Zivilgesellschaft
in Polen - Schule der Demokratie?
Traditionen
der Zivilgesellschaft und der schwere Übergang in die Demokratie
Von Stefan Garsztecki
Alexis de Tocqueville hat in seinem berühmten
Buch „Über die Demokratie in Amerika“ die zahlreichen Vereinigungen und
Verbände in den Vereinigten Staaten als Schule der Demokratie beschrieben. Ihm
zufolge lernen Menschen in derartigen Zusammenschlüssen gesellschaftliches
Konfliktverhalten, machen sich mit anderen Normen und Werten vertraut und
erwerben so Eigenschaften, die für das Funktionieren von Demokratie auch auf
der größeren politischen Bühne unabdingbar sind. Mit dem Zusammenbruch des
Realsozialismus wurde im Zuge der Transformation der ostmittel- und
osteuropäischen Gesellschaften auch die Bedeutung der Zivilgesellschaften für
die Konsolidierung der Demokratie von Sozialwissenschaftlern in West und Ost
mehr und mehr erkannt.
Dabei wurde dieses Thema bereits
vor dem politischen Umbruch von ostmitteleuropäischen Dissidenten und
Oppositionellen wie Adam Michnik, Jacek Kuroń,
Václav Havel oder György Konrád entdeckt und durch sie auch westlichen
Intellektuellen wieder vertraut. Die ostmitteleuropäischen Dissidenten sahen im
Wachsen einer Zivilgesellschaft von unten eine Möglichkeit, den allmächtigen
Staat in Teilen auszuhebeln und so eine Gegengesellschaft zu etablieren. Ihr
Konzept von Zivilgesellschaft war damit gegen den Staat gerichtet, gab sich
antipolitisch, wie es auch Konrád 1985 in einem Buch mit dem Titel
„Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen“ formulierte, und legte in der Gewerkschaft
NSZZ [Niezależny Samorządny
Związek Zawodowy -
Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft] Solidarność großen Wert
auf die Trennung der Sphären Staat und Gesellschaft. Sie knüpften damit an die
liberale politische Tradition des Begriffs im Sinne von John Locke an, der
gleichfalls die Schutzfunktion der Zivilgesellschaft, die Verteidigung von
Bürgerrechten gegenüber dem Staat betont hatte. In den sozialistischen Staaten
war diese Auffassung von Zivilgesellschaft sicherlich geeignet, Freiräume und
Privatsphäre des einzelnen Bürgers zu sichern und der Einvernahme des
politischen Systems durch die herrschenden Sozialisten zu begegnen.
In der liberalen Demokratie
westlichen Musters, die sich ab 1989 auch in den vormals sozialistischen
Staaten auszubreiten begann, ist jedoch eine andere Auffassung und Tradition
der Zivilgesellschaft dominant, die in ihr einen Transmissionsriemen zwischen
der privaten Lebenswelt und dem stricto sensu politischen Bereich sieht. Für Jürgen Habermas kann eine funktionierende Zivilgesellschaft damit
auch einem wachsenden Legitimationsdefizit des Staates und einer mangelnden
Partizipation der Bürger entgegenwirken. In den Augen westlicher Theoretiker
ist Zivilgesellschaft mehrheitlich also ein Konzept, um die Demokratie wieder
dem Bürger näher zu bringen - und somit eine Ergänzung staatlicher
Institutionen und Strukturen.
Für Polen - wie auch für andere junge
ostmitteleuropäische Demokratien -
bedeutete dies nach 1989 einen einschneidenden Wandel im Konzept der
Zivilgesellschaft. Selbst wenn man die Gewerkschaft Solidarność als
Variante einer Zivilgesellschaft begreift - wie dies viele polnische Soziologen
nicht ohne Berechtigung tun -, sind doch die Unterschiede zwischen einer
Zivilgesellschaft in einem autoritären System mit totalitärem Anspruch und
derjenigen in einer liberalen Demokratie westlicher Provenienz gewaltig. Dies
bedeutete vor allem eine Umstellung von einer Lockeschen Tradition auf eine Tocquevillesche Auffassung von Zivilgesellschaft. Der Staat
wird nun nicht mehr bekämpft, es findet keine Abgrenzung mehr statt, kein
Aufbau von Schutzräumen, sondern der Staat ist oft Partner von
Nichtregierungsorganisationen (Non Governmental Organizations - NGO), alimentiert sie z.T.
und ist für seine Legitimation auf ihr Feedback angewiesen. Es entsteht mithin
ein oft komplementäres Verhältnis, ohne das gesellschaftskritische Potential
der Zivilgesellschaft auszublenden.
