„Das ist ja ein Stall!“

Die Erinnerungen des „Vergeltungsgefangenen“ Désiré Guérin aus Sedan an seine Haft in einem

deutschen Konzentrationslager im Jahre 1918

(Fortsetzung aus POLEN und wir 3/2007)

 

Von Helmut Donat

 

Verschiedene Insassen, unterschiedliche Überlebensstrategien

Die Insassen des Lagers setzen sich aus allen sozialen Schichten zusammen, sind - wie Guérin schreibt - „willkürlich zusammengewürfelt von den Kommandanturen; hier leben durcheinander klotzige Bourgois, modische Stutzer, laute alte Emporkömmlinge, kultivierte Bürger, ungeschliffene Bauern, Händler, Beamte, Priester, hohe Verwaltungsbeamte, Arme und Reiche vermischt, einer an den anderen gequetscht, in Staub und Schmutz schlafen sie übereinander gestapelt auf Holzstämmen und leben  Seite an Seite inmitten eines unbeschreiblichen Gehänge, von wunderlichsten Dingen, an allen Ecken, an allen Balken befestigt, überall, wo ein Draht gespannt oder ein Nagel eingeschlagen werden kann.“ Alle sind - früher oder später - der Wirkung des Hungers ausgesetzt und entwickeln, je nach Veranlagung, Neigung und Willensstärke, unterschiedliche Überlebensstrategien. Ein Teil sucht der verhängnisvollen Langeweile, Untätigkeit und Monotonie durch das Organisieren von Spielen (Dame, Karten, Poker etc.) zu entgehen. Andere sind unermüdlich am Werk, sich mit einem Brett an der Wand oder einem Vorratsfach ein Versteck zu schaffen, das der Wachsamkeit des Kommandanten entgeht. Geschickte Handwerker suchen aus gefundenen Resten Utensilien aller Art herzustellen (Becher, Pfannen, Trichter, Kaffeefilter, Gabeln usw.) oder fabrizieren Hausschuhe aus Holz und Blech. Manche verharren einfach stundenlang auf ihrem Strohsack, während eine weitere Gruppe sich in „grotesken Prahlereien“ und ermüdendem Geschwätz ergeht. Schließlich ist da noch das Häuflein der Deprimierten, die sich dem Jammer durch stetes Verkünden der baldigen Heimreise entziehen. Nicht zu vergessen die „Sportlichen“, die weder den scharfen Wind noch die beißende Kälte scheuen und den Widrigkeiten die Stirn bieten.

Um der niederdrückenden Stimmung nicht zu erliegen, schmiedet man Pläne für die Zukunft. Da werden Bienen gezüchtet, Felder bestellt, Bäume gepflanzt, Fische gefangen, Vorträge gehalten, Konzerte und künstlerische Darbietungen organisiert. Man denkt und redet sich aus der beklagenswerten Wirklichkeit des Konzentrationslagers heraus, bewahrt sich damit ein Stück Freiheit und Eigenleben. All das trägt dazu bei, die Widerstandskraft zu erhalten und auszubauen. Zugleich geben die gemeinsamen Veranstaltungen Stoff für Gespräche und regen zu neuen Ideen an.

Hunger macht alle gleich

Doch je länger die Gefangenschaft dauert, um so blasser werden die Gesichter und vergrößert sich die Zahl der Hungernden, dreht  sich alles ums Essen. Eine regelrechte Hetzjagd auf Lebensmittel beginnt. Der Hunger, schreibt Guérin, macht „alle gleich: Millionäre und kleine Arbeiter, hohe Beamte und Magistrate, Priester und Handwerker, alle“. Mit jedem Tag lassen die Kräfte nach, selbst wenige Minuten Spaziergang auf dem Hof ermüden. Neuere Besichtigungen des Lagers durch deutsche Offiziere führen zu geringfügigen Verbesserungen. Drei Tische, ein paar Bänke und zwei Treppen sollen die Lage verbessern, aber - so Désiré Guérin - „mit einem Stück Brot wäre uns tausendmal mehr geholfen gewesen“.

