Ist Erinnerung
im Dialog möglich?
Von Magdalena Telus,
Bochum/Wrocław
Mein Vater erzählt gern
Geschichten. Und so kann es passieren, dass man völlig unerwartet, etwa
zwischen Suppe und zweitem Gang, mit neuartigen historischen Perspektiven
konfrontiert wird.
Neulich erzählte er von seiner
Zeit als junger Ingenieur bei der Metallhütte „Hutmen“
in Wrocław. Während eines Kennenlernabends
erinnerte sich ein Kollege wie er als Partisan der Landesarmee den Auftrag
hatte, Gleise zu zerstören. 200 m weiter war die Wehrmacht stationiert und
äußerste Vorsicht war geboten. Nun sprang der junge Partisan auf die Gleise und
… fand sich Auge in Auge mit einem Wehrmachtsoldaten. Augenblicklich richteten
beide ihre Waffen aufeinander, um in einer zielenden Haltung zu erstarren. Kein
Schuss fiel. „Ich weiß nicht, warum mich der Wehrmachtsmensch gehen ließ“,
schloss der spätere Hutmen-Mitarbeiter seine
Erzählung, „ich jedenfalls dachte an seine anderen Kameraden. Hätte ich
geschossen, hätten die uns alle umgebracht“. Da tönte eine Stimme aus der
Runde: „Ich wollte am Leben bleiben“. So erkannten sie sich wieder - der
ehemalige polnische Partisan und der ehemalige Wehrmachtsoldat schlesischer
Abstammung, eingefangen in dieser gemeinsamen Erinnerung.
Um gemeinsames Erinnern geht es
auch in dem von Anna Hofmann und Basil Kerski
herausgegebenen Sammelband „Deutsche und Polen: Erinnerung im Dialog“. Der Band
dokumentiert eine vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
initiierte und von der Stiftung Genshagen organisierte Tagung vom Februar 2006.
Die 15 Beiträge von Historikern, Politikern, Schriftstellern und
Studenten* kreisen um die Frage, ob es
möglich sei, erschütternde historische Erfahrungen so zu erinnern, dass sie
ihre spaltende Wirkung verlieren. Das Unterfangen scheint widersprüchlich, denn
gleichzeitig soll nichts beschönigt werden - die die historischen Traumata
antreibende Opfer-Täter-Verstrickung soll vielmehr durch die Übersetzung in
Einzelschicksale solchen Gefühlen wie Empathie und Solidarität mit den Opfern
besser zugänglich gemacht werden. Dies soll unter Einbettung in den
europäischen Identitätsbildungsprozess stattfinden, zu einer Zeit, da es um das
deutsch-polnische Verhältnis nicht zum Besten steht.
Die schlechte Kondition des
deutsch-polnischen Verhältnisses hat viel mit Erinnerung, vor allem mit
derjenigen an den 2. Weltkrieg, zu tun. Der Kommunismus ist weg, Deutschland
ist eins, Polen ist EU-Mitglied und das Trauma des Krieges und seiner Folgen
ist immer noch da, ein schmerzlicher Bezugspunkt für Identitätsfragen auf der
deutschen wie der polnischen Seite. Und auch eine dritte Seite meldet sich zu
Wort, die Juden, in dem Band mit der Stimme des Jüdischen Historischen
Instituts in Warschau vertreten.
