Dokumentation III

Die Schuld der ach so Gebildeten

 

Jahrelang stellte unsere Intelligenz Polen als Land des Elends, der Verarmung und der immer stärker werdenden gesellschaftlichen Kontraste und Wirtschaftsaffären dar. So ebneten sie den Populisten aus PiS und Samoobrona den Weg zur Macht.

 

Janusz A. Majcherek*

 

Die „Gebildeten“, die der heutzutage regierenden Politriege überdrüssig sind, scheinen selbst mitverantwortlich für deren Machtübernahme zu sein. Viele Jahre stellten gerade sie die Systemumwandlung als eine Aneinanderreihung von Niederlagen, und die Situation in Polen - als eine furchtbare und unerträgliche dar. So haben sie folglich das, was sie vielleicht nicht wollten, aber was sie selbst möglich gemacht haben.

Der Mythos der großen Krise

Das Wort Krise verschwand in den vergangenen Jahren nicht aus der politischen Debatte. Man benutzte es zur Bezeichnung der Situation in jedem Bereich - vom Wohnungsbau, über die Landwirtschaft und Schiffswerft bis zur Filmindustrie - sowie allgemein bis zur Beschreibung der Regierungssituation im ganzen Land.

Unterdessen wuchs (…) das Bruttoinlandsprodukt seit 1992 ununterbrochen. Nie seit der Rezession von 1990-91 (die sich in allen postkommunistischen Ländern zeigte und überall länger als in Polen dauerte) gab es bei uns eine Krise, d.h. einen Rückgang. Im schlimmsten Jahr, dem Jahr 2001, betrug der Zuwachs lediglich ein Prozent, aber dennoch war es ein Anstieg, wohingegen andere Länder wirklich eine echte Finanz-, Haushalts-, Produktions- und Handelskrise erlebten. Man kann den Eindruck haben, dass in Polen so leicht über die Krise gesprochen wurde, weil man sie nicht kannte und man wusste nicht, wie sie wirklich in Argentinien, Albanien, Russland oder sogar Ungarn aussah.

Der Rückgang der Kohleförderung, der Stahlproduktion oder des Kartoffelverbrauchs zeugt nicht von einer Krise, sondern von einer Modernisierung der Wirtschaft und der Lebensmuster. Die Wertschöpfung in anderen, moderneren Bereichen kompensiert den Bedeutungsrückgang von traditionellen und veralteten Branchen mit Zinseszins. Dies zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, fällt den Bergleuten, Hüttenarbeitern, den Bauern und Handwerkern sowie den Kleinhändlern schwer.

Falls aber die Krise den polnischen Film wirklich erreicht hat, dann ist sie darauf zurückzuführen, dass unsere Filmemacher nichts Interessantes über eine sich verwandelnde Wirklichkeit zu sagen haben; u. a. aus dem Grund, dass sie in unwahren stereotypen Interpretationsschemata stecken geblieben sind.

Der Mythos der Massenarmut

Eine bedeutend größere Karriere als das Wort Krise machte in der öffentlichen Debatte die Formulierung über „die allgemeine Armut der Gesellschaft“ (in der Version der Gebildeten - über „die allgemeine Verelendung“). Es diente als Schlüssel für die Erklärung für alle, sogar meist komplizierten, Phänomene und Gesellschaftsprozesse - vom Zuwachs der Kleinkriminalität über die Verringerung der Presseauflagen, bis hin zum Rückgang der Geburtenzahl (Die Absurdität dieser Interpretation ist besonders offensichtlich beim letzten Beispiel, weil die Anzahl der Kinder gerade in ärmeren Familien höher ist).

Manchmal ergab sich die Benutzung des Slogans „allgemeine Verelendung“ aus dem Gefühl heraus, dass es in einem Land, das ein stetiges und relativ hohes Wirtschaftswachstum verzeichnet, schwer fällt, über eine Krise zu reden. Dieser Slogan spiegelte eine hartnäckig aufrecht erhaltene Überzeugung wider, dass sich dieser Zuwachs nicht auf den Lebensstandard der Bürger überträgt - so als ob ihn Heinzelmännchen konsumiert hätten.

Gleichzeitig wuchsen das reale Einkommen der Bevölkerung und der individuelle Verbrauch ununterbrochen seit 1994 im gleichmäßigeren Tempo als das Bruttoinlandsprodukt (ca. 3 Prozent). Das bedeutet, dass sich sogar in Zeiten einer schwachen Konjunktur die Situation der Polen ständig verbesserte.

Der Mythos der immer stärker werdenden Ungleichheit

Der Hauptvorwurf bezüglich der herrschenden Situation in Polen war die gesellschaftliche Separierung. „Die allgemeine Verarmung“ hatte also zu bedeuten, dass sich zwar Manche (in der radikalen Version: wenige) bereichern, aber die breite Masse verarmt (in der primitiveren Version: die ersten bereichern sich auf Kosten der zweiten).