Die Zusammenpferchung auf engstem Raum, die Unsauberkeit des Lagers, der ständige Mangel an Reinlichkeit, das verschmutzte Bettzeug und die Gegenwart von Kranken begünstigt das Ungeziefer und macht es geradezu unabwendbar. Zunächst breitet sich die „Flohplage“ aus. Blutdürstig und unersättlich, verursachen ihre Attacken Alpträume und schlaflose Nächte. Ihnen folgen die Körperläuse, deren Vermehrung so rasch voranschreitet, dass sie nach dem ersten Monat allgegenwärtig sind. Mit den Parasiten geht die Ausbreitung einer Epidemie einher, die den Gefangenen schwer zu schaffen macht. Durch die Stiche, den Staub und Schmutz, die schlechte Ernährung werden sie von einem heftigen und hartnäckigen Juckreiz befallen. Désiré Guérin schreibt: „Wir kratzten uns nicht, wir rissen uns förmlich die Haut ab, wir zerfraßen uns. Viele hatten den Oberkörper von Pusteln und Wunden übersät. Wir konnten nicht mehr schlafen. Ich habe alte Männer, die bis dahin dem Hunger standgehalten hatten, schnell unter dieser neuen Folter dahinschwinden sehen. Man konnte sie im Hof sehen, wie sie unaufhörlich am ‚Knirschen' waren, indem sie abwechselnd mal die eine, mal die andere Schulter hoben. Die armen Männer vertrockneten förmlich, nicht einen einzigen Moment der Rast hatten sie mehr.“

Wie im tiefsten Grunde eines Grabes

Neben den physischen Schmerzen leiden die Häftlinge unter der Erniedrigung ihrer Würde und den seelischen Qualen. Die Sorgen um das Schicksal der Angehörigen, die Trennung von ihnen, der Kummer und Gram über ihre Abwesenheit - all das führt zu angstvollen Fragen und trübsinnigen Gedanken. Von den Soldaten verbreitete Gerüchte, man habe auch die Frauen der Geiseln wenige Tage nach ihnen deportiert1, verstärken die Unsicherheit und Beklemmungen. „Viel“, erinnert sich Désiré Guérin, „hätte ich darum gegeben, genau Bescheid zu wissen und endlich aus dieser Unwissenheit zu gelangen, aber nichts erreichte uns aus Frankreich; wir waren wie im tiefsten Grunde eines Grabes eingemauert und völlig von der Welt abgeschnitten in dieser Eiswüste hinter unserem Stacheldrahtzaun. Ich befürchtete ein unserem Los ähnliches für meine Frau und fragte mich angstvoll, ob sie jemals den Entbehrungen und Gefahren, denen sie ausgesetzt werden würde, durchstehen könne, dieses Leben, schlimmer als Sklaverei, das wir ertrugen, und das vielleicht ebenfalls das ihrige war.“ Doch den Gefangenen ist jedweder Briefverkehr mit ihren Angehörigen verboten und so bleiben sie ohne Nachricht. Erst im Februar erhalten sie eine Schreiberlaubnis. Aber bevor sie etwas von ihren Frauen und Kindern erfahren und die ersten Postkarten eintreffen, vergehen weitere vier Wochen.

Nach dem zweiten Monat im Konzentrationslager sind viele geschwächt. Einige liegen im Sterben. Die Erkrankungen nehmen rapide zu und fast jeden Tag wird jemand „in besorgniserregendem Zustand nach Wilna ins Krankenhaus abtransportiert“. Bei vielen ist die Grenze der Widerstandskraft erreicht, und es besteht kein Zweifel daran, so Désiré Guérin, „dass wir geradewegs der Katastrophe, dem Massengrab, entgegensteuerten“.

„Ebenfalls hatten wir, wiederholt, energisch, gegen die barbarische, unmenschliche Behandlung, die uns zuteil wurde, protestiert. Wir hatten erneute Schreiben an den Kommandanten von Wilna und den spanischen Botschafter in Berlin gerichtet. Mehrmals waren deutsche Offiziere erschienen, die vorgaben, eine Untersuchung vorzunehmen, wieder abreisten und nichts änderte sich.“ Doch lässt man sich nicht entmutigen und sendet "heftige Beschwerdeschreiben an den Kanzler des Deutschen Reichs persönlich".

