Auf der Schwelle zur Fünften Republik?
Deutsch-polnische Betrachtungen nach der
Wahl
Friedrich Leidinger
Selten dürfte eine Wahl zum polnischen Parlament vom politischen Berlin
mit soviel Aufmerksamkeit beobachtet, selten ihr Ausgang mit soviel Spannung
erwartet und das Ergebnis mit soviel Erleichterung kommentiert worden sein.
Doch das große Interesse an den politischen Verhältnissen in unserem
Nachbarland steht in einem gewissen Missverhältnis zur Schärfe der Wahrnehmung
und Reichweite der Analyse in den veröffentlichten Kommentaren. Vielmehr
scheint es so, als werde die hiesige Wahrnehmung immer noch von einfachen,
klischeehaften Vorstellungen bestimmt.
Was ist am 21. Oktober passiert?
Die polnischen Wähler haben in großer Zahl - so zahlreich wie noch nie seit
1989 - den Weg an die Urnen gefunden. Gemessen an Bundestagswahlen ist zwar
eine Wahlbeteiligung von knapp 53% immer noch schwach, gemessen an den vorangegangenen
Wahlen vom September 2005 mit ihren 40% ist diese Beteiligung aber als eine
gute Überraschung und ein Erfolg für die Demokratie in Polen zu verstehen, wenn
man denn eine hohe Wahlbeteiligung als demokratisches Gütekriterium ansehen
will. Interessant scheint, dass die Wahlbeteiligung in den städtischen
Ballungsräumen deutlich über dem Landesdurchschnitt lag, in den Wojewodschaften Masowien betrug
sie über 60%, in Kleinpolen über 56%, in der Hauptstadt Warschau gingen sogar
fast dreiviertel aller Wahlberechtigten zur Wahl, in der Wojewodschaft
Oppeln dagegen nur 45% und in Swiętokrzyskie nur
47%.
Verloren hat PiS
- Recht und Gerechtigkeit, die Partei des Staatspräsidenten und des
Ministerpräsidenten, obwohl sie sowohl absolut als auch prozentual erheblich an
Stimmen gegenüber den Wahlen vor zwei Jahren zugelegt hat - 800.000 zusätzliche
Wähler bescherten ihr einen Sprung von 27% auf 32% und damit 11 Sitze mehr im
Sejm. Dennoch hat dieser Zuwachs nicht gereicht, um die Regierungsmacht, die
zwei Jahre zuvor mit Hilfe der nationalkatholischen und antisemitischen LPR und
der radikalpopulistischen Selbstverteidigung (Samoobrona)
errungen wurde, zu verteidigen. Denn die Bürgerplattform PO des Donald Tusk kam auf 41% aller Stimmen und verfehlte die absolute
Mehrheit im Sejm nur um 10 Sitze. Die Linke, angetreten in neuer Formation mit
den Linksliberalen, erreichte gerade einmal 13%, kaum mehr als bei der letzten
Wahl die SLD. Stabilisiert hat sich die Bauernpartei PSL, die knapp 9% der
Stimmen erhielt und 31 Abgeordnete in den Sejm entsendet.
Der Wahlsieger, die
Bürgerplattform PO, hatte vor allem viel Zustimmung in den Großstädten - in
Posen erreichte sie einen Spitzenwert von fast 59%, in Warschau 54% bzw. 45%,
in Danzig 54% und in Krakau 47%. Auf dem Lande dagegen - und vor allem in den
südöstlichen Regionen - überwog das Potential der PiS
- in Nowy Sącz holte
sie mit 51% und in Rzeszów mit 48% ihre besten
Ergebnisse. Die Analyse der Wahlergebnisse zeigt, dass PiS
vor allem bei den über 60-Jährigen einen hohen Stimmenanteil (über 40%)
einfahren konnte, wogegen die Wähler unter 50 mehrheitlich PO gewählt haben.
Auch die Linke hatte bei den Älteren ein besseres Ergebnis. Die Stimmenanteile
der Linken liegen zwischen 6% (Nowy Sącz) und 22% (Sosnowiec).
Auf das Niveau von Splitterparteien gesunken und wegen der 5-%-Klausel nicht
mehr im Sejm vertreten sind die beiden ehemaligen Regierungsparteien LPR (1,3%)
und Samoobrona (1,5%).
Was lässt sich nun aus solchen
Wahlergebnissen herauslesen? Die Wahl war eine Entscheidung der Mehrheit gegen
die amtierende Regierung und auch gegen die Politik des Staatspräsidenten. Aber
welche Politik war damit gemeint? Sicher zeigt das Ergebnis, dass die
polnischen Wähler weder antisemitische noch antideutsche Propaganda honorieren.
Auch eine zu starke klerikale Ausrichtung der Politik findet offenbar bei der
breiten Mehrheit keinen Anklang. Zwar hat Jarosław Kaczyński es
verstanden, vor allem die Wähler der LPR in sein Lager zu treiben. Aber als er
im vergangenen Juli in Częstochowa life im
Staatsfernsehen übertragen auf der Familienwallfahrt des Senders Radio Maryja und seines Hetzpredigers Tadeusz Rydzyk
den versammelten Gläubigen - es waren über 400.000 - zurief: „Ihr seid das
wahre Polen“, dürfte er damit bei vielen, vor allem in den gebildeten
städtischen Milieus, den starken Wunsch nach einer politischen Wende provoziert
haben. Man darf annehmen, dass gerade diese Wählergruppen ihre Aversion gegen
die Ziele und gegen den Stil der Brüder Kaczyński und ihren pathetischen
Patriotismus zum Ausdruck gebracht haben.
War die abgewählte
„nationalkonservative“ Regierung aber tatsächlich rechts? Zweifellos saßen
einige Rechte - und mit dem Schulminister Giertych
auch ein rechtsradikaler Antisemit - am Kabinettstisch. Aber sowohl Jaros³aw,
als auch sein Präsidentenbruder Lech Kaczyński haben es geschafft, die
polnisch-israelischen Beziehungen auf einen guten Stand zu bringen, auf den sie
nach Meinung vieler langjähriger Beobachter in den Jahren zuvor nicht kommen
konnten. Wichtige Projekte, allen voran der Bau eines jüdischen Museums in
Warschau, über die jahrelang verhandelt wurde, konnten schließlich auf den Weg
gebracht werden. Dabei spielte wohl auch die Kanzlei des Präsidenten eine
tragende Rolle.
Die radikale Privatisierung aller
öffentlichen Wirtschaftsunternehmen wurde unter den Kaczyńskis gestoppt.
Diese Regierung verfocht im Unterschied zu den linken und bürgerlichen
Vorgängern keine marktliberale Politik. Ihre Programmatik im Wirtschafts- und
Sozialbereich war eher sozialdemokratisch denn liberal. Dennoch verbesserten
sich die Wirtschaftsdaten, das Wachstum erreicht in diesem Jahr 6%, private und
öffentliche Investitionen erreichten Rekordmarken, die Zahl der Beschäftigten
stieg ebenfalls stark und insbesondere sank die Arbeitslosigkeit beträchtlich,
auch wenn dieser Rückgang unter anderem durch Abwanderung von Arbeitskräften in
andere EU-Länder begünstigt wurde.
Die Kaczyński-Regierung
orientierte sich politisch an der Lage der Modernisierungsverlierer, die vor
allem auf dem Land und in den kleinen Städten anzutreffen sind. Denn der Boom
geht an diesen Menschen vorbei, ihre materielle Lage bessert sich kaum. Immer
mehr Familien sind von der Arbeitsmigration eines oder mehrerer Mitglieder
betroffen. Fortschritt bedeutet für sie den Zerfall von Familie und den Verlust
sozialer Schutzräume. Wichtige Themen wie Altersarmut oder Reform des
Gesundheitswesens sind von der PiS-Regierung
erstmalig angesprochen worden. Zwar hat die Regierung weder für das von
Dauerstreiks der Pflegekräfte und Ärzte geplagte Gesundheitswesen noch für die
Bildungs- und Schulmisere brauchbare Lösungen geschafft. Aber sie bot eine
Alternative zur traditionellen Linken, die sich in Polen dem Marktliberalismus
der modernen urbanen Schichten verschrieben hat. Diese soziale Orientierung der
Kaczyńkis, die sich in ihrer Propaganda gegen
Reiche und Neureiche, Libertins, gottlose Intellektuelle, Lobbyisten, korrupte
Eliten etc. ausdrückte, ist aber auch die eigentliche Ursache ihres Rufs als
dumm, intelligenzfeindlich und ungeschlacht. Wer so dachte, übersah, dass die
Adressaten ihrer Rhetorik nicht die Akteure des Aufschwungs in den schicken
Innenstadtbüros, sondern das verlorene, vom Aufschwung beiseite geschobene
Kleinbürgertum und Prekariat der halbverlassenen
Dörfer und Kleinstädte war. Insofern spiegelt das Wahlergebnis in gewisser
Weise fast exakt den „Erfolg“ der Kaczyńskis, sich dieses „überflüssigen“
Drittels der Modernisierungsgesellschaft anzunehmen, das von der Linken nicht
mehr angesprochen wird.
