Die Hymne –
Ein Menetekel?
Noch ist
unsere Gesellschaft nicht verloren
Von Harri Czepuck
Zwei Veranstaltungen im Frühsommer dieses Jahres – in ihrer Größenordnung
und auch in ihrer Bedeutung nicht unmittelbar zu vergleichen, hingen aber doch
mittelbar, was Thematik und Problematik
anlangt, zusammen: Zum einen fand Anfang Juni in Berlin eine von unserer
Gesellschaft maßgeblich mitgetragene wissenschaftliche Konferenz der Freien
Universität Berlin über das Wirken Helmut von Gerlachs und seine aktuelle
Bedeutung für das Verhältnis der beiden europäischen Nachbarn statt. Ein
Bericht über diese Konferenz ist in der vorletzten Ausgabe von POLEN und wir zu
lesen. Nur soviel will ich aus meiner Anschauung nach dieser Veranstaltung
sagen: Die polnischen Gäste warteten mit erstaunlichen Kenntnissen und
Erkenntnissen über die deutsch-polnische Geschichte gerade im Zusammenhang mit
Gerlach und seinen Vorstellungen über eine neue deutsche Polenpolitik auf, die
man manchem unserer deutschen Profi- und Amateurhistoriker, vor allem in
unseren Medien, wünschen möchte.
Zum anderen wurde mit dem Ende
Juni stattgefundenen Gipfeltreffen der EU in Brüssel die turnusmäßige, aber von
der deutschen Seite immer wieder als besonders historisch hervorgehobene
sechsmonatige deutsche Ratspräsidentschaft mit deutsch-polnischen Querelen
beendet. Die „BILD am Sonntag“ vom 24.6.07 kleidete den bedenklichen Tatbestand
in die dem großdeutschen Geschmack entsprechende Schlagzeile: „So bezwang Miss
Europa die polnischen Giftzwerge.“ In einem Rechtsstaat würde diese Absonderung
a la Lingua Terti Imperi
nicht unter das Rubrum Pressefreiheit, sondern unter mehrere Straftatbestände
für den Staatsanwalt fallen. Kein Wunder, dass die Repliken in den polnischen
Medien entsprechend ausfielen. So hält man den Kalten Krieg weiter am Leben.
Es zeigte sich, dass das
Verhältnis der beiden Nachbarn nicht nur noch immer nicht in europäischer
Ordnung ist, sondern auf einen seit Jahrzehnten nicht gekannten Tiefpunkt
abgesunken ist, weil Einsprüche, die jedem anderen zugestanden werden, den
Polen übel genommen wurden.
Die oben genannte
wissenschaftliche Konferenz befasste sich in dieser Situation sachkundig mit
den Ursachen der Zerwürfnisse zwischen Deutschland und Polen nach einer durch
die Wiedergründung des unabhängigen polnischen
Staates veränderten Lage und einem veränderten Kräfteverhältnis in Europa nach
dem 1.Weltkrieg. Helmut von Gerlach kämpfte gegen die deutsche Hybris, gegen
die neu aufkommenden Versuche, deutsche Großmachtpolitik gegenüber Polen
fortzusetzen. In Brüssel ging es u.a. - und das ist der Punkt, der hier
interessiert - um die vertragliche Lösung von Abstimmungen innerhalb der
Europäischen Kommission, in denen Deutschland seine „Großmachtrechte“ gegenüber
kleineren Partnern auszuspielen versuchte, was - schon seit langem - berechtigte polnische
Sorgen und Ängste weckte.
Antipolenstimmung kam wieder
einmal auf - wie 1920 oder vor dem ersten Weltkrieg, als die
Germanisierungskampagne des deutschen Kaiserreiches einen gewissen Höhepunkt
erreichte. Deutscher imperialer Ordnungssinn öffnete jetzt schon mal die
Schublade „Schurkenstaat“, in die gehört, wer uns nicht folgt. Und die FAZ,
ließ mit der aus der Geschichte bekannten Frage „Finis Poloniae“
das Drohpotential sehen, das für solche Fälle immer bereit zu liegen scheint.
Das Echo aus Polen war diesmal, angesichts der inzwischen von Polen nach dem
Zweiten Weltkrieg und auch zum Ende des Kalten Krieges erreichten politischen
Position in Europa nicht nur lauter, sondern auch wirkungsvoller.
