Wie bewahrt man ein historisches Erbe?

 

Von Hans Henning Hahn und Eva Hahn

 

„Wenn wir die Welt der Kultur besitzen wollen, dann müssen wir sie durch historische Erinnerung immer wieder neu erobern. Aber Erinnerung bedeutet nicht bloße Reproduktion. Erinnerung ist eine neue intellektuelle Synthese - ein konstruktiver Akt.“1  Der Philosoph Ernst Cassirer, „dieser humanistische Geist 1933 aus Deutschland vertrieben“ (Die Zeit 4.1.2007), gehört zu den weltweit bekanntesten Analytikern unseres Erinnerns. Er wurde 1874 in Breslau geboren und starb am 13. April 1945 in New York. Nach den gängigen statistischen Angaben über Flucht und Vertreibung zählt er zu den Vertreibungsopfern, aber weder der  Bund der Vertriebenen noch die Landsmannschaft Schlesien haben sich bisher um die Erhaltung und Bekanntmachung des geistigen Erbes von Ernst Cassirer bemüht; ja sie scheinen es nicht einmal in ihren eigenen Überlegungen zur „Bewahrung der Kultur der Deutschen im Osten“2  einbezogen zu haben. Das zeigt auch das neue „Kulturkonzept des BdV“.

 

„Das Präsidium des Bundes der Vertriebenen hat auf seiner Sitzung am 14. November 2006 in Frankfurt a. M. folgendes Konzept für die Kulturarbeit einstimmig verabschiedet: Das historische Erbe - für die Zukunft bewahren und entwickeln“, berichtet die Zeitschrift Deutscher Ostdienst (DOD). In der Rubrik Dokumentation findet sich der Wortlaut des neuen „Kulturkonzepts des BdV“ (DOD 1/2007, S. 19f.):

Der Wandel der Welt habe neue Überlegungen notwendig gemacht, heißt es dort. Allerdings sucht man vergebens nach neuen Ideen, wie der BdV seine Kulturarbeit zu gestalten beabsichtigt. Vielmehr handelt es sich um eine Wunschliste mit vielerlei Forderungen (...).

Aus unersichtlichen (oder vielleicht politisch-strategischen?) Gründen wird hier das vom BdV vehement verfolgte Projekt, in Berlin ein staatliches deutsches Nationalmuseum der Vertreibung unter der Bezeichnung Zentrum gegen Vertreibungen zu gründen, nicht erwähnt. Auch dort soll die Kultur und Geschichte der gesamten sog. verlorenen deutschen Ost- und deutschen Siedlungsgebiete zwischen der Ostsee, Adria und dem Schwarzen Meer dargestellt werden.

Die vom BdV erhobenen Forderungen sagen nichts über die inhaltlichen Vorstellungen aus, die diese Organisation mit dem Begriff Kultur verbindet. Da es sich jedoch um Forderungen handelt, die - wie immer wieder vom BdV behauptet - die deutsche nationale Identität betreffen, wäre darüber eine diesbezügliche öffentliche, also nicht nur innerhalb der Vertriebenenverbände ablaufende  Debatte vonnöten. Auch die deutschen Steuerzahler sollten sich darüber Gedanken machen, wenn sie in einem so hohem Maße zur Kasse gebeten werden. Der BdV beruft sich auf das Bundesvertriebenengesetz aus dem Jahre 1953 und die darin vorgesehene Verpflichtung des Bundes und der Länder, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete im Bewusstsein des deutschen Volkes und des Auslands zu erhalten“. Fragen, was genau das zu erhaltene Kulturgut beinhalte, wie ein solches Kulturgut gepflegt werden solle und um welche Gebiete es sich genau handele, wurden in der deutschen Öffentlichkeit bis heute nicht einmal diskutiert.

Nimmt man das Projekt Sudetendeutsches Museum als ein Beispiel, erkennt man rasch, wie viele Fragen damit aufgeworfen werden. Was genau soll dort ausgestellt werden? Es liegt nahe, zu vermuten, dass hier an das „sudetendeutsche Kulturgut“ gedacht wird. Was gehört aber konkret dazu? In dem altehrwürdigen Königreich Böhmen und seinen Kronländern lebten bekanntlich seit Jahrhunderten Deutsche, aber sie lebten dort nicht allein, sondern bildeten eine Minderheit in dem vorwiegend von der tschechischen Nation bewohnten Königreich Böhmen, zu dem in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Kronländer wie Mähren, Schlesien, Ober- und Niederlausitz, ja sogar Teile Brandenburgs gehörten. Wie grenzt man aus dem historischen und kulturellen Erbe dieser Vergangenheit „das sudetendeutsche Kulturgut“ von anderen ab? Oder will man etwa das gesamte „Kulturgut“ des heutigen Tschechien als das Kulturgut eines „Vertreibungsgebiets“ im künftigen Sudetendeutschen Museum ausstellen? Soll etwa der König von Böhmen und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl IV. als ein Sudetendeutscher und sein historisches Erbe als „sudetendeutsches Kulturgut“ im künftigen Sudetendeutschen Museum ausgestellt werden? (...)