Fasst man die thematischen
Schwerpunkte des Sammelbandes zusammen, so ergibt sich das folgende Bild: Auf
der deutschen Seite wird neben dem Thema Verantwortung nunmehr auch dasjenige
der Vertreibung immer deutlicher angesprochen. Das geplante Zentrum gegen
Vertreibungen soll die Vertreibungen der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg in den
Kontext einer generellen Verurteilung von Vertreibungen stellen. Diesem neuen
Diskussionsfokus wird in Polen sehr misstrauisch begegnet. Es wird befürchtet,
dass die Vertreibung der Deutschen, aus ihrem historischen Zusammenhang
losgelöst und zum Neuschreiben der Geschichte benutzt wird. Umso wichtiger wird
die Anerkennung des eigenen, polnischen Leids durch die Gegenseite. Dazu äußert
sich Bronisław Geremek in einem den Band
einleitenden Gespräch mit deutschen und polnischen Studenten: „Neulich wurde
ich bei einem Treffen der Europäischen Bewegung gefragt: ‚Wie lange erwarten
Sie, dass wir Deutsche an unsere Schuld denken sollen?' ‚Ich habe ehrlich
geantwortet: immer’“ (S. 17). Darauf geht der am gleichen Gespräch beteiligte
Richard von Weizsäcker ein, indem er bekräftigt, dass es die Deutschen waren,
die den Krieg angefangen haben. Es scheint, als müsste der Opfer-Täter Status
quo immer wieder neu eingefordert und bestätigt werden, bevor andere Themen den
diskursiven Raum eines deutsch-polnischen Gesprächs betreten dürfen. Das Thema
Vertreibung ist in diesem Raum verständlicherweise schwer unterzubringen,
genauso schwer wie die von Feliks Tych
angesprochenen polnischen Verbrechen gegen die Juden.
Wenn in diesem Zusammenhang das
Wort „Dialog“ fällt, so handelt es sich um etwas ganz anderes als das
unbeschwerte Gerede vom deutsch-polnischen Dialog der 90er Jahre. Es geht um
eine dialogische Geschichtskultur in Europa. Es geht darum, was der polnische
Partisan und der schlesische Wehrmachtsoldat Jahre später aus eigener Kraft
besorgen mussten: Eine Sicht auf die Vergangenheit, die verschiedene, sich zum
Teil ausschließende Perspektiven zulässt. Dabei sollen diese Perspektiven nicht
bloß nebeneinander stehen und sie sollen sich auch nicht gegenseitig in Frage
stellen. Vielmehr sollen sich diese unterschiedlichen Perspektiven berühren und
befragen, sie sollen sich gegen einander absetzen dürfen aber auch da
zusammenfließen, wo Gemeinsames möglich ist.
Dazu eine zweite Geschichte meines
Vaters, die Geschichte eines deutsch-polnischen Bücherregals. Mein Vater hat
einen deutschen Freund. Dieser ist als Kind aus Breslau geflüchtet, es war
Winter und Chaos, die Front rückte an. Die Evakuierung von Breslau wurde
bekanntlich zu spät angeordnet. Auch mein Vater flüchtete als Kind vor der
Front - aus Brześć. Der Freund meines
Vaters hatte seine Heimatstadt nie besucht, bis er irgendwann beschloss, seinen
damaligen Fluchtweg mit meinem Vater gemeinsam abzufahren. Mit einer alten
Karte suchten die beiden Männer die Stationen der Kälte und des Hungers Ort für
Ort auf. Als sie von dieser Reise, die sie gleichermaßen berührte, zurückkamen,
wollte der Freund für meinen Vater auch etwas tun. Er half ihm, ein Bücherregal
zu bauen. Ein klassisches Szenario eines deutsch-polnischen Projekts - das
physisch greifbare „Seminarprodukt“ steht in meinem Zimmer in Wrocław.
*Die Autor/innen, in der Reihenfolge der Beiträge, sind:
Anna Hofmann, Basil Kerski, Laura Hölzlwimmer,
Wojciech Szczypka, Bronisław Geremek,
Richard von Weizsäcker, Markus Meckel, Andrzej Przewożnik, Marcin Kula, Feliks Tych,
Leon Kieres, Hermann Schäfer, Matthias Weber, Irena Lipowicz, Tanja Dückers, Małgorzata Dzieduszycka-Ziemilska, Peter Oliver Loew,
Sebastian Kleinschmidt, Adam Zagajewski, Rudolf von Thadden.
