Verrechnet

 

Von Holger Politt, Warschau

 

Es bleibt dabei. Seit 1988 ist es keiner Regierung Polens gelungen, nach Parlamentswahlen wiederum das Mandat für die Regierungshebel zu erhalten. Nach spätestens vier Jahren Regierungszeit geht es im besten Fall zurück auf die Oppositionsbänke. Daran vermochte auch Jarosław Kaczyński nichts zu ändern, obwohl er es zu einem für seine Partei durchaus günstigen Zeitpunkt mit vorgezogenen Parlamentswahlen erzwingen wollte. Zumindest sollte PiS nach 2005 zum zweiten Mal stärkste Partei werden, was ihm die Chance eröffnet hätte, die Amtsgeschäfte fortführen zu können. Seine Rechnung war bestechend klar, doch haben die Wähler ihm letztendlich einen dicken Strich durch dieselbe gemacht.

 

Seine Wahlstrategen errechneten ein Szenario, wonach 5 Millionen Wählerstimmen ausgereicht hätten, den anvisierten ersten Platz zu erreichen. Für PiS stimmten am 21. Oktober tatsächlich 5,2 Millionen Menschen - sage und schreibe zwei Millionen mehr als 2005! Noch nie hatte eine Regierungspartei, die Wählerstimmen gezählt, so kräftig gewinnen können, doch unter dem Strich blieb die eklatante Fehlrechnung der eigenen Strategen stehen. Denn die der Rechnung zugrunde gelegte Wahlbeteiligung von höchstens 50% wurde „eingehalten“ in den PiS-Hochburgen, also im Osten und Südosten des Landes, in den vielen Kleinstädten, auf dem Lande. Die Großstadt aber durchbrach das Szenario und nahm auf - wie man hierzulande gerne betont - europäischem Niveau an der Wahl teil. In Warschau selbst (über 70% Wahlbeteiligung!) gingen gegen Abend in einzelnen Wahllokalen sogar die Stimmzettel aus, was zur Folge hatte, dass die ersten Hochrechnungen am Wahltag mit fast dreistündiger Verspätung erst gegen 23:00 Uhr veröffentlicht werden konnten.

Jedermann wusste da bereits, dass in dem sich sonst so korrekt gebenden PiS-Staat unerhörtes passiert sein musste. Das Spektakel war vorbei. Obwohl PiS in den Großstädten im Schnitt 25% der Wählerstimmen holte, wurde hier über die in dieser Deutlichkeit nicht für möglich gehaltene Niederlage entschieden. Seit den Regional- und Lokalwahlen 2006 war den PiS-Strategen klar, dass in den Großstädten bei genau dieser Zahl Schluss sein wird. Der Rest, so das seitherige Kalkül, müsse in den Klein- und Mittelstädten, auf dem Lande, also in der Provinz geholt werden. Auch deshalb war ein gut lesbares, verständliches, zugleich deutlich polarisierendes Programm vonnöten. Jarosław Kaczyński verstand sich als Verfechter des authentischen, des aufrechten, des woanders belächelten und häufig missverstandenen Polen. Er sah dieses katholisch und konservativ, bis ins Knochenmark auf die Werte von Tradition und Heimat eingeschworen. Alle anderen waren ihm insgeheim suspekt, waren abwechselnd Elite, Geschäftemacher, korrupt und moralisch gesehen eben nicht das ganz richtige Polen. Dass er in dieser selbsternannten Rolle mitunter recht komisch wirken konnte, ging ihm nie auf. Er sah sich im Recht und stritt mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln für die Gerechtigkeit.