Im BdV sind 21 sog. ostdeutsche Landsmannschaften vereinigt;  sie sollen maßgeblich  an der Pflege des historischen Erbes und des Kulturguts der Vertreibungsgebiete - also auch etwa des heutigen Tschechiens - beteiligt werden. Ohne eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Geschichtsverständnis z. B. der Sudetendeutschen Landsmannschaft käme dies einem Rezept gleich, dieser und ähnlichen Organisationen eine privilegierte Stellung bei der gegenwärtigen deutschen Wahrnehmung und Darstellung der Geschichte Tschechiens bzw. des gesamten östlichen Europa einzuräumen. Im neuen Kulturkonzept des BdV wird  sogar noch mehr gefordert. „Die Mitglieder der den Bund der Vertriebenen konstituierenden Verbände sind personale Träger der Kultur der Vertreibungsgebiete“, heißt es dort. Daraus ergibt sich, dass die Mitglieder einzelner Landsmannschaften zu Kulturträgern erklärt werden sollen, egal, wer den einzelnen als e.V. konstituierten Landsmannschaften beitritt. Wenn das ‚Kulturgut' der einstigen Vertriebenen als ein Bestandteil des historischen Erbes der deutschen Nation gepflegt werden soll, dann sollte dies ja wohl sicherlich in einer Weise geschehen, wie das historische Erbe der ganzen Nation gepflegt wird. Dazu gehören  bekanntlich weder Vereine, die sich als durch Abstammung legitimierte Kulturträger einzelner deutscher „Stämme“ oder „Volksgruppen“ deklarieren (wie sich die Landsmannschaften verstehen), noch Vereine, die einzelne in der Vergangenheit „verlorene“ Gebiete repräsentieren.

Aus dem Selbstverständnis der Landsmannschaften als Kulturträger einzelner Regionen ergeben sich für die deutsche Öffentlichkeit schwerwiegende Probleme, z. B. wenn deutsche Historiker zu anderen Geschichtserkenntnissen - z. B. über die Vertreibung - als die Landsmannschaften gekommen sind. So behauptet etwa die Sudetendeutsche Landsmannschaft, dass man an den „Vertreibungsverlust von rund 270.000 Sudetendeutschen“ erinnern solle3,   während namhafte deutsche Fachleute, die der von den Außenministern beider Staaten 1990 ins Leben gerufenen Deutsch-Tschechischen Historikerkommission angehören, zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sind: Sie stellten fest, dass man von  „einer maximalen Anzahl von 30.000 Opfern“ ausgehen müsse und warnen ausdrücklich vor den Angaben, die die Landsmannschaft macht: Die in der Kommission versammelten Historiker sprachen sich schon 1996 „dafür aus, auf die Zahl von 220.000 oder mehr  „Vertreibungsopfern“ nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch in politischen Auseinandersetzungen zu verzichten.“4  Der deutsche Staat finanziert heute sowohl die sich als Träger der Kultur und des historischen Erbes gebärdenden Landsmannschaften wie auch die wissenschaftliche Geschichtsforschung. Die Frage, mit welchen Privilegien die „Mitglieder der den Bund der Vertriebenen konstituierenden Verbände“ als „personale Träger der Kultur der Vertreibungsgebiete“ bei der Pflege des historischen Erbes der deutschen Nation spielen sollen und wie sie in die in demokratischen Gesellschaften gängigen Entscheidungsprozesse bei der Pflege des historischen Erbes integriert werden sollen, wurde bisher in der deutschen Öffentlichkeit viel zu wenig diskutiert. Das kollektive deutsche Erinnern an die Vertreibung und an die Geschichte jener Gebiete, aus denen die Vertriebenen kamen, kann aber kaum von Organisationen gestaltet werden, deren Geschichtsverständnis ganz offensichtlich von dem der Geschichtswissenschaft so stark abweicht.

