Spurensuche von Auschwitz nach Ahrensbök (Ostholstein)

 

Von Jörg Wollenberg

 

„Ahrensbök und die nördlichen Dörfer der Gemeinde waren schon seit November 1944 von Kieler Bombengeschädigten stark belegt. Sie erhielten aber am 10. Februar 1945 weitere Einquartierung durch etwa 170 Ostpreußen, die von Königsberg-Pillau mit der ‚Cap Arcona' nach Neustadt und von dort nach Eutin mit der Eisenbahn gebracht worden waren. Bei ähnlich ungünstiger Witterung wie am Sonntag vorher bei den Westpreußen trafen diese am Sonnabendmittag auf offenen Lastautos ein. Schon am Nachmittag nach gründlicher Speisung und Durchwärmung erfolgte die Verteilung.“

 

So enden die Notizen des Rektors der Ahrensböker Volksschule. In gestochener Handschrift hat sie Hugo Rathje in das „Schulbuch“ am 12. Februar 1945 eingetragen. Wenige Wochen später, am 13. April 1945, beendeten rund 500 KZ-Häftlinge aus Auschwitz und Mittelbau-Dora ihren Todesmarsch in der Gegend von Ahrensböck. Noch auf dem Weg von Lübeck über Curau nach Ahrensbök waren Häftlinge erschossen worden. „Unrecht war unser Tod. Sechs unbekannte KZ-Häftlinge. Den Lebenden zur Warnung, den Kommenden zur Mahnung“ lautet die Inschrift auf einem der Grabsteine des Ahrensböker Friedhofes für die KZ-Häftlinge, die man im Straßengraben vor Dunkelsdorf aufgefunden hatte und die am 14. April 1945 beigesetzt wurden. Einigen der Überlebenden des Todesmarsches bin ich damals begegnet. Ich holte in jenen Tagen Milch für die Familie vom Bauern Kipp aus Neuglasau. Hier, rund drei Kilometer von Ahrensbök entfernt, hielt sich damals der letzte Lagerführer von Auschwitz-Fürstengrube mit zwanzig Funktionshäftlingen auf dem Hof seines Vaters auf. Andere KZ-Häftlinge, die bei Bauern, Kaufleuten und Handwerkern in der Region um Arbeit und Brot nachsuchten, fanden Kontakt zu den Ahrensbökern, u. a. Harry Hermann Spitz, nach 1945 erster Leiter der Musikabteilung des NWDR, Jan-Kurt Behr, seit den fünfziger Jahren Dirigent an der Metropolitan Opera in New York, Robert Alt, der bald darauf beim Aufbau des Erziehungswesens in der SBZ/DDR eine herausragende Rolle übernehmen sollte, und Salomon Lubicz, polnischer Häftlingsarzt aus Fürstengrube, der in Paris und Bordeaux nach 1945 praktizierte. Dem in Dobra/Polen geborenen jüdischen Häftlings-Dentisten Berek Jakubowicz (Benjamin Jacobs) gestattete man in den letzten Apriltagen gar, sich als Zahnarzt in der Region (Sarau) zu betätigen und den Bauern ihre Goldzähne zu ziehen. Und einigen Überlebenskünstlern wie dem Lagerältesten Hermann Joseph oder dem polnischen Schuster-Kapo Mendel Dawidowicz gelang es noch vor Ende des Krieges, das harte Nachtlager durch fremde Federbetten zu ersetzen.

Die meisten von ihnen wurden Ende April/Anfang Mai 1945 gezwungen, erneut zu einem längeren Fußmarsch aufzubrechen: zur letzten Etappe ihres Todesmarsches von Siblin über Süsel zum über 200 Meter langen, für 1365 Gäste vorgesehenen Luxusliner „Cap Arcona“, der seit längerem manövrierunfähig in der Lübecker Bucht bei Neustadt lag und als Sammellager für Tausende von KZ-Häftlingen diente.

Die Cap Arcona war ihr Schicksal

Die „Cap Arcona“ und die „Deutschland“ wurden am 3. Mai 1945 nach einem Bombenangriff auf das schwimmende KZ zum Grab für mehr als 7000 KZ-Häftlinge, eine der größten Schiffskatastrophen der Weltgeschichte. Die wenigen Ahrensböker Häftlinge, die die Bombardierung des Schiffes durch die Royal Air Force (RAF) überlebten, nahmen Kontakt zur Bevölkerung auf, wenn sie nicht zuvor am rettenden Ufer der Lübecker Bucht von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ mit dem Spaten erschlagen oder mit Gewehren erschossen worden waren. Letztere wurden an entlegenen Stellen der Bucht notdürftig verscharrt. Ein entsetzlicher, uns Jüngere verwirrender Anblick, der uns später kaum noch erlaubte, in diesem Teil der Ostsee zu baden, zumal noch Jahre danach immer wieder Leichenteile ans Ufer geschwemmt wurden. Und dennoch ließen sich mindestens drei Überlebende der Katastrophe, Emil Löffler, Mendel Dawidowicz und Herzko (Henry) Bawnik, nach der Befreiung durch die britische Militärmacht in Ahrensbök nieder - als integrierte Bürger einer Nachkriegsgesellschaft, die sich bald an dieses Kapitel nicht mehr erinnern wollten.