Gescheitert ist die Kaczyński-Regierung
auch und vielleicht vor allem mit ihrem Bemühen, der wuchernden Korruption und
Wirtschaftskriminalität mit einem starken Staat zu begegnen. Sonderbehörden,
die direkt dem Premierminister unterstellt waren, ließen mit ihren Bespitzelungsaktionen
im Dienste der Korruptionsbekämpfung Zweifel an einer rechtsstaatlichen
Verwaltung wachsen. Am Ende gab es den Verdacht, dass der Regierungschef, der
sich den kompromisslosen Kampf gegen das Verbrechertum auf die Fahne
geschrieben hatte, wie ein Feuerwehrmann, der zum Brandstifter wird, solche
Verbrechen letztendlich selbst angestiftet hatte. Zur Glaubwürdigkeit der
Regierung trug auch nicht bei, dass sie einerseits absolute Transparenz und
Sauberkeit proklamierte und andererseits der Korruption verdächtige Minister um
des Machterhalts willen im Amte beließ. Und die Mehrheit war wohl der
effektvoll für die Abendnachrichten inszenierten Verhaftungen vor laufenden
Kameras müde.
Merkwürdig, dass der abgewählten
Regierung die Hauptverantwortung für die außenpolitische Isolation Polens in
der EU und in den Beziehungen zu Russland angelastet wird. Man darf nämlich
vermuten, dass die Kaczyńskis so wirklich keine eigenen Vorstellungen
darüber, wie sie polnische Interessen nach außen vertreten sollten, gehabt
haben. Insbesondere das Verhalten bei der EU-Ministerratskonferenz über den
EU-Vertrag zeugte eher von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, statt von
einer harten, kompromisslosen Haltung. Die Schlagworte „Nizza oder Tod“ und
auch die merkwürdige „Quadratwurzelformel“ sind keine Erfindung der alten
Regierung. Sie sind authentische Produkte der Bürgerplattform, und die Kaczyńskis
haben diese Konzepte in ihrer außenpolitischen Unerfahrenheit und mangels
eigener Entwürfe adaptiert. So hat es gerade in einem Bereich, in dem sich in
den vergangenen 2 Jahren nach Meinung vieler auswärtiger Beobachter die
heftigsten Kursänderungen der Politik abgespielt haben, mehr Kontinuität
gegeben, als es den Anschein hatte, und diese Kontinuität setzt sich mit großer
Wahrscheinlichkeit fort, nachdem der im Streit mit Premier Kaczyński als
Verteidigungsminister entlassene Radosław Sikorski - ein Architekt der
polnisch-amerikanischen Zusammenarbeit - soeben zum Außenminister des Kabinetts
unter Donald Tusk avancierte.
Die neue Regierung wird also außen- und europapolitisch den bisherigen Kurs mit mehr Geschmeidigkeit und Stil fortsetzen. Ob dem Erfolg beschieden ist, bleibt abzuwarten. Klar ist aber auch, dass die Spannungen zwischen Berlin und Warschau keineswegs damit erledigt sind. Im Gegenteil: Der jüngste Beschluss über die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, der ohne Absprache mit Polen erfolgte, der Bau der Ostseepipeline, die Eigentumsprozesse ehemaliger polnischer Besitzer und Spätaussiedler und schließlich die immer noch nicht entschiedene Klage der „Preußischen Treuhand“ vor dem Europäischen Gerichtshof markieren nur einige der Konfliktthemen, die jederzeit wieder zu heftigem Streit zwischen den beiden Ländern führen können und werden. Es bleibt voraussichtlich genug für bürgerschaftliches Engagement im Verständigungsprozess zu tun.