Erschwert wurde dieser
Paradigmenwechsel nach 1989 durch einen personellen Aderlass der
Zivilgesellschaft durch die Abwanderung von Solidarność-Eliten in die
Politik, durch eine fortbestehende Skepsis gegenüber dem politischen System und
durch den Bruch des ethischen Codes der Solidarność-Ära, deren hoher
moralischer Anspruch an die Gesellschaft und die Politik gleichermaßen in den
Mühen der Ebene zerbrach.
Wie hat sich angesichts dieser
schwierigen Rahmenbedingungen die polnische Zivilgesellschaft nach 1989
entwickelt, wie sehen die institutionellen und gesetzlichen Grundlagen für NGOs aus und muss man heute eher von einem im Vergleich mit
älteren westlichen Demokratien nach wie vor schwachen zivilgesellschaftlichen
Sektor sprechen - wie dies viele westliche Forscher und auch polnische
Soziologen tun - oder erfüllt dieser Bereich bereits die ihm von
Sozialwissenschaftlern zugeschriebenen Funktionen?
Rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft
in Polen
Eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Sektors in
Polen war zweifellos die Entfaltung der lokalen und regionalen Selbstverwaltung
1990 bzw. 1998. Hierdurch wurde der aus der Volksrepublik Polen überkommene
Zentralismus erheblich abgeschwächt und die NGOs
erhielten insbesondere in den lokalen Selbstverwaltungseinheiten, d.h. den
Gemeinden und Städten, Partner für ihre Aktivitäten.
Die polnische Verfassung von 1997
unterstützt die Gründung und Tätigkeit der NGOs gleichfalls
und garantiert in Artikel 58
Vereinigungsfreiheit. Zudem unterstreicht die polnische Verfassung in ihrer
Präambel auch das Prinzip der Subsidiarität als eine der Grundlagen der
Republik, eine weitere wichtige Bezugsquelle für die Zivilgesellschaft, da der
Allmacht des Staates hier deutliche Grenzen gesetzt werden.
Grundlegend für die Aktivitäten
der NGOs ist daneben aber vor allem das Gesetz über Gemeinnützige
Tätigkeiten und das Volontariat (Freiwilligenarbeit) aus dem Jahr 2003. Auf diesem
Wege wurde das Prinzip der Gemeinnützigkeit gesetzlich verankert, der
Freiwilligeneinsatzes abgesichert sowie die Finanzsituation der NGOs deutlich verbessert. Es wird nun jedem polnischen
Steuerzahler die Möglichkeit eingeräumt, 1% seines Einkommens zugunsten von NGOs abzuführen. Das Gesetz legt ferner Nachdruck auf die
Zusammenarbeit der NGOs mit den lokalen
Selbstverwaltungen.
Entwicklung der Zivilgesellschaft nach 1989
Mit dem Durchbruch zur Demokratie
erfolgte 1989 auch eine fast explosionsartige Zunahme von Vereinigungen,
Assoziationen und Stiftungen. Soziologen der Universität Warschau gründeten
1990 unter dem Namen Klon/Jawor zunächst eine
Datenbank zur Registrierung von NGOs, die im Jahr
2000 in eine Vereinigung gleichen Namens umgewandelt wurde
(http://klon.org.pl). In ihren Jahresberichten wie auch im Portal für NGOs (http://www.ngo.pl) lässt sich die Entwicklung des sogenannten Dritten Sektors in den letzten Jahren sehr gut
untersuchen.