Einige der Geretteten verdanken zwei Repräsentanten der Bremer Linken ihr Leben: Fritz Hallerstede und Hans Lübeck, die am 3. Mai 1945 mit ihrem kleinen Boot KZ-Häftlinge in der Lübecker Bucht vor dem Ertrinken bewahrten. Darunter den Pädagogen Robert Alt, der diesen Vorgang handschriftlich dokumentiert hat. Der einstige Lehrer an der von Fritz Karsen geleiteten Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln gehörte nach 1945 als Mitglied im Schwelmer Kreis weit über die DDR hinaus zu den bedeutenden Pädagogen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Ein gesellschaftlich engagierter Anwalt der gesamtdeutschen Erziehungswissenschaften, dem im September 2005 aus Anlass seines 100. Geburtstages ein wissenschaftliches Kolloquium gewidmet wurde. Mit Benjamin Jacobs zählte er zu den „Ostjuden“, die Ende April 1945 von der Rettungsaktion des Internationalen Roten Kreuzes (Bernadotte-Aktion) ausgeklammert blieben, obwohl sie auf der Liste des Lagerführers von Auschwitz-Fürstengrube, Max Schmidt, standen. Denn Graf Bernadotte erlaubte lediglich den Lagerinsassen westlicher Herkunft aus Fürstengrube und Dora die Ausreise nach Schweden.

Einer der Betroffenen, Benjamin Jacobs, berichtete mir, er habe sich nicht zu den Franzosen, Belgiern oder Niederländern gemeldet, obwohl er gut Französisch spreche, sondern sich - entgegen der Empfehlung des Lagerführers - wahrheitsgemäß als Pole vorgestellt. „Ehrlichkeit und Dummheit bis zum letzten Moment!“, schrieb der ebenfalls Ausgegrenzte Jan Behr dazu selbstironisch am 30. Oktober 1949 an den von seinen Mithäftlingen angeklagten Lagerältesten Hermann Joseph. Als „Pianist von Auschwitz“ blieb Jan Behr in der Erinnerung der Häftlinge und ihrer Bewacher lebendig, weil er am Abend der Auflösung des Lagers (18. Januar 1945) und des Beginns der Evakuierung angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen im überfüllten Saal unter großer Anteilnahme der Anwesenden die Sonate „Les Adieux“ von Ludwig van Beethoven spielte, also jene Es-Dur-Klaviersonate op. 81a, mit der Beethoven 1809 Abschied und Flucht der kaiserlichen Familie vor den einrückenden Franzosen aus Wien musikalisch eindrucksvoll thematisiert. Unmittelbar nach der Befreiung trat er in Belgien als Pianist auf und leitete am 27. Oktober 1945 in Brüssel das Solidaritätskonzert zugunsten der Opfer von Lidice (Wollenberg, 2001, S.189ff.).