„Nur eine Schlacht verloren“

Die Donquichotterie hielt genau bis zur ersten Hochrechnung, mit der Kaczynskis Traum eines neuen Polen sich in Luft auflöste. Das Ergebnis ist ernüchternd, denn genau besehen zahlt Polens ehemaliger Premier nun die Zeche für jenen Husarenritt, der ihn vor zwei Jahren an die Machthebel brachte. Der Sieger nimmt alles, tönte er damals und ganze 27% der abgegebenen Wählerstimmen hinter sich habend. Der Verlierer bekommt nichts, so nunmehr die Umkehrung, auch wenn gar nicht abgestritten werden darf, dass die Rechtskonservativen in ihrem Wählerspektrum enorme Gewinne erreichten. Der Verlierer heißt Jarosław Kaczyński, der nunmehr für seine Partei PiS zum großen Hindernis geworden ist, um dem Wahlsieger PO wenigstens die verlockende Verfassungskoalition unterschieben zu können. Eine Verlockung, die mit Zweidrittelmehrheit im Parlament zu haben wäre. PO und PiS zusammen haben sie, so dass sie nun eigentlich das vollführen könnten, was sie vor den Wahlen 2005 ankündigten - die allmähliche Änderung der Verfassung auf parlamentarischem Wege. Die Argumentation, vorerst nur auf PiS-Seite, fand sich schnell. Jenseits der politischen Alltagsfragen, für die nun die neue Regierungskoalition aus Rechtsliberalen und gemäßigten Bauernpolitikern die Verantwortung übernommen habe, gebe es aber wichtige Lebensfragen des Landes, die nur auf Verfassungsebene entschieden werden können. An erster Stelle wird - wie bekannt - immer auf die Änderung des Wahlrechts angemahnt, also der Übergang vom Verhältnis- zum Mehrheitswahlrecht.

Nach augenblicklichem Stand der Dinge teilen sich PO und PiS das Land auf. Nur sie hätten Aussichten, in den einzelnen Wahlkreisen vorne zu liegen, aus denen ein einzelner Abgeordneter oder auch die ersten zwei, drei Abgeordneten ins Parlament einzögen. PiS hat wie gesagt die Hochburgen im Osten und Südosten des Landes, PO herrscht weitgehend unangefochten im übrigen Land. Wer genauer auf die Karte der Stimmenanteile schaut, der vermag sogar längst überholte Grenzziehungen herauszufinden. Der ganze historische Flitter, der von Jarosław Kaczyński im Wahlkampf gerne eingesetzt wurde, wirkte in manchen Gegenden eben besonders kräftig, in anderen Gegenden hingegen verfehlte er seine Wirkung. Doch zurück zu der Möglichkeit, das Land unter die beiden großen rechten Gruppierung für Jahre politisch aufzuteilen.

Einstweilen verhindert der kleine Koalitionspartner der PO die Realisierung derartiger Träume. Die PSL nämlich wäre erstes Opfer solcher Änderungen im Wahlrecht, wäre sie doch kaum in der Lage, Wahlkreise zu gewinnen. In den Koalitionsverhandlungen konnte die PSL durchsetzen, dass einschneidende Änderungen des Wahlrechts nicht auf der Agenda der neuen Regierung stehen. Das andere große Hindernis für eine sogenannte Verfassungskoalition heißt Jarosław Kaczyński, denn die von ihm in den zurückliegenden zwei Jahren angefachte Polarisierung der politischen Szene in Gute und Böse macht es den anderen leicht, insofern niemand mit ihm noch zusammengehen kann, auch die Konkurrenz auf der rechten Seite nicht. Solange er bei PiS der starke Mann bleibt - gleichgestellt ob als Parteivorsitzender oder nicht - kann der frisch gewählte Mi-nisterpräsident Donald Tusk, der seinen überwältigenden Sieg im hohen Maße der Anti-Kaczyński-Stimmung verdankte, schlechterdings wenig machen. Wie lange der bisher in den eigenen Reihen weitgehend unangefochtene PiS-Chef den zunehmenden innerparteilichen Druck allerdings aushalten wird, ist eine andere Frage, die sicherlich innerhalb der kommenden Monate beantwortet werden wird.

Auch wenn der große Wahlverlierer nach den Wahlen davon sprach, dass zunächst einmal nur eine Schlacht verloren gegangen sei, nicht aber der ganze Krieg, gehen immer mehr Beobachter inzwischen davon aus, dass der Präsidentenbruder auf ganzer Linie verloren habe, also nicht mehr auf die politische Bühne zurückkehren werde, um die Geschicke des Landes zu bestimmen. Dies mögen voreilige Meinungen sein, doch die strategische Lage für PiS ist trotz der Zugewinne von zwei Millionen Wählerstimmen alles andere denn rosig. Eine Wiederholung des Konzeptes vom Herbst 2005 ist nahezu ausgeschlossen, sodass PiS im veränderten Koordinatensystem vor der Herausforderung steht, sich politisch weitgehend neu auszurichten. Alleine - so wissen es eigentlich alle - wird nichts mehr zu holen sein.

Bliebe noch der Blick auf die vierte Kraft, die den Einzug ins Parlament geschafft hat.