Hofmann, Anna u. Kerski,
Basil (eds.) 2007, Deutsche und Polen: Erinnerung im
Dialog. Osnabrück: fibre Verlag, 170 S., ISBN
978-3-938400-27-2
Deutsch-polnische
Schulbuchkommission
Mehr am Rande wird in dem Band Bezug auf Schulbücher genommen. Markus Meckell erinnert an den Vorschlag des Bundsaußenministers Steinmaier, dem deutsch-französischen nunmehr ein deutsch-polnisches Geschichtslehrbuch folgen zu lassen (S. 29), Feliks Tych bescheinigt den polnischen Schulbüchern eine positive Auswirkung auf die „polnische Erinnerungskultur“ (S. 67). Matthias Weber erwähnt die Arbeit der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission in den 70er Jahren (S. 96), an die sich Rudolf von Thadden als Kommissionsmitglied etwas ausführlicher bezieht: „Wiederum zehn Jahre später, 1975, hatte gerade Willy Brandts Ostpolitik die ersten Früchte getragen; das veränderte die ganze Diskussionslandschaft. Im Zeichen dieser Ostpolitik kam so etwas wie ein befreiendes Gefühl in den deutsch-polnischen Dialog hinein. Man hörte anders zu und man konnte jetzt auch anfangen, bestimmte Dinge gemeinsam zu tun. Ich bin damals in die Deutsch-polnische Schulbuchkommission gewählt worden, machte also den ersten Versuch, gemeinsam über Schulbücher zu reden. Ich werde diese ersten Gespräche mit polnischen Fachkollegen nie vergessen. Jetzt lernte ich, dass es eine nachfolgende Generation gibt, der wir die Geschichte mit all ihren Konflikten und Grausamkeiten zu erzählen haben, ohne Beschönigungen“. (S. 154 f.). In Erinnerungen dieser Art wird die Schulbuchkommission zu einem politischen Fossil, ihre richtungweisenden Projekte wie die fundierte, im heutigen Sinne dialogisch aufgebaute Lehrerhandreichung „Deutschland und Polen im Zwanzigsten Jahrhundert“ (Hannover 2001) geraten außer Sicht.
Deutsch-polnische Beziehungen im Geschichtsunterricht
Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt und der Cornelsen
Verlag legen die neueste Sammlung von Darstellungen und Materialien für die
polnische Geschichte vor. 13 Unterrichtseinheiten reichen von der
mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, über die polnische Adelsrepublik und
ihren Untergang bis hin zur Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den sensiblen
Themen des 2. Weltkrieges und der Vertreibung bis hin zu den Glanzlichtern der
Solidarność und des EU-Beitritts Polens. Gegenseitige Wahrnehmungen
und ein Einblick in das Leben polnischer Migranten in
Deutschland runden das Angebot ab. Der Band verfolgt das Ziel, die Präsenz
Polens im Geschichtsunterricht deutscher Schulen zu stärken. Die einzelnen Unterrichtseinheiten
knüpfen an Themen deutscher Curricula an und bieten Einführungen und Quellen,
mit denen Polen in die Behandlung dieser Themen einbezogen werden kann. Das Projekt
wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
So begrüßenswert diese Handreichung ist, so entspricht sie
doch nicht dem Bedarf an einer deutsch-polnischen Erinnerung im Dialog.
Vielmehr orientiert sie sich auf die Bedürfnisse, die curriculare Ausrichtung,
die Interessen und die Defizite einzig der deutschen Schulen mit entsprechend
bescheidener Beteiligung polnischer Autoren. Die von Bundesaußenminister Steinmaier ins Gespräch gebrachte Idee eines
deutsch-polnischen Geschichtslehrbuchs behält ihre Aktualität.
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Kneip, Matthias u. Mack, Manfred, unter Mitarbeit von Markus Krzoska u. Peter Oliver Loew 2007, Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen. Darstellungen und Materialien für den Geschichtsunterricht. Berlin: Cornelsen Verlag, S. 191 mit CD-ROM, ISBN 978-3-06-064215-1