Der Richtwert über die Einkommensspreizung - d.h. der Gini-Index - zeigt mittlerweile, dass Polen vom Durchschnitt der OECD-Länder nicht abweicht und dass dieser, d.h. der Gini-Index, kleiner als in England oder in Italien ist, ganz zu schweigen von dem in der USA oder anderen postkommunistischen Ländern (Litauen, Estland), aber auch ganz zu schweigen von dem in Russland und der Ukraine. Das Bild Polens als ein Land der gravierenden Unterschiede und der schreienden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist grob übertrieben.

Das sieht man sehr gut am Beispiel der Pensionäre und Invalidenrentner. In den letzten Jahren galten Pensionäre und Invalidenrentner in der Öffentlichkeit als besondere, schwache und behinderte Opfer der Transformation und der herzlosen Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik.

Das verfügbare Einkommen für einen Rentner war während der letzten Jahre höher als für einen Arbeitstätigen, aber wiederum weniger als das Einkommen eines Privatunternehmers. Anders gesagt; es lebte sich besser von der Rente als von der Arbeit. Versuchet das den Rentnern zu vermitteln! Und doch gehören sie zu den Jüngsten in Europa und viele von denen verdienen dazu, nicht immer offiziell registriert.

Was die Invalidenrentner betrifft, so begann man erst kürzlich und mit Bestürzung zu schreiben, dass wir in Europa diese am meisten haben - zwei mal mehr als im sehr reichen Norwegen (bezogen auf die Einwohnerzahl). In Polen, im Land der ungezählten Rentenprivilegien, machte man aus den Pensionären und Invalidenrentnern Opfer der Umwandlung.

Der Mythos der Affären

Unabhängig vom Entwicklungsstand oder vom Lebensstandard sollen angeblich Affären, Missbrauch, Veruntreuung und Korruptionsbeziehungen die Situation in Polen in den letzten Jahren gestaltet haben. Reich oder arm - das Leben in Polen war angeblich unredlich und ungerecht. So ein Polenbild propagierten auch die Meinungsmacher. Die Medien spielten dabei eine besonders aktive Rolle, und die Journalisten wetteiferten um die Aufdeckung der Affären und deren Betrüger. Normale Geschäfts-Praktiken wurden auf eine Liste der angeblichen Affären eingetragen, und auf der Liste der Betrüger fanden sich diejenigen, die es schnell zu einem finanziellen Erfolg gebracht hatten.

Polen wird seit fast zwei Jahren von einer Politriege regiert, die sich die Affärenverfolgung und Affärenabrechnung zur Aufgabe gemacht hat. Seit einem Jahr gibt es das Zentralbüro für Antikorruption [CBA - s. a. „Der Weg von der III. zur IV: Republik“ in dieser Ausgabe]. Es ist also an der Zeit zu fragen, wo sind diese Affären. Entdeckte man denn mit Hilfe des besagten Antikorruptionsbüros solche Skandale, die vergleichbar wären mit der Privatisierung von Leuna in der damaligen DDR, von der „kreativen Buchführung“ des Konzerns Euron, Veruntreuungen im Umfeld von J. Chirac oder Tony Blair zu schweigen? Und es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Deutschland, die USA, Frankreich und England als nicht allzu korrumpierte Länder gelten. Was, außer den kleinen Bestechungsgeldern in Arztkreisen und der Absicht, Bestechungsgelder für die Überlassung von 35 ha Land anzunehmen, enthüllte CBA und das, obwohl es Geheimdienstmethoden anwenden darf und über ein nicht allzu kleines Budget und eifrige Funktionäre verfügt?

Wenn nun nach 3 Jahren Haft von Marek Dochnal, der belastendes Material über bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der III. Republik beschaffen sollte, Bemühungen angestellt werden, eine Untersuchungskommission zu initiieren, die erst solch ein Material suchen muss, so bedeutet das, dass die Staatsanwaltschaft nichts hat, was den Mythos über die angebliche Korruption in höchsten Kreisen der vorherigen Regierung bestätigen würde. Die Einstellung der Untersuchung, die aufgrund von irgendeiner  Klatschgeschichte über die mutmaßliche Aneignung irgendwelcher Pelzwaren durch Präsident Kwaśniewski aufgenommen wurde, war dessen kläglicher Ausdruck.

Die größten Skandale der letzten Jahre - Arbeit gegen Sex bei Samoobrona oder die finanzielle Veruntreuung bei LPR - sind Affären, die bereits innerhalb des gegenwärtigen Machtspektrums stattfanden und sie wurden nicht durch CBA, CBœ und ABW enthüllt. Wie Jan Rokita [Mitglied der konservativen, aber oppositionellen PO - d. Red.] letztens richtig bemerkte, überstieg die Anzahl der Skandale der gegenwärtigen Machtlager bedeutend den Umfang der Schandtaten der SLD. Hätten sich damals solche Affären zugetragen, hätten sie einen großen Tumult ausgelöst.

