Polen und wir - Heft 50, Juli 1999

Polen und ein
elendes Szenario

Von Holger Politt

Vielleicht ist es nur ein böser Zufall, dass Polen, Tschechien und Ungarn just in dem Augenblick dem vorgeblichen Verteidigungspakt beitraten, als dieser Verteidigung Verteidigung sein ließ und zum Angriff gegen Jugoslawien rüstete. In jedem Fall ließ sich die politische Elite Polens ihre beinahe naive Freude über die Aufnahme in die NATO durch diese "Kleinigkeit" nicht ernstlich verdrießen. Im Unterschied zu seinem südlichen Nachbarn, wo es unter den Parlamentsparteien z. T. recht deutlich auszumachende Unterschiede gibt, steht das offizielle Polen eher geschlossen hinter dem Prinzip der Bündnistreue: Nur jetzt in der Stunde des Erfolgs keine Schwäche zeigen, vielmehr innere Geschlossenheit in einer solch wichtigen außenpolitischen Frage demonstrieren. Nach dem Motto "Haltet den Dieb!" wird versucht, alle Schuld bzw. jegliches Schuldgefühl von sich zu weisen. Keine Spur eines Verdachts darf auf die weiße NATO-Weste fallen. Allerdings gibt es von Anfang an auch jene Stimmen im öffentlichen Meinungsspektrum, die zu bedenken geben, dass man einem feigen Aggressor die Stange hält und selbst einen Teil der Schuld gegenüber dem angegriffenen Jugoslawien trägt.

Natürlich ist einem Deutschen bei solcher Bewertung Zurückhaltung auferlegt. Das eigene Land ist wesentlich tiefer in den Aggressionsakt verwickelt, befiehlt seinen Piloten, Bomben auf Belgrad abzufeuern. Doch wer hätte zu irgendeinem Zeitpunkt dieses Jahrhunderts ernsthaft annehmen wollen, dass polnische Politiker deutschen Fliegern, die Jugoslawien bombardieren, Beifall und Anerkennung zollen werden, dass deutsch-polnische Annäherung sich darin begreift, den Überfall auf ein souveränes Land, welches keinen einzigen Nachbarn bedrohte, gutzuheißen? Sicherlich hätte es vor nicht allzulanger Zeit dazu der Phantasie eines Orwells bedurft.

Kriegsgegner = Miloševic-Freunde

Beginnen wir den kleinen Exkurs durch das Stimmungsbild der Polen mit Andrzej Szczypiorski, dessen Verdienste um die polnisch-deutsche Verständigung unbestritten sind. Ich stimme ihm in einer Hinsicht zu, wenn er in der "Polityka" vom 22. Mai 1999 meint, Objektivität als Grundhaltung in der Meinungsbildung zu einem Krieg könne es eigentlich nicht geben, da man im Krieg so oder so Partei zu ergreifen habe. Wer A sagt müsse auch B sagen. Wer das Eingreifen der NATO gegen das Belgrader Regime grundsätzlich akzeptiere, der müsse auch mit den unvorhersehbaren Folgen leben können und dürfe sich nicht durch die Berichterstattung über Opfer in der Zivilbevölkerung und angerichtete Schäden an der Infrastruktur beirren lassen. Ein stolzes Manneswort, welches durchaus unseren grünen Kriegspolitikern, ja denen mit den vielen Bauchschmerzen, empfohlen sei. Denn nach Szczypiorski heiligt in diesem Fall der Zweck alle Mittel und deshalb dürfe es kein langes Herumreden geben. Ich verstehe ihn so: Entweder ist man für den NATO-Krieg, und dann steht man nach Lesart des Autors von "Die schöne Frau Seidemann" auf der richtigen Seite, auf der Seite von Recht und Freiheit, oder man ist, aus welchen Gründen auch immer, gegen den NATO-Angriff, und dann entscheidet man sich für die Seite des verruchten Serbenführers. Leider, so Szczypiorski weiter, habe die freie Welt trotz ihrer militärischen und sonstigen Stärke einen entscheidenden Nachteil gegenüber der Seite des Despoten aus Belgrad, sie zeige zu viel Skrupel. Ich finde es vorteilhaft, dass er Krieg einen Krieg zu nennen wagt und nicht dem modischen Gerede von chirurgischen oder Luftschlägen etc. aufsitzt. Szczypiorski kennt Krieg eben aus eigener Erfahrung. Aber ich entscheide mich nicht für die von ihm favorisierte, ja glorifizierte Seite, sondern halte mich an geltendes und im höchsten Maße gefährdetes Völkerrecht und glaube nicht, damit einem "verruchten Serbenführer" auf den Leim gegangen zu sein.

