind regelmäßig dabei, mehrmals spielten hier zum Beispiel die Toten Hosen. Die sorgten allerdings 2005 für einen Eklat, als einer ihrer Tontechniker nicht nur die Zuschauer im Internet abklemmte, sondern die Aufzeichnung für die Dokumentation zum Festival unterbrach.

Der Verkauf von DVD ist eine wichtige Einnahmequelle für die Veranstaltung, die keinen Złoty Eintritt kostet. Ursprünglich war die „Haltestelle Woodstock“ als Dankeschönfete für die Helfer des Großen Orchesters der Weihnachtshilfe (Wielka Orkiestra świątecznej Pomocy, WOSP) gedacht. So nennt sich eine Stiftung, die seit 1993 mit jeweils einer großen Aktion zu Jahresanfang Spenden sammelt für die Ausstattung von Kinderkrankenhäusern. Zum großen Finale, das immer am zweiten Januarsonntag des Jahres abgehalten wird, finden zahlreiche Konzerte, Feste und Auktionen im ganzen Land statt. Das Spektakel, das mit Bildern von Herzen, Sonnenblumen und Engelsfiguren hippieesk und bunt aufgemacht ist, wird live im Fernsehen übertragen, Tausende ehrenamtliche Helfer gehen mit der Spendenbüchse auf den Straßen, sammeln und verteilen dafür herzförmige Aufkleber.

Und die Spendendosen werden voll: Beim 15. Finale am 14. Januar 2007 kamen rund 9,35 Millionen US-Dollar zusammen - nicht nur in Polen, sondern zum Beispiel auch in den Hochburgen der Polonia in den USA. Gesammelt wird jeweils für einen bestimmten Zweck - in diesem Jahr für die Unfallrettung von Kindern und für Unterricht in Erster Hilfe. Insgesamt rund 72 Millionen US-Dollar hat die Stiftung nach eigenen Angaben bisher in die medizinische Ausrüstung von 650 Krankenhäusern in ganz Polen investiert.

Dabei genießt die Stiftung ein Vertrauen, von dem andere Institutionen in Polen vermutlich nur träumen können. Das liegt zum einen an der Transparenz: Über jeden Złoty, betont die Stiftung, werde Rechenschaft abgelegt. Die Finanzberichte sind im Internet einsehbar. Zum anderen hat es auch mit der Person des Machers zu tun. Jerzy Owsiak, der Vater von WOSP, ist Radio- und Fernsehmacher, Aktivist und die Seele des Unternehmens „Woodstock“. Am Ende jedes Festivals hat sich der Mann mit der runden Brille und der Glatze heiser geschrieen, doch die Fans lieben ihn. „Wenn er wollte, dass jemand in den Sejm gewählt würde, dann würden die Leute denjenigen dorthin tragen“, sagt zum Beispiel „Woodstock“-Fan Gregor Piotrowski aus Leknica.

Für Ordnung auf dem Festival sorgt eine rund 1000-köpfige Freiwilligentruppe - die so genannte Friedenspatrouille (Pokojowy  Patrol). Das Konzept geht auf: Die „Haltestelle Woodstock“ gilt als ausgesprochen friedlich und sicher. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass außer Bier kein Alkohol ausgeschenkt wird. Schwierig dürfte es eher von einer anderen Warte her werden. Mittlerweile ist die Veranstaltung so groß geworden, dass Organisator Owsiak öffentlich darüber nachdenkt, dass das diesjährige „Woodstock“ das letzte dieser Größenordnung gewesen sein könnte. Knackpunkt sind die Kosten: Fast zwei Millionen Z³oty (über 500.000 Euro) verschlingt jede Ausgabe des Mammutfestivals. „Es darf der Stiftung keine Verluste bereiten“, sagte Owsiak Zeitungsberichten zufolge. Deshalb denke man über eine veränderte, kleinere Version des Festivals nach - auch wenn er sich noch nicht definitiv entschieden habe.