Was 1920 von Gerlach noch als
Rufer in der Wüste erscheinen ließ, war diesmal, rund 90 Jahre später,
wesentlich stärker ausgeprägt. Denn: Seit Deutschland in der ersten Hälfte des
Zwanzigsten Jahrhunderts Weltmacht- und
europäische Führungspläne schmiedete und sie mit zwei Weltkriegen
durchzusetzen versuchte, hat sich die Welt offenkundig weiter zuungunsten
dieses deutschen Anspruchsdenkens verändert. Die Kanzlerin der Bundesrepublik
Deutschland fühlt sich zwar, durch die Medien hochgepuscht,
mal für sechs Monate als Führerin Europas mit der entsprechenden Weltgeltung,
sie richtete auch, wie Medien genussvoll geschlagzeilt haben, „Beichtstühle“ für Europas Sünder ein,
vergaß aber, dass sie - sinnbildlich gesehen - nicht im Petersdom, sondern
allenfalls in einer Templiner Kleinstadtkirche standen.
Wenn nun die Schwierigkeiten, die
mit dem weiteren Zusammenwachsen Europas zusammenhängen, heute subjektiven
Faktoren wie der Existenz der Zwillingsregierung Kaczyński in Polen (die
sich übrigens als Enkel Pi³sudskis, des vom Deutschen Reich einmal hochgeschätzten
Führers Polens, fühlen) zugerechnet
werden, so ist das historisch zu kurz gesprungen. Es berücksichtigt nicht, dass
sich trotz mancher Niederlagen und vermeintlicher Siege das Kräfteverhältnis
eben verändert hat und angesichts der Weltsituation weiter verändert. Dabei ist
sicherlich zu berücksichtigen, dass Polen besonders sensibel auf jene Politik
reagiert, die Frau Merkel mit der deutschgeprägten Vertragsordnung während
ihrer Präsidentschaft durchpeitschen wollte. Ein Volk, das durch deutsche Schuld
ein Viertel seiner Bevölkerung verlor, hat dies eben als Opfer länger im
Gedächtnis, als die Täter. Also: Ohne Blick auf die Geschichte werden wir die
Gegenwart nicht meistern und die Zukunft nicht gestalten können.
Wie sollte man nun in dieser Lage
miteinander umgehen? Über die Regierung der Kaczyński-Zwillinge lässt sich
leicht urteilen. Aber haben wir Deutschen das Recht, sie auch abzuurteilen,
nachdem wir durch unsere anmaßende und auf materiellen Vorteil für Deutschlands
Konzerne bedachte Einmischung in den letzten zwei Jahrzehnten mit dazu
beigetragen haben, dass die Zustände in Polen heute so sind, wie sie sind?
Auch unsere Gesellschaft
hinterlässt einen für diese Situation hilflosen Eindruck. Als sie 1948 als Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft gegründet wurde, stand vor
ihr ein wahrscheinlich größerer Problemberg, als heute manche von uns wahrhaben
wollen. Die Gesellschaft befand sich im Osten einerseits in Übereinstimmung in
der grundlegenden Polenfrage mit den damals Regierenden und einem großen Teil
der Bevölkerung. Andererseits aber war Überzeugungsarbeit unter denen zu
leisten, die sich als Kriegsopfer
fühlten. Es ging um die offene Diskussion über die Schuldfrage und das Problem,
Wiederholungen, die zur Schuld führten, künftig für alle Zeiten zu vermeiden.
Das hat in der alten Bundesrepublik nicht stattgefunden. Und in Zeiten des
Kalten Krieges wurden die Probleme in den beiden deutschen Staaten auch
unterschiedlich gesehen. Daher waren die Aufgaben der Gesellschaften mit dem
zunächst gleichen Namen in beiden deutschen Staaten nach 1948 bzw. 1950 auch
schließlich so unterschiedlich, wie das Schicksal dieser beiden Gesellschaften
in Ost- und Westdeutschland.
Eine Gesellschaft, in deren Land
die Regierung die Grenzfrage zwischen den beiden Nachbarländern vertraglich und
damit anscheinend endgültig geregelt hatte, sah sich anderen Aufgaben
gegenüber, als ihre Schwester in einem Land mit revanchistischem
Anspruchsdenken. Das hat sich insofern geändert, da durch den Anschluss der DDR
offiziell alle ihre geschichtlichen Leistungen auf diesem Gebiet gelöscht
werden, hingegen die Politik der alten Bundesrepublik de facto und sogar de
jure fortgesetzt werden sollte. Und selbst das, was 1971 und 1991 zwischen
Deutschland und Polen vereinbart wurde, ließ so viele Fragen offen, dass sich
von Frau Steinbach über Herrn Pawelka bis zu den
Herren Pofalla und Markus Söder -alle
möglichen Leute in Regierungsnähe - ungestraft die deutschen
Wiedergutmachungsansprüche an die Geschichte leisten können.