Die Stimme der Eliten und die Stimme Leppers

Die Wahrheit über die polnische Transformation ist unkompliziert und einfach zu verstehen. Eine grundlegende Änderung des politischen und wirtschaftlichen Systems musste zu einer Erschütterung der gesellschaftlichen Struktur und Hierarchie führen, was viele Berufsgruppen eine grundlegende Veränderung des Einkommens und des gesellschaftlichen Status bedeutete. Die Auflösung der LPGs [Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften - d. Red.], die Reduzierung der Bedeutung der Schwerindustrie, die Privatisierung und Konsolidierung des Handels, die Änderung der Kriterien für die Arbeitsproduktivität sowie anderer Prozesse der Normalisierung und Modernisierung der Wirtschaft veränderten die Situation von Millionen von Polen. Nicht alle konnten und wollten sich an die neue Realität anpassen - viele verstanden und verstehen sie auch heute noch nicht und vermuten Verschwörungen (und Verschworene) dahinter.

Analoge Erscheinungen gab es in allen postkommunistischen Ländern. In einigen wurden sie jedoch besser verstanden und mit ihnen wurde besser umgegangen als in Polen. Bei uns wurden sie als pathologisch bezeichnet. Dass aber diese Ideen und Haltungen viele Vertreter der intellektuellen Eliten teilen, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus. Von ihnen müsste man mehr erwarten können als vom Wahlklientel eines Leppers.

(…) Unsere „Gebildeten“ bezeichneten das Polen nach 1989 als ein Land der Niederlage, Krise, allgemeinen Verarmung, riesiger Verschwendung, wachsender Ungleichheit und sozialer Anomalien - also als unfähig, sich mit der Realität eines normalen Lebens zu arrangieren. Dieses Bild schufen nicht ur das polnische Kino und die junge polnische Literatur. Neulich äußerte öffentlich ein gewisser Professor ähnliche Überlegungen auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Auf die Frage nach den Quellen und Fakten, auf die er sein Referat stützte, antwortete der Professor konsterniert, dass er sich dabei auf seine täglichen Beobachtungen und Gespräche mit verschiedenen Personen  stütze. (…)

Während ihrer Regierungszeit offerierte PiS Polen als ein Land der allseitigen Entwicklung mit blühender Wirtschaft und zahlreichen Erfolgen. Auf der letzten kommunalen Konferenz stellte Jarosław Kaczyński fest, dass die Misserfolge Hirngespinste oder Übertreibungen seiner verbitterten Feinde seien.

Polen hat sich aber nicht erst heute entwickelt. Das siebenprozentige Wirtschaftswachstum existiert seit Mitte der 90er Jahre, bei einer niedrigeren Arbeitslosigkeit (niedriger als 10 Prozent) sowie schlechteren äußeren Bedingungen. Damals verstummten jedoch die Stimmen über die „Krise“, „allgemeine Verarmung“, „wachsende Ungleichheit“, „die schwierige Situation der Rentner und Pensionäre“ sowie über „Affären“ und „schmutzige Tricks“ nicht. Die jetzige Equipe kam an die Macht, weil sie mit diesen Dingen abzurechnen versprach, die zu einem Großteil erdacht waren. Heute hetzen sie imaginäre Täter - die des „Układ“, eines „geheimen Netzes“, „roter Schmarotzer“, „feindlicher ausländischer Zentren“, von „Kartellen“ und „andere Teufel“. Wer zögert oder protestiert, entlarvt sich als dem „Układ“ zugehörig. Je hartnäckiger jemand protestiert, desto deutlicher gehört er dem „Układ“ an.

 

*Janusz A. Majcherek ist Professor der Philosophie an der Krakauer Akademie für Pädagogik

 

(aus: Janusz A. Majcherek, Wina wykształciuchów, Gazeta Wyborcza vom 13. Juli 2007; Übersetzung: Agnieszka Schaaf-Zielińska, Christiane Thoms, Berlin und Wulf Schade, Bochum. Kürzungen durch die Redaktion.)

 

 

Umfrage: Polen, Deutsche und Europa

 

Eine aktuelle Umfrage, die durch "Die Welt" und "Newsweek Polska" (gehört zu Springer Polska) in Auftrag gegeben und am 9.7.2007 in Polen veröffentlicht wurde, brachte einige bemerkenswerte Ergebnisse hervor:

 

1. Sollte Polen wegen der schmerzlichen Erfahrungen im 2. Weltkrieg mit besonderem Verständnis betrachtet werden?

Deutsche: 8% Ja, 88% Nein (Polen: 48% Ja, 49% Nein)

 

2. Ist es gut, dass Polen in der EU ist?

Deutsche 47% Ja, 36% Nein (Polen: 85% Ja, 10% Nein)

 

3. Sollten die alten EU-Länder die Integration vertiefen und dabei womöglich Ländern wie Polen weniger Beachtung schenken?

Deutsche: 55% Ja, 37% Nein (Polen: 31% Ja, 57% Nein)

 

4. Nur Polen: Sollte Polen in der EU genauso viel zu sagen haben wie Deutschland?

77% Ja, 9% weniger

 

5. Nur Deutsche: Sollte Polen die gleiche Stimmenanzahl haben wie die großen EU-Länder Deutschland, Frankreich, Italien?

15% Ja, 82% Nein.