Ergreifende Szenen und betroffene Offiziere vor dem Ende des Martyriums

Am 5. März 1918 fährt ein luxuriöses Auto vor. Zwei Offiziere aus dem Hauptquartier sind eingetroffen. Sie kommen direkt aus Berlin, um sich das Lager anzusehen. Ihre Überraschung von der „jammervollen Lage“ der Häftlinge und vor allem, sie „dermaßen zahlreich eingepfercht auf so engem Raum zu finden“, wirkt echt. Als sie erfahren, dass sich unter den Franzosen ein Offizier befindet, wollen sie mit ihm reden. Der betagte Chamonnet, 74 Jahre alt und mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet, spricht von 1870 und den Feldzügen, an denen er teilgenommen hat. „Bei der gegenwärtigen Situation angelangt, protestiert er gegen die unwürdige Art seiner Behandlung. ‚Sehen Sie’, sagt er, ‚das ist meine Ecke! Darauf schlafe ich nun. Sie würden Ihren Hund nicht einmal dort schlafen lassen!’ Und er zeigt auf seine Weste, die an seinem Leibe schlottert und in die man zwei seinesgleichen stecken könnte. ‚So war ich mal. Sehen Sie, was übrig geblieben ist. Seit zwei Monaten muss ich Hunger leiden. Ist das die Art, in der Deutschland einen alten französischen Offizier behandelt, der mit Ihnen 1870 die Klingen gekreuzt hat?'“ Andere alte Männer treten vor, verlangen nach Brot. Ergreifende Szenen spielen sich ab. Viele beginnen zu weinen. Die beiden Offiziere sind betroffen. Nach ihrer Abreise glauben viele, dass sich ihre Lage nun bald verbessern wird. Und tatsächlich. Noch im selben Monat wird das Lager evakuiert, die Kranken kommen ins Krankenhaus Wilna, die Alten fahren gleich weiter - vermutlich zurück nach Hause. Die anderen bringt man nach Nejelowoj, das sich acht Kilometer von Wilna entfernt im Bezirk Bialawaka befindet. Man weist sie in das Lager von „Block Roon“ ein. Auch die Geiseln aus Jewy werden hier untergebracht. Désiré Guérin findet sich in einer Baracke mit einem großen Raum wieder, der gerade renoviert worden ist. Es gibt zwei Bettreihen aus Brettern, ausgelegt mit frischen Spänen, außerdem Fenster. Ein Feuer brennt. „Welch ein Unterschied“, ruft er freudig aus, „verglichen mit unserem Stall! Wir werden frische Luft atmen, Licht und Raum haben“. Wenige Wochen später kehren die „Vergeltungsgefangenen“ in ihre Heimat zurück. Das Martyrium des Konzentrationslagers Milejgany ist beendet.

Die Verantwortlichen waschen ihre Hände in Unschuld

Am 29. Oktober 1918 greift die „Académie de Médecine in Paris“ in ihrer von der „Presse Médicale“ herausgegebenen Anklageschrift „Protest der Gelehrten von Lille gegen die deutschen Barbareien“ auch die Deportation der französischen Bürger nach Litauen auf und erklärt, den deutschen Ärzten die künftige Zusammenarbeit aufzukündigen, „so lange nicht aus ihren Kreisen eine öffentliche Missbilligung der antisozialen Handlungen ihrer Regierung auf fremden Kriegsschauplätzen erfolge“.2 Aber die deutsche Ärztewelt schweigt. Eine Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen im Ersten Weltkrieg, zu denen auch die Geschehnisse gehören, von denen Désiré Guérin in seinen Aufzeichnungen berichtet, findet nicht statt. Ebenso gibt es keine öffentliche Debatte, und wenn sie doch einmal aufkeimt, waschen die Verantwortlichen ihre Hände in Unschuld und erklären die Opfer zu Tätern. Hätte man sich mehr bemüht, von den schlechten Vögeln, die das deutsche Nest beschmutzt haben, abzurücken, wäre vielleicht manches anders gekommen. Vielleicht... Aber es war schon eine neue Marschroute ausgegeben worden: „Im Felde unbesiegt!“          

 

1 Neben den 600 Männern haben die deutschen Militärkommandanturen in Nordfrankreich 400 Frauen festgenommen. Sie sind am 12. Januar 1918 in ein Lager bei Holzminden an der Weser deportiert worden. Abgesehen davon, dass ihr Transport mit der Eisenbahn nicht annähernd so strapaziös gewesen ist, waren sie nicht denselben Drangsalierungen ausgesetzt, wie sie die Männer erlebt haben. Auf das Schicksal der Frauen wird die in Anmerkung 1 (s. POLEN und wir 3/2007) angekündigte Publikation Auskunft geben.

2 Anklageschrift "Protest der Gelehrten von Lille gegen die deutschen Barbareien", o.O. o.J., S. 4.

 

 

"Wer nicht fragt, bleibt dumm"

 

Ein Nachwort von Helmut Donat

 

Nach wie vor ignorieren viele Historiker die zwischen dem zweiten deutschen Kaiserreich und dem Dritten Reich bestehenden Zusammenhänge. So geht man seit eh und je wie selbstverständlich davon aus, dass die Existenz deutscher Konzentrationslager an die Herrschaftsperiode des NS-Regimes gebunden sei. „Wer nicht fragt, bleibt dumm“ - lernen schon die Kinder. Und so gilt: Wer nicht nach deutschen Konzentrationslagern im Ersten Weltkrieg fragt oder sucht, wie soll er sie finden? Und so wirkt ein schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg errichtetes Tabu bis heute nach und steht einer unbefangenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus weiterhin im Wege - wie der beschriebene Fall veranschaulicht.

Weder ist das NS-Regime vom Himmel gefallen, noch war und ist der Ungeist des Nationalsozialismus an die Herrschaftsperiode des Dritten Reiches gebunden. Vielmehr hat er sich schon vorher in der Mentalität zahlreicher und einflussreicher Deutscher ausgeprägt. Geht man von dieser Denkvoraussetzung aus - und alles spricht dafür, dass es nicht anders gewesen sein kann -, müssten sich in den Jahren und Jahrzehnten vor 1933 Phänomene und Verhaltensformen finden lassen, die offenbaren, dass die Brutalität des NS-Regimes bereits vorher angelegt war und diese Entwicklung auch daran ablesbar ist, was die Menschen dachten und wie sie handelten.

Über die Ursachen der Grausamkeit des Nationalsozialismus sind die Deutschen jedoch nach wie vor nicht wirklich aufgeklärt. Allzu vordergründig hat man selbst heute noch - und hier beginnt schon der Irrtum - die Jahre von 1933 bis 1945 im Blick. Doch eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, die sich auf diesen Zeitraum konzentriert, lässt zu vieles vergessen und damit unberücksichtigt. Alexander und Margarete Mitscherlich haben für die Deutschen nach 1945 die "Unfähigkeit zu trauern" festgestellt. Aber schon nach 1918 hätte die Trauerarbeit beginnen müssen, um den fortgesetzten Irrweg in die Barbarei zu beenden.

Die deutsche Katastrophe begann nicht 1933, sondern war in mancherlei Entwicklungssträngen vorgeformt und vielfach virulent. Viele dieser disparaten Elemente wurden bereits einmal gebündelt und zur Siedehitze gesteigert in dem chauvinistischen Aufflammen des Ersten Weltkrieges, der die Verbindungslinien vom Wilhelminischen Kaiserreich zum „Dritten Reich“ besonders deutlich aufzeigt. Von der brutalen Kriegführung der Obersten Heeresleitung (OHL) im Ersten Weltkrieg führt ein gerader Weg zu den von der deutschen Wehrmacht und den Schergen der Nazi-Organisationen von 1939 bis 1945 begangenen Gräueltaten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang z.B. an:

- die Massaker an der belgischen Zivilbevölkerung im August 1914 und die Brandschatzung von Löwen, Dinant und anderen Orten im August/September 1914;

- die Deportation von Zehntausenden von französischen Bürgern der Städte Lille, Roubaix und Turcoing im April 1916 und ihr Abtransport unter menschenunwürdigen Bedingungen in Viehwagen und Eisenbahnwaggons;

- die von der OHL auf dem Rückzug der deutschen Truppen 1917/18 angeordnete Verwüstung Nordfrankreichs, die verbunden war mit der systematischen Flutung von Kohlebergwerken, der planmäßigen Zerstörung von Obstplantagen und der Umwandlung eines etwa 1800 km2 umfassenden Geländestreifens in eine tote, öde Wüste bei gleichzeitigem Abtransport der Bewohner dieses Gebiets;

- die noch im Oktober 1918 von der OHL befohlene Sprengung und Flutung aller Bergwerke der Départements du Nord und Pas-de-Calais und damit die Vernichtung der Existenzbedingungen von Hunderttausenden von Menschen.

- Insofern gilt noch immer, wozu der Wiener Historiker Rudolf Neck vor über vierzig Jahren seine deutschen Kollegen aufgerufen hat, „den weiteren Zusammenhängen nachzugehen, die die Epoche des Nationalsozialismus mit einer ferneren Vergangenheit verbindet, wobei sich (...) gerade auf dem Gebiet der politischen und Macht-Geschichte mannigfache Ansätze zum Dritten Reich in früheren Zeiten feststellen lassen. Von besonderer Bedeutung bleibt dabei die Zeit des Ersten Weltkrieges“. In diesem Zusammenhang  stelle „die Frage nach der Kontinuität in der deutschen Geschichte letzten Endes das Kernproblem der sogenannten ‚unbewältigten Vergangenheit' dar“. (R. Neck, Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg. In: Ernst W. Graf Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914-1917, Frankfurt am Main/Berlin 1964, S. 145-157.