Wenn das historische Erbe einzelner weit gestreuter Regionen außerhalb der Grenzen der heutigen Bundesrepublik mit staatlicher Förderung gepflegt werden soll, müssen auch Überlegungen darüber angestellt werden, um welche Regionen es sich überhaupt handeln sollte. Denkt man etwa an die Region, die die zu konstituierenden Verbänden des BdV gehörende Landsmannschaft Weichsel-Warte zu repräsentieren vorgibt, wird man vergeblich im historischen Atlas nach ihr suchen. Diese Landsmannschaft wurde 1949 gegründet mit dem Anspruch, die Deutschen aus Polen, insbesondere aus dem Posener Land, aus dem Lodzer Industriegebiet und dem übrigen Mittelpolen sowie aus Galizien und aus Wolhynien zu repräsentieren. Das Land Hessen hat im Jahr 1990 die Patenschaft über diese Landsmannschaft übernommen. Um welche Region handelt es sich aber?

Posen (Poznań) ist eine der ältesten und bedeutendsten polnischen Städte, seit Mitte des 10. Jahrhunderts Bischofsitz und Residenz der ersten polnischen Fürsten. Nach der mehrstufigen Zerschlagung Polens Ende des 18. Jahrhunderts wurde 1815 die preußische Provinz Posen errichtet. Der polnischen Bevölkerung wurde das Recht, ihr historisches Erbe zu pflegen und ihr Kulturgut weiterzuentwickeln, zunächst zugestanden, dann Schritt für Schritt streitig gemacht und entzogen. 1886 wurde sogar eine Ansiedlungskommission errichtet, „welche die Aufgabe hat, Güter von polnischen Besitzern anzukaufen, zu parzellieren und an deutsche Kolonisten zu veräußern“; das Ziel war die Ansiedlung deutscher Bauern, „um das deutsche Element auf dem Lande zu mehren“, wie es in Meyers-Lexikon 1908 hieß. In der weitgehend von Polen besiedelten Stadt und Provinz Posen lebten zerstreut auch deutsche Kolonisten, aber von einem „deutschen Siedlungsgebiet“ zu sprechen würde bedeuten, sich auch weiterhin die abstrusen Konstruktionen der völkisch-nationalsozialistischen Rhetorik zu eigen zu machen. Ähnlich problematisch ist es, vom deutschen historischen Erbe „aus dem Lodzer Industriegebiet und dem übrigen Mittelpolen“ zu sprechen. Łódź wurde selbst noch vom NS-Regime als „Mittelpunkt  der polnischen Webwarenindustrie" bezeichnet und nur mit dem Hinweis ergänzt, daß es in und um die Stadt „starke deutsche Volksinseln“ gegeben habe (Volks-Brockhaus, Leipzig 1938).

Auch die Bezeichnung "Vertreibungsgebiete" ist unzutreffend. Nicht aus allen Gebieten, die der BdV als Vertreibungsgebiete präsentiert, wurden je irgendwelche Deutschen von irgendjemandem vertrieben. Galizien ist die im 19. Jahrhundert bekannte Bezeichnung jenes Teils Polens, der 1772-1918 infolge der gewaltsamen Zerschlagung der Republik Polen zur Habsburgermonarchie gehörte, nach dem Ersten Weltkrieg zurück an Polen kam und wo 1938 „etwa 60 000 deutsche Kolonisten in zerstreuten Volksinseln“ lebten (Volks-Brockhaus, Leipzig 1938, S. 227). Wolhynien gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu Russland, ab 1920 ein Teil zu Polen und ein Teil zur Sowjetunion. In der Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich hier einige deutsche Bauern an. Aus beiden Gegenden wurden die dort lebenden deutschen Bauern 1939/40 von den nationalsozialistischen Behörden unter dramatischen Umständen mit viel Leid umgesiedelt, obwohl die deutsche Propaganda damals das Leid der Umsiedler verschwieg: „Diese Heimkehr im großen Treck, in Schnee und Eis, bei 40° Kälte wird noch nach Generationen lebendig sein.“5  Eine „unabsehbare Reihe der westwärts knarrenden Wagen, die vereisten Planen, die vermummten Frauen, die neben den Wagen daherstapfenden Männer, deren Atem an den Lippen gefror - dieser große Treck der deutschen Bauern, voll ungeheurer Würde und umweht von einer unverlierbaren Heiligkeit in der Sehnsucht nach dem Vaterland“.6  Die deutschen Bauern aus Galizien und Wolhynien wurden nicht vertrieben.