Die Ernüchterten

Bereits vor einem Jahr trat die SLD zusammen mit weiteren kleineren linksgerichteten Gruppierungen und der Demokratischen Partei (PD) unter der Bezeichnung LiD (Die Linke und Demokraten) bei den Lokal- und Regionalwahlen an. Die Tatsache aber, dass die zusammengeschlossenen Parteien damals weniger Stimmen holten als die Summe der Einzelergebnisse bei den Parlamentswahlen 2005, wurde erklärt mit dem schlichten Hinweis, der Wähler müsse sich erst an die neue Marke gewöhnen. Ein Probelauf also, der mit landesweit zusammengerechneten 16% der Stimmen gar nicht so schlecht ausfiel. Bei diesen Wahlen galt das Argument indes nicht mehr. Da die Summe der Einzelergebnisse 2005 knapp 17% betrug, wurde die Latte durch die LiD-Strategen frühzeitig auf die 20%-Marke gehoben. Garant des Erfolges sollte Aleksander Kwaśniewski sein, Polens Staatsoberhaupt der Jahre 1995-2005. Kaum einer durfte erwarten, dass der weithin geachtete Mann im Verlauf der Wahlkampagne eher zu einer Belastung für LiD werden sollte. Die Verkündung, er sei der Spitzenmann für LiD, erwies sich als folgenreicher Fehler, denn ohne selbst zu kandidieren, zehrte er fast ausschließlich von den Meriten der Vergangenheit. Die dann nachgeschobene Korrektur, er stünde notfalls als künftiger Ministerpräsident doch noch zur Verfügung, machte die Sache nicht besser. Kwaśniewski kam nicht in Form und bestätigte in seinem Auftreten insgeheim den Vorwurf der politischen Gegner, LiD sei ein lau gewordener Aufguss aus weit zurückliegender Zeit. Die Linken und die Demokraten hatten mit Kwaśniewski an ihrer Spitze im Wettlauf mit den PO-Liberalen keine Chance, beim Stichwort „bessere Zukunft“ bei jüngeren Wählern entscheidend zu punkten. Seine Zeit, dass musste er bitter zur Kenntnis nehmen, ist zumindest in der Innenpolitik Polens abgelaufen. Er wollte noch einmal Galionsfigur sein und fiel dabei ins Wasser. Wer in zehn Jahren Amtszeit nach und nach, und teilweise sogar ohne Not, die meisten der einstigen Grundsätze über Bord warf, steht dann selbst in der Rolle eines bekennenden „Europäers“ und „Demokraten“ inmitten dramatisch zugespitzter politischer Auseinandersetzungen plötzlich eher hilflos herum. Ihn trieb es in die politische Mitte und er wurde bitter enttäuscht. Die Mehrheit der einstigen PD-Wähler (2005 fast 3%) wandte sich von LiD ab und wählte PO. Eine stärkere Profilierung nach links hielt Kwaśniewski beizeiten für überflüssig.

Freilich darf das mäßige Abschneiden der Wahlaktion LiD nicht allein dem (geborgten) Spitzenmann angelastet werden. Die vorherrschende Botschaft war die Positionierung gegen die Kaczyńskis, in der Hoffnung, hier konsequenter auftreten zu können als PO. Immerhin rechnete man ja damit, dass PO auf eine eventuelle Koalition mit PiS Rücksicht nehmen musste. Man sah sich selbst in der Rolle desjenigen, der PO in dieser Frage vor sich hertreibt. Dabei traten Überlegungen zur Zukunft des Landes in den Hintergrund. Man wurde den Ruf nicht ganz los, eigentlich eine Formation zu sein, die zurück wolle in die Vor-Kaczyński-Zeit. Linke Kritiker machten frühzeitig darauf aufmerksam, dass der Aufstieg der Kaczyńskis sehr viel mit den vielen sozialen Verwerfungen, den Versäumnissen und den offensichtlichen Ungerechtigkeiten in der Zeit bis 2005 zu tun hat. Dazu aber gab es keine Aussagen. Die eifrig vorgetragene Botschaft hingegen, das Bündnis der einstigen Gegner zeige, wie alte Gräben auch in Polen sehr wohl zugeschüttet werden können, hat sich im Umfeld der teils dramatischen Auseinandersetzungen als Ladenhüter erwiesen. Geholfen hat am Ende bei vielen sich links verstehenden Wählern nur die Einsicht, dass auf der linken Seite eine relevante Alternative nicht in Sicht war.