Entwurzelt

 

Von Agnieszka Rzek

 

So heißt der Titel eines Buches von Helga Hirsch, das in diesem Jahr von der edition Körber-Stiftung herausgegeben wurde. Helga Hirsch zeichnet in zehn Kapiteln „den Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug“ - so heißt es im Untertitel - von Menschen jüdischer, ukrainischer, polnischer und deutscher Herkunft nach. Die namentlich genannten Personen sind von Hirsch interviewt worden, wobei sie, worauf sie in ihrer Einführung ausdrücklich hinweist, auf Eingriffe und korrigierende Nachfragen, die eine Einbindung in die geschichtlichen Hintergründe in Form einer Selbstreflexion ermöglichen würden, verzichtet hat. „Ein Raum des Vertrauens ist entstanden, weil sich die Befragten - gleich welcher Nationalität - in ihrem individuellen Schicksal respektiert fühlten, ihre Leiden nicht gegen das Leiden anderer aufgerechnet sahen und spürten, dass ihnen das Mitgefühl auch dann nicht entzogen wurde, wenn Ereignisse und Anschauungen zur Sprache kamen, die ihre Scham und Trauer, ihre Schwächen und Versäumnisse aufdeckten.“ Von diesem „Mitgefühl“ bleibt allerdings eine „Nationalität“ ausgenommen: die russische. Gegen die Menschen dieser Nation werden in diesem Buch mehr oder weniger versteckt existierende Vorurteile in unserer Gesellschaft kultiviert. Denn, wenn diese benannt werden, dann nahezu ausschließlich als Quälende, während die anderen Nationen Quälende wie Gequälte vorzuweisen haben.

Die auf diese Weise zustande gekommenen Biographien sind sicherlich für eine historisch-wissenschaftliche soziologische und psychologische Forschung beispielsweise über Spätfolgen von Flucht  bzw. Vertreibung auf persönlicher und kollektiver Ebene interessant. Sie sind aber völlig ungeeignet für eine Arbeit, die Nationen ihr Misstrauen ja oftmals sogar ihre rassistische Ablehnung gegeneinander überwinden lassen sollen. Man trennt so die Menschen aus den kollektiven Taten ihrer Nation, der sich ja nur wenige während derer Verbrechen entgegengestellt haben, und schafft auf dem Hintergrund des Leidens des Einzelnen einen neutralen Raum. Die Mitglieder der Täternationen werden denen der Opfernationen gleichgestellt. Damit wird die eigene Verantwortung dem Einzelnen abgesprochen und dieser entmündigt. Nur aber mit mündigen und selbstkritischen Menschen, die sich ihrer Verantwortung in und für ‘ihre’ Nation stellen, kann Versöhnung gelingen. Nur so lassen sich „beständiges Aufrechnen“, mit dem man ‘sein Leben vergällt’ (aus der Einführung von Hirsch) verhindern und ‘beglückende Erfahrungen’ beim Umgang von Menschen ehemals verfeindeter Nationen miteinander erleben.

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass in der Einführung von Hirsch das Wort ‘Verantwortung’ nicht zu finden ist. Das Wort passt nicht, wenn man für eine Organisationen arbeitet, die genau dieses Wort immer gemieden hat - allerdings nur, wenn es um die eigene und die der eigenen Nation ging: mit dem Bund der Vertriebenen (BdV). Helga Hirsch ist nämlich an der Konzeption des „Zentrums gegen Vertreibungen“ des BdV aktiv beteiligt. „Entwurzelt“ passt genau in diese Konzeption und ist somit ein Baustein für die Neuinterpretierung der deutschen Geschichte, die dieses Zentrum verwirklichen soll.

 

Helga Hirsch, Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug, Hamburg 2007, ISBN: 978-3-89684-065-3