Die Kehrseite der Bernadotte-Aktion

Schon am 30. April 1945 hatten 49 Häftlinge aus Fürstengrube die Freiheit erlangt. Sie wurden im Rahmen des Bernadotte-Unternehmens gerettet und nach Schweden transportiert. Die mit KZ-Häftlingen überfüllten weißen Busse des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz prägten im April 1945 das Alltagsbild in Ostholstein. SS-Reichsführer Himmler versuchte von Lübeck, Eutin und Plön aus, zu einem Separatfrieden mit den Westalliierten zu gelangen und brachte als Trumpfkarte die Überlebenden des Holocaust ins Spiel. Diese Schachergeschäfte um Menschenleben für Waffen retteten über 6.000 Juden und 15.000 Kriegsgefangenen das Leben. So stand Ostholstein am Ende des Krieges noch einmal im Mittelpunkt von Ereignissen, die in Ahrensbök im Mai 1945 eine weitere Zuspitzung erfahren sollten. Denn am 3. Mai 1945 befreite die britische Armee Ahrensbök und übergab die Besatzungsherrschaft an belgische Truppen. Diese nahmen die Reste der 5. SS-Sturmbrigade Wallonien in Kriegsgefangenschaft. Der belgische Kommandeur Léon Degrelle, der höchstdekorierte Offizier der Waffen-SS, hatte seine Soldaten der freiwilligen Waffen-SS im Raum zwischen Lübeck, Eutin und Plön zum letzten Kampf für den „Reichsführer-SS“ zusammengezogen. Seine Aufgabe bestand darin, im April 1945 nicht nur die geheimen Verhandlungen von Himmler und dem SS-Brigadeführer und Chef der Spionageabwehr Inland im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Walter Schellenberg, mit dem Grafen Folke Bernadotte um den Separatfrieden mit dem Westen abzusichern. Degrelle hatte außerdem die in dieser Gegend untergebrachten Mitglieder der letzten Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz zu schützen. Während das militärische Hauptquartier für die sog. Nordfestung in einem Barackenlager am Suhrer See bei Plön unterkam, residierte die „zivile“ Reichsregierung vom 21. April bis zum 1. Mai 1945 in Eutin und Umgebung. Der Minister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, hielt sich z.B. mit seinen engsten Mitarbeitern in einer Bauwagen-Kolonie am Eutiner See auf. Und Reichfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk fuhr täglich von seinem Wohnsitz in Bad Segeberg über Ahrensbök auf der Bundesstraße 432 in seiner Maybach-Limousine nach Eutin, später nach Plön, um an den Sitzungen des Reichskabinetts teilzunehmen, die noch drei Wochen nach der Kapitulation bis zum 23. Mai 1945 in Flensburg die Wahnvorstellung der Weiterexistenz des „Dritten Reiches“ aufrechterhielten. (vgl. dazu neben den Erinnerungen der Minister Speer, 1969, S.490, und von Krosigk, 1974, S.242, Frank Petzold, 1996, S.18ff). So wurde ich am Ende des Krieges noch einmal Zeuge eines denkwürdigen Ereignisses: Nach der kampflosen Besetzung Ahrensböks brachten die alliierten Truppen die belgischen Mitglieder der „verlorenen Legion“ des SS-Generals Léon Degrelle in den zum Sammellager umgewandelten Amtswiesen mitten im Ort  unter. Diese wurden nun Tag für Tag von den befreiten belgischen und polnischen Zwangsarbeitern der „Globus-Werke“ und der „Flachsröste“ öffentlich vor unseren Augen verprügelt. Albert van Hoey und einigen der in der Gegend von Ahrensbök festgehaltenen belgischen und polnischen KZ-Häftlingen aus Auschwitz und Dora blieb eine solche Beteiligung vorenthalten. Sie hatten am 30. April 1945 mithilfe der weißen Busse des Internationalen Roten Kreuzes die Freiheit erlangt.

 

 

 

Mein polnisches Kindermädchen Wanda

 

Gehörte zu den Ende April 1945 durch das Internationale Rote Kreuz befreiten Frauen und Männer auch Wanda Bankowska oder der eine oder andere in Ahrensbök zwangsverpflichtete „Fremdarbeiter“ aus Polen? Auch in Ahrensbök waren nach 1941 mehr als ein Viertel der Beschäftigten in Industrie, Handel und Landwirtschaft ausländische Zivilarbeiter oder Zwangsarbeiter. Die im Gemeindearchiv erhaltene Ausländerkartei von Ahrensbök führt für die Zeit von 1939 bis 1945 1215 Zwangsarbeiter auf. Von ihnen starben 27, darunter allein 15 Sterbefälle im Säuglings- oder Kleinkindalter - bei nachweisbaren 28 Geburten. Dieser Kartei ist auch zu entnehmen, dass 56 Zwangsarbeiterinnen, davon 51 aus Polen, in meiner Heimatgemeinde als „Hausgehilfinnen“ tätig waren, darunter vom 11.Juli 1940 bis zum Februar 1941 Wanda Bankowska, die zwangsverpflichtet in der Großfamilie Fritz und Herta Wollenberg arbeitete. Es ist jene freundliche junge Frau, an die ich mich als damals Vierjähriger erinnere und von deren Herkunft ich bis zu dem Aktenfund nichts wusste. Wie überhaupt das Schicksal der Zwangsverpflichteten in Privathaushalten einer Aufarbeitung harrt. Wanda verschwand plötzlich aus unserem Blickwinkel. Angeblich soll sie Schmuck gestohlen haben. Es wird Zeit, sich auf den Spuren der am 21. Januar 1924 geborenen Polin zu begeben. Kam sie vielleicht ins zentrale Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof, wo sie Gegnerinnen des NS-Systems aus Bremen wie Käthe Lübeck begegnete, die dort ab 1937 wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ den ersten Teil ihrer 12-jährigen Zuchthausstrafe absaß? Jedenfalls schrieb Käthe Lübeck-Popall gelegentlich in ihren Briefen aus dem Zuchthaus Lübeck liebevoll von einer jungen Polin Wanda, deren Lebensmut sie immer wieder stärken musste. Lebt sie noch und wo? „Auf den Spuren meines polnischen Kindermädchens“, heißt eines meiner Projekte, die ich noch zu realisieren hoffe. Für jeden Hinweis wäre ich dankbar.

 

                                                                                         J.W.