Wenn sich die Regierenden in
Deutschland jetzt nicht endlich befleißigen, die Geschichte der
deutsch-polnischen Beziehungen, wie sie sich seit 235 Jahren entwickelt und in
den Köpfen deutscher Politiker festgesetzt haben, in Ordnung zu bringen, werden
wir Auseinandersetzungen, wie sie jetzt in Brüssel stattfanden oder durch
Vertriebenenverbände und Preussische Treuhand
provoziert werden, weiterhin erleben. Den Schaden haben unsere beiden Völker
inmitten Europas, wo solche Streitfragen friedensgefährdend
werden könnten.
Unsere Deutsch-Polnische
Gesellschaft hat sich seit ihrer Gründung stets zum Ziel gesetzt, dazu
beizutragen, den Nachbarn besser kennen- und damit verstehen zu lernen. Auf
polnischer Seite ist dieser Wunsch weithin dafür auch vorhanden. Offenkundig
kennen wir aber zu wenige von diesen Kräften, um uns mit ihnen zu verbünden,
weil wir uns auch manchmal von Eintagsfliegen und Mediengetümmel ablenken
lassen. Weil viele, durch Politik und Medien angestachelt, neue Feindbilder wie
eine Monstranz vor sich hertragen, wird unwillkürlich mitgeholfen, dass auch
beim Nachbarn neue Feindbilder gemalt werden.
Natürlich sind für eine
Gesellschaft wie die unsrige, die strategischen Zielsetzungen von 1948 zum Teil
überholt. Aber eben nur zum Teil. Die heranwachsenden Generationen auf beiden
Seiten von Oder und Neisse stellen heute, auch desinformiert von vielen Medien, andere Fragen über den
Nachbarn. Hier liegt meines Erachtens nach ein neues
erweitertes Aufgabengebiet unserer Gesellschaft. Es kann im Moment nicht darum
gehen zu versuchen, mit unseren schwachen Kräften die Politik direkt zu
beeinflussen. Es sei denn, wir schließen uns einer Partei oder Bewegung an. Es
sollte aber zunächst darum gehen, das Notwendige möglich zu machen, nämlich
eine Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, um eine Basis für ein neues
deutsch-polnisches Verhältnis zu schaffen. Vielleicht kämen wir so in die Lage,
den notwendigen Druck für politische Veränderungen zu erzeugen.
Es gibt bei der
Regionalorganisation im östlichen Deutschland, der Gesellschaft für gute
Nachbarschaft zu Polen, eine Gruppe von Mitgliedern und Sympathisanten, die
jedes Jahr ihre Fahrräder nutzen, um bei Fahrten diesseits und jenseits der
deutsch-polnischen Grenze den Nachbarn über das hinaus, was man aus den Medien
erfahren kann, kennen zu lernen. Die Regionalorganisation Cottbus hält seit
Jahrzehnten enge Verbindungen zu polnischen Partnern. Ebenso verhält es sich
mit den Partnerschaftsbeziehungen zwischen Potsdam und Opole.
Wenn es in den alten Bundesländern ähnliche Möglichkeiten gibt, sollte man die
Erfahrungen schleunigst zusammentun.
Unsere Zeitschrift POLEN und wir informiert zumeist über
Probleme, die aus den Medien ersichtlich sind. Aber wer des Öfteren in Polen
weilt, weiß, dass das, was sich in den Medien widerspiegelt, nicht die ganze
Wahrheit über das Leben beim Nachbarn ist. Auch weil sich die polnischen Medien
zum größten Teil nicht mehr in polnischer Hand befinden.
Ich weiß, dass es schwierig ist,
direkt aus Polen zu berichten. Dennoch finden sich sicherlich Möglichkeiten,
wenn man nach ihnen sucht. Aber wer etwas sucht, braucht einen Plan, eine
Konzeption, wie unsere Gesellschaft unter heute obwaltenden Bedingungen
gesellschaftliche Kräfte mobilisieren könnte, um endlich dazu beizutragen, das
deutsch-polnische Verhältnis aus der historischen Sackgasse zu führen.
Dazu ist es nötig, dass wir
selbst wissen müssen, wohin wir wollen. Vielleicht kann uns die Aufforderung
des polnischen Botschafters, Dr. Marek Prawda, auf einem Empfang anlässlich
unserer Junikonferenz, die Gedanken Helmut von Gerlachs zu aktualisieren,
weiterhelfen. Dabei müssten wir allerdings auch ein wenig von dem Atem spüren
lassen, der die Polnische Nationalhymne über zwei Jahrhunderte verströmt: Noch
ist unsere Gesellschaft nicht verloren. Gelingt uns das nicht oder scheint uns
diese Aufgabe unlösbar zu sein, sollten wir die Arbeit der Gesellschaft
einstellen. Freilich dann nur noch in
dem Bewusstsein eines anderen Hymnus: Wir haben's gewagt mit Sinnen….
(Der Autor
unseres Beitrages ist Mitunterzeichner des Gründungsdokuments der 1948 in
Berlin gegründeten Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft)