(NS-)Gedenkstätten als moderner Lernort

 

Paradigmenwandel der „Erinnerungskultur“ in der BRD

 

Von Jörg Wollenberg

 

Am 4. Juli 2007 erhielten die Mitglieder des Kulturausschusses im Bundestag der BRD den Entwurf zu einer Gedenkstättenkonzeption aus dem Hause des Kulturstaatsministers. Danach liegen die geschichtspolitischen Schwerpunkte der kommenden Jahre im Zeichen der Erinnerung an die „beiden deutschen Diktaturen“. Der „antitotalitäre Konsens in der Gesellschaft“ soll gefestigt und das „Bewusstsein für den Wert der freiheitlichen Demokratie“ gestärkt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, das Erinnerungsgewerbe zu systematisieren und zu professionalisieren, vor allem aber den "Nachholbedarf im SED-Bereich" zu beachten. Dafür erhält die „Stiftung Aufarbeitung“ als Anlaufstelle zum Thema „Aufbruch 1989“ eine herausragende Rolle. Insgesamt sieht die Bundesregierung 20 Millionen Euro für die Gedenkstättenförderung im Haushaltsjahr 2008 vor.

 

Neue deutsche Erinnerungskultur?

Vergleichen und Parallelisieren der Stasi mit der Gestapo oder des Gulag mit dem Holocaust erweisen sich hier erneut als Kennzeichen der neuen deutschen Erinnerungskultur. Eine Kultur, die sich, was die NS-Zeit betrifft, als Vergangenheitspolitik auf die Opfer der Verfolgung und Vernichtung beschränkt und die Handlungen der NS-Täter weiterhin übersieht, diese kaum verfolgt, geschweige denn bestraft. Die wieder aus der Rumpelkammer hervorgezogene Totalitarismus-These begünstigt die neue Form der Vergangenheitsbewältigung, die von der Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen zur Spurenauslöschung führen kann, auf jeden Fall die Entsorgungsübungen stärkt. Die „Faschismus-Keule“ als „das letzte Aufgebot der deutschen Linken“ (Hans-Helmuth Knüther) hat mit diesem Konzept endgültig ausgedient. Aber trotz der Aufrechnung und Relativierung der NS-Verbrechen durch die Gleichsetzung von faschistischem „Rassenmord“ und stalinistischem „Klassenmord“ gehört es nach wie vor zur gesellschaftlichen Konvention in Deutschland, von den „Lehren aus Auschwitz“ zu sprechen. Diese Auseinandersetzung findet vornehmlich im Rahmen der Erinnerungskultur statt. Dazu zählt die Erinnerungspolitik der großen Reden der Bundespräsidenten, aber auch die Entscheidung für das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin. Gegen diese „Dauerrepräsentation unserer Schande“ und gegen die „Gedenkindustrie“ lamentieren wiederum die Anhänger der „Denkfabriken von rechts“.

Erst hinsehen macht frei

Diese neue Selbstgerechtigkeit, aber auch die zunehmenden Selbstenthüllungen und Bekenntnisse der zu aufrechten Demokraten umerzogenen führenden Intellektuellen der HJ- und Kriegsgeneration - von Grass bis Walser - mit ihren Spätzündern aus den Minenfeldern der Stahlgewitter des Zweiten Weltkrieges machen blind und erkennen Flucht, Vertreibung, Krieg und Gefangenschaft selten als Bruch. Sie erschweren die notwendige Vergangenheitsbewahrung, zumal biografische Erinnerungen der älteren Generation an Auschwitz abnehmen und so die Gedenkstätten auf ihr wirkungsvollstes Gedenkritual des Zeitzeugenberichts in Zukunft immer mehr verzichten müssen. Das ist aber zugleich auch eine Chance für die zukünftige Gedenkstättenarbeit: Sie kann und muss die Erinnerungskultur in den Gedenkstätten mit der alten Form des öffentlichen Mahnens- und Gedenkens um die Hinzufügung eines Ortes des Lernens und der Begegnung ergänzen. Um den Opferkonsens nicht zu gefährden, ist ein anderer geschärfter Blick auf Symbole vonnöten - als kritische Begleitung der neuen politisierten und mediatisierten Erinnerung. Auch für diese gewandelte Form der Aufarbeitung gilt: Erst hinsehen macht frei. Dieses Hinschauen fordert den Historiker und Pädagogen auf, Unruhestifter zu sein und mit der Erinnerung zugleich das soziale Gedächtnis vor Ort zu stärken.

Ich unternehme im Folgenden diesen Versuch in dem kleinen überschaubaren Rahmen einer Region, die schon vor 1933 den Aufstieg der Nationalsozialisten zur Macht ermöglichte und den Todesmarsch von Auschwitz wie auch eine der größten Schiffskatastrophen der Weltgeschichte am Ende des Krieges erlebte (s. vorstehenden Artikel). Hier haben Opfer und Täter, Mitläufer, Unangepasste, Ausgegrenzte und Widerstandskämpfer einen Namen. Allerdings ist die Erinnerung daran häufig brüchig, widersprüchlich und manchmal auch falsch. Dem Rückblickenden, der seine Jugend in dieser Gemeinde erlebte und einige Opfer und Täter persönlich kennt, muss es verwundern, wie lückenhaft das Wissen und die Fähigkeit der Rückerinnerung bei vielen Zeitzeugen bis heute geblieben ist. Dabei handelt es sich um eine Großgemeinde von rund 10.000 Einwohnern. 1933 waren es 5000 Einwohner mit rund 50 Mitgliedern der NSDAP; eine Region, die schon ab Mai 1932 von einer NSDAP-Alleinregierung geprägt wurde.

Ein Gebäude mit vielen Wandlungen

Zu diesem Ort gehört ein Gebäude mit einer singulären Geschichte, das heute Sitz einer der wenigen NS-Gedenkstätten in Schleswig-Holstein ist.  Dieses Gebäude in Ahrensbök-Holstendorf erlebte in seiner über 100- jährigen Geschichte bemerkenswerte Umwandlungen. Es entstand 1883 als Direktionsgebäude für eine Zuckerfabrik mit Zuganschluss und ging dennoch bald in Konkurs. Das gleiche Schicksal widerfuhr der auf dem Gelände mit viel Aufwand errichteten Nagelfabrik Julius Bruhn im Jahre 1924, die meinen Großvater Heinrich Wollenberg als Gesellschafter und einstigen Besitzer des Hotels Stadt Hamburg mit in den Ruin riss. In dem zwischenzeitlich von der Chemischen Fabrik Dr. Christ AG übernommenen Komplex eröffnete das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im November 1932 ein Lager des „Freiwilligen Arbeitsdienstes“, bevor es vom Oktober 1933 bis zum Dezember 1933 für rund 100 „Schutzhäftlinge“ als Konzentrationslager diente. Die Häftlinge zogen am 5. Dezember 1933 bis zur Auflösung des KZ im Mai 1934 in den Ortskern von Ahrensbök um. Das KZ-Gebäude wurde dagegen ab 6. Dezember 1933 in eine Realschule umgewandelt. Es gewährte für einige Monate Schülern Unterkunft - ohne Widerspruch der Schulleitung und ohne bauliche Veränderungen: die Schlafräume der Häftlinge wurden zu Schulräumen. Ende 1934 kamen hier zahlreiche SS-Mitglieder aus Österreich unter, die nach dem Verbot der NSDAP und der Auflösung von SA und SS durch die Regierung Dollfuß Österreich am 19. Juni 1934 verlassen mussten und von denen 67 im Landesteil Lübeck eingebürgert wurden. Einer von ihnen, Rudolf Gruber (1913-1982), heiratete meine Turnlehrerin Käte Hansen, die noch zu den Realschülerinnen gehörte, die 1934 den Weg in die kurzfristig zu Schulräumen umgewandelten Schlafräume des KZ auf sich nehmen mussten. Ab Ende 1936 diente das Haus für zwei Jahrzehnte den Leitern der neu gegründeten bäuerlichen „Genossenschafts-Flachsröste GmbH“ als Büro und Wohnsitz - ab 1942 mit einem Blick auf die Sammellager der über 100 Zwangsarbeiter, vornehmlich aus Belgien, Polen und der Sowjetunion. Dass dieses nach 1957 lange leer stehende Haus in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch eine Verwendung als Asylbewerberheim fand, sollte nicht unerwähnt bleiben. Wo gibt es in Deutschland ein vergleichbares Gebäude, das wegen der Vielfältigkeit der Nutzung darauf drängt, als „Pandämonium der Arbeit“ (Robert Musil) und der Agrarmodernisierung, des Arbeitsdienstes, der Schutzhaft und (Um-)Erziehung zu einer Nach-Denkstätte umgewandelt zu werden?

Begegnen, gedenken, lernen von und mit Zeitzeugen der NS-Diktatur

Lange bevor die Gedenkstätte Ahrensbök am 8. Mai 2001 offiziell eingeweiht wurde, war das Haus bereits mit dem Geist erfüllt worden, den eine Gedenkstätte auszeichnet. Beispielsweise durch ein Lehr- und Forschungsprojekt der Universität Bremen (1997- 2000) und durch das „Wegzeichen“-Projekt im Sommer 1999: 15 junge Menschen aus Polen, Tschechien, Weißrussland und aus Deutschland formten im Garten des Hauses 14 Stelen aus Beton mit eingelassenen Tontafeln und Tonskulpturen, um sie sodann in all den Orten aufzustellen, durch die im April 1945 ein Todesmarsch von 400 Häftlingen aus den Konzentrationslagern Mittelbau- Dora und Auschwitz-Fürstengrube nach Ostholstein getrieben wurde. Mit dem „Wegzeichen“-Projekt begann eine Tradition, die im Jahr 2006 zum siebten Mal Menschen aus verschiedenen Teilen Ost- und Westeuropas nach Ahrensbök brachte, um dem Trägerverein zu helfen, die Gedenkstätte auszubauen.

Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag des Todesmarsches

Die Veranstaltungsreihe, die in Kooperation mit Gruppen von amnesty international aus Eutin, Neustadt und Lübeck und den Schul- und Kultureinrichtungen vor Ort durchgeführt wurde, begann am 30. März mit einem Vortrag des Lübecker Altbischofs Karl Ludwig Kohlwage zur Frage „Warum gedenken?“. Sie endete am 8. Mai mit einem Vortrag von mir: „Der 8. Mai 1945 und der Mythos der Stunde Null“. Zeitgleich eröffnete ich die Ausstellung „A Letter to Debbie“, ein Werk der amerikanischen Künstlerin Yardena Donig Youner in Text und Bild über die Befreiung des Dachauer KZ-Außenlagers Landsberg-Kaufering Ende April 1945. Dazwischen fanden an authentischen Orten des Todesmarsches durch Holstein unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit bewegende Gedenkveranstaltungen mit Überlebenden und ihren zahlreichen Angehörigen statt, die der Trägerverein aus Belgien und aus den USA nach Ahrensbök eingeladen hatte. So reiste z. B. Anfang Mai 2005 der aus Polen stammende US-Amerikaner Henry (Herzko) Bawnik mit seiner Frau Linda, seinen drei Töchtern und deren Partnern sowie sechs Enkelkindern an, um an der Veranstaltungsreihe teilzunehmen, an der sich neben Albert van Hoey, Sprecher der „Amicales des Prisonniers Politiques de Dora“ auch der Alt-Bürgermeister Bremens, Hans Koschnick, für den Verein „Erinnern für die Zukunft“ und der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein am 2. und 3. Mai beteiligten.

Begegnungen zwischen Angehörigen der Opfer- und Tätergeneration

Der Besuch von Sam Pivnik im Juli 1999 schlug nach Aussage des damaligen Bürgermeisters Wolfgang Frankrenstein „ein neues Kapitel“ in Ahrensbök auf. Er war der Anfang einer Reihe von Begegnungen mit Überlebenden des Todesmarsches, die trotz hohen Alters auf Einladung der kommunalen VHS und des Trägervereins nach Ahrensbök kamen, um in öffentlichen Veranstaltungen und in Schulen über Verfolgung, KZ-Haft, den Todesmarsch von Auschwitz nach Ahrensbök, über ihre Befreiung und die lebenslangen Folgen des nationalsozialistischen Terrors zu sprechen. Wenn die Überlebenden nicht selbst ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben haben (Benjamin Jacobs: „Zahnarzt in Auschwitz“, Leo Klüger: „Lache, denn morgen bist du tot“), wurden sie während ihrer Besuche in Ahrensbök interviewt. Sofern die finanziellen Mittel vorhanden waren, wurden ihre Gespräche auf Video aufgezeichnet, Texte und Videos in der Gedenkstätte archiviert. Die Tagespresse (LN) sorgte jeweils für eine ausführliche Berichterstattung.

Dauerausstellungen zur kritischen Heimatgeschichte

Begegnungen und Gespräche mit Überlebenden halfen, die Dauerausstellung über den Todesmarsch „Von Auschwitz nach Holstein“ mit den lebendigen Erinnerungen der Betroffenen zu gestalten. Auf 34 Tafeln wurden die Anfänge in den Konzentrationslagern Auschwitz-Fürstengrube und Mittelbau-Dora, die einzelnen Stationen des Todesmarsches und das furchtbare Ende für die meisten Häftlinge während der Cap Arcona-Schiffskatastrophe in der Lübecker Bucht aufgezeichnet. Diese Ausstellung wird seit Eröffnung der Gedenkstätte in ihren Räumen gezeigt. Ausstellungen über das FAD-Lager, das im Oktober 1933 in ein frühes KZ umgewandelt wurde, das wiederum 1934 der Realschule weichen musste, sind geplant und werden durch laufende Seminare und Workshops vorbereitet. Die Singularität dieser Mehrfachnutzung des Gebäudes der heutigen Gedenkstätte wird damit unterstrichen.

Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Zu den jährlich stattfindenden internationalen Jugendsommerlagern werden junge Asylbewerber aus den europäischen Ländern eingeladen, um Gespräche darüber anzustoßen, dass politische Verfolgung, Flucht, Verletzung der Menschenrechte so gegenwärtig sein können wie während der nationalsozialistischen Diktatur.

Zur Priorität der selbst gestellten Aufgaben des Trägervereins gehören ständige Bildungs- und Gesprächsangebote; besonders intensiv im Rahmen der Lehrerfortbildung und der Projektwochen der Schulen - mit erstaunlichen Ergebnissen. Immer wieder gibt es Schüler, Studenten und ältere Menschen aus der Region, die sich Wochen, manchmal monatelang mit der NS-Geschichte, wie sie in ihren Heimatorten geschah, beschäftigen, stets betreut von Mitgliedern des Trägervereins. So  beteiligten sich Schülerinnen und Schüler der Ahrensböker Haupt- und Realschule mit Sacharbeiten - künstlerische Aufarbeitung von Wegstrecken und Landkarten - an der Gestaltung der Ausstellung über den Todesmarsch, Gymnasiasten des Schwartauer Leibniz-Gymnasiums dokumentierten eine Fahrradtour durch die ostholsteinischen Orte, durch die die Häftlinge getrieben wurden und Hauptschülerinnen widmeten ihre Abschlussarbeiten den Themen Todesmarsch und Cap Arcona Katastrophe.

Am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, werden Schulen, Verwaltungen und Bildungseinrichtungen in die Gedenkstätte eingeladen, um gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Zwischen dem 1. und 8. Mai werden die Ereignisse des Todesmarsches bis zur Schiffskatastrophe in der Lübecker Bucht und dem Ende des Krieges in Gegenwart von Zeitzeugen zum Thema gemacht. Und zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November rufen der Gemeindepastor und der Trägerverein Schülerinnen und Schüler aller Ahrensböker Schulen in die Kirche zum gemeinsamen Gottesdienst. Die jungen Menschen werden angeleitet, den Gottesdienst selbst zu gestalten, Texte zur Pogromnacht vorzutragen oder die Veranstaltung musikalisch einzurahmen .

Das Gästebuch zeigt, dass Besucher aus dem In- und Ausland kommen. In Ahrensbök, wo die Arbeit des Trägervereins bis heute keinen ungeteilten Beifall findet, scheint die Akzeptanz zu wachsen. Auch Veranstaltungen im Ort, meist in öffentlichen Räumen wie Altes Rathaus, Bürgerhaus, Bücherei, Schulen finden ein interessiertes Publikum. Der Veranstaltungskalender zeigt, dass es keinen Mangel an Themen gibt, um den Prozess des Nachdenkens in der Öffentlichkeit wach zu halten.

Das Gebäude der Gedenkstätte wurde im Jahr 2000 mit finanziellen Mitteln der Gemeinde Ahrensbök, des Kreises Ostholstein und der Landesregierung von Schleswig-Holstein gekauft. Ein Zuschuss der EU-Kommission, der Landesregierung und Eigenmittel des Trägervereins ermöglichten 2003/2004 die Sanierung des Daches. Seitdem sind begrenzte Zuschüsse der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinischer Gedenkstätten und des ev.-luth. Kirchenkreises Eutin geflossen. Diverse Projekte wurden von der Bürgerstiftung, der Gemeinde Ahrensbök, dem Kreis Ostholstein, der Sparkasse Ostholstein sowie Einzelspendern und Einzelspenderinnen finanziell unterstützt.

Nach mehr als sieben Jahren seiner Arbeit zeigen die Mitglieder des Trägervereins ungebrochenes Engagement. Der Verein ist mit wenig mehr als vierzig Mitgliedern von nicht nachlassender Vitalität - nachzulesen auch in seinem Mitteilungsblatt „Wegzeichen“, das zweimal im Jahr erscheint.

 

Die ehrenamtlich geleitete „Gedenkstätte Ahrensbök“ ist jeden ersten Sonntag des Monats geöffnet.

Es können jederzeit individuelle Führungen

vereinbart werden.

www.gedenkstaetteahrensboek.de