Ende 2006 waren danach in Polen
55.000 Assoziationen und etwa 8.200 Stiftungen registriert, allerdings erst
einige Tausend mit dem Status der Gemeinnützigkeit. Ungefähr ein Drittel der NGOs ist älter als zehn Jahre. Sie decken inhaltlich dabei
eine große Breite an Aktivitäten ab. Knapp 40% sind im Bereich Sport, Erholung,
Tourismus und Hobby aktiv, 12,8% im Feld Kultur und Kunst, 10,3% im
Erziehungsbereich, 9,9% auf dem sozialen Gebiet und 8% im Gesundheitsbereich.
Für 120.000 Menschen sind die NGOs der Arbeitgeber,
darunter für 75.000-80.000 der Hauptarbeitsplatz. Die Mitgliedschaft in allen NGOs belief sich im Jahr 2004 auf geschätzte 7-7,5
Millionen Menschen, wobei diese Zahl bis 2006 leicht rückläufig war. Eine
wesentliche Unterstützung in ihrer Tätigkeit erhalten ca. 40% der NGOs durch Freiwillige. Die Einkünfte der NGOs überstiegen im Jahr 2005 bei etwa der Hälfte keine
10.000 Z³oty (ca. 2.750 €), jede zehnte NGO verfügte im gleichen Jahr über
keinerlei Einkünfte. Zuwendungen erhielten NGOs im
Jahre 2005 durch Mitgliedsbeiträge (59,5%), seitens der Selbstverwaltungseinheiten (43,5%) bzw. der
Regierung (19,3%), als Spenden von Einzelpersonen (35,5%) oder von Firmen bzw.
Institutionen (34,5%). Lediglich 3% der NGOs waren
bis Ende 2006 Nutznießer der EU-Strukturmittel, das sind 30% der beantragenden NGOs. Hauptgrund für diese geringe Antragsquote ist vor
allem die schlechte Finanzausstattung der Vereinigungen, so dass sie die
erforderlichen Eigenmittel nicht aufbringen können, sowie mangelnde Erfahrung.
Die wichtigsten Kooperationspartner für die Vereinigungen und Verbände sind die
lokalen Selbstverwaltungseinheiten, Schulen, Krankenhäuser, Museen, aber auch
die lokalen Medien. Hauptproblem neben der Finanzsituation ist es laut Aussagen
von Vertretern des Dritten Sektors vor allem, Menschen für die Mitarbeit zu
gewinnen.
Interessant ist vor diesem
Hintergrund auch ein Blick auf die Mitarbeit in NGOs
nach Geschlecht. Nach den Angaben des Jahres 2006 waren nur etwa 26% der
Mitglieder Frauen. Dabei ist die Verteilung sehr unterschiedlich. Im Bereich Sport,
Erholung und Tourismus waren nur 14% Frauen, im Gesundheitsbereich 16%, aber im
Sozialbereich 67% und in gesellschaftspolitischen Verbänden (Schutz der
Menschenrechte etc.) 55%. In den Vorständen der Vereinigungen sind Frauen mit
ca. 30% vertreten, unter den Mitarbeitern aber mit 60%!
Eine Analyse von
Meinungsforschungsinstituten, Experten und führenden NGO-Vertretern, die im
Rahmen des Projektes Index der Zivilgesellschaft CIVICUS (http:// ba
Im Vergleich mit etablierten
westlichen Ländern ist die Bürgergesellschaft in Polen wie auch in den anderen
jungen Demokratien Ostmitteleuropas noch unterentwickelt. Die Gründe hierfür
sind vor allem in der noch ungenügenden
Finanzausstattungen und in der nach wie vor großen Distanz gegenüber dem
Bereich der Politik zu suchen.
Langsames Wachsen der Bürgergesellschaft
Auch Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes
CBOS (Centrum Ba
Weitere Informationen zum Thema: www. ba
Dr. Stefan Garsztecki ist Geschäftsführer des Seminars für ost- und
mitteleuropäische Studien, Studiengang Integrierte Europastudien, Universität
Bremen.