Die Landsmannschaft Weichsel-Warte wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert von Menschen begründet, die im besetzten Polen den sog. Warthegau errichtet haben. Der 45 000 Quadratkilometer und 4,2 Millionen Einwohner (85 Prozent Polen, 8 Prozent Juden, 7 Prozent Deutsche) umfassende Reichsgau Wartheland bestand etwa je zur Hälfte aus der historischen polnischen und von Preußen vorübergehend annektierten Provinz Posen sowie aus Teilen des einstigen sog. Kongresspolen und einem niederschlesischen Gebietsstreifen, der vor der preußischen Annexion Schlesiens und nach dem Ersten Weltkrieg auch zu Polen gehört hatte. Die Mitglieder dieser Landsmannschaft sollen nun als „personale Träger der Kultur“ des so konstruierten Vertreibungsgebiets anerkannt und staatliche Förderung erhalten, um „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete im Bewusstsein des deutschen Volkes und des Auslands zu erhalten“. Wessen historisches Erbe soll hier eigentlich gepflegt werden?

Als das Bundesvertriebenengesetz vor über einem halben Jahrhundert entstand, konnte man die darin vorgesehene Förderung der Vertriebenen verstehen, handelte es sich doch um mittellos gewordene Opfer des Zweiten Weltkriegs. Es war schon damals bedenklich, die kulturellen Aktivitäten viele jener Nationalsozialisten im neuen demokratischen Deutschland zu fördern, die zu Opfern jenes schrecklichen Expansionskrieges geworden waren, den sie selbst mit zu verantworten hatten. Ein halbes Jahrhundert später steht die demokratische Öffentlichkeit der BRD jedoch vor der Aufgabe, sich über die damals begründete und mit staatlicher Förderung institutionalisierte Kulturpolitik Gedanken zu machen, sollen die von einstigen Nazis gepflegten kulturhistorischen Traditionen nicht auch weiterhin gedankenlos fortleben.

In der BRD, in der DDR und anderswo sind viele literarische, historische und andere Kunstwerke der einstigen Vertriebenen außerhalb der Vertriebenenorganisationen entstanden. Sie erinnern an die einstigen Heimatgebiete auf andere Weise, als es die Landsmannschaften tun. Sie sind ohne staatliche Förderung entstanden. Sie und ihre Autoren wurden oft von den Landsmannschaften verunglimpft oder verschwiegen - man denke nur etwa an den bekannten Schriftsteller Horst Bienek oder den Historiker Johann Wolfgang Brügel. Es gab nicht staatlich geförderte Organisationen der Vertriebenen, wie z.B. die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei, die sich sachlich und umfassend kritisch mit der Geschichte und dem Wirken der Landsmannschaften auseinandergesetzt haben, und es liegen beeindruckende Werke einzelner Vertriebener wie die Kurt Nelhiebels aus Bremen vor, die andere historische Interpretationen der Vertreibung und des historischen Erbes der sog. Vertreibungsgebiete ausgearbeitet haben. Wenn der deutsche Staat das historische Erbe der Vertriebenen in einer Weise bewahren soll, die mit den Grundsätzen einer liberalen und demokratischen Kulturpolitik im Einklang steht, dann darf das Kulturgut solcher Vertriebener nicht vernachlässigt werden. Das Kulturkonzept des BdV lässt sich mit solcher demokratischen Kulturpolitik nicht in Einklang bringen, und deshalb ist eine breite öffentliche Diskussion darüber, wie man jenes spezifische historische Erbe bewahrt, das der BdV zu vertreten beansprucht, dringend notwendig. Erinnerung bedeutet nicht bloße Reproduktion, mahnte Ernst Cassirer, Erinnerung ist eine neue intellektuelle Synthese - ein konstruktiver Akt: „Wenn wir die Welt der Kultur besitzen wollen, dann müssen wir sie durch historische Erinnerung immer wieder neu erobern.“

 

1 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt am Main 1990, S. 283

2http://www.bund-der-vertriebenen.de/derbdv/struktur-5.php3 (Zugriff 05.02.2007)

3 http://www.sudeten.de/bas/index_a.htm (Zugriff 03.02.2007)

4 http://www.collegium-carolinum.de/ index.html (Zugriff 03.02.2007)

5 Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet. Mit einem Geleitwort von SS-Obergruppenführer Werner Lorenz und mit einer Einführung von Wilfrid Bade, Berlin-Amsterdam-Prag-Wien 1943, S. 25

6 Ebenda, S. 24

 

Wir danken für die Nachdruckgenehmigung. Kürzungen von der Reaktion.