Wer solche Entscheidung trifft, ganz gleich ob in Polen wohnend oder außerhalb, zieht sich die Verachtung der mitregierenden Freiheitlichen um Außenminister Geremek zu. In einer Entschließung des Landesrats der Freiheitsunion (UW) vom Ende April wird allen Ernstes erklärt, dass all jenen "unsere Verdamnis" gilt, die "in Polen und im Ausland gegen die Aktion der Verbündeten auftreten". Dieser Bannstrahl sollte vor allem jene Kriegsgegner im eigenen Land treffen, die sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren verstanden. Insbesondere die der einheimischen Sozialdemokratie nahestehende Tageszeitung "Trybuna" wurde zur Zielscheibe hasserfüllter Angriffe. Denn was ist davon zu halten, wenn der Sprecher der UW-Fraktion die Berichterstattung über die Bombardierung Belgrads in "Trybuna" gleichsetzt mit den Berichten des "Völkischen Beobachters" über die Luftangriffe auf Städte Deutschlands im zweiten Weltkrieg? Kriegsgegner werden in der Entschließung freiweg als "Verteidiger des Völkermords" gebrandmarkt, weil sie eine solche Politik in der Vergangenheit selbst besorgt hätten. Der Kriegsgegner, der ja vor allem aktuelles Geschehen kritisiert, soll auch in Polen mit Vorliebe durch Argumente aus der Vergangenheit zum Schweigen gebracht werden.

Zur wichtigsten Kategorie derartig verstiegener Konstruktionen sind die Menschenrechte aufgestiegen. Am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen des katholischen Verlages ZNAK erklärten liberal gesonnene Geister unter dem Eindruck dieses Krieges, über die Idee des Staates sollten die Idee des Menschenrechts gestellt werden. Insofern wäre der Krieg, der Überfall auf das souveräne Jugoslawien gerechtfertigt, da sich die jugoslawische Staatsführung im Kosovo schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht habe. Was solchen Musterdemokraten und Menschenrechtlern allerdings weniger auffällt und zum Nachdenken anregt, ist die Tatsache, dass in diesem Krieg Ankläger, Richter und Henker quasi in einer Person agieren, was der Tradition der westlichen Demokratie entschieden widersprechen dürfte. Gerne wird außerdem ausgeführt, der "internationalen Gemeinschaft" sei nichts anderes übriggeblieben, denn Russland und China hätten durch ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat die Handlungswirksamkeit der "internationalen Gemeinschaft" untergraben. Da die selbstblockierte UNO ihrer Pflicht nicht habe nachkommen können, seien die NATO-Staaten zu handeln gezwungen gewesen.

Die polnische Mitte ist in Europa angekommen

Ich nehme nicht an, dass die bitteren Erfahrungen des eigenen Volkes völlig unberücksichtigt geblieben sind. Dennoch erstaunt, wie leichtfertig bestimmte Politiker und Intellektuelle über die durch nichts zu bemäntelnde Verletzung der staatlichen Souveränität Jugoslawiens sich hinwegsetzen. Wenn ich mich recht erinnere, dann wurde die Wende von 1989 in Polen vor allem gefeiert als Rückkehr zur Souveränität, als ein Sieg über das geopolitische Kalkül der Weltmächte. Zehn Jahre später aber wird ein Land, welches auf seine staatliche Souveränität verweist und ein gegen diese Souveränität gerichtetes Diktat der NATO ablehnt, wozu es ja wohl alles Recht hatte, dem geopolitischen Kalkül einer Weltmacht und seinem militärischen Arm überantwortet und damit brutalster Bombardierung preisgegeben (Sagte nicht NATO-Sprecher Shea, wir bomben Jugoslawien in das Jahr 1945 zurück?). Aber na klar, jetzt ist es ja lediglich die Souveränität von Verbrechern, die da in Abrede gestellt wird, wie es Polens stellvertretender Verteidigungsminister Romuald Szeremietiew seinen Lesern weiszumachen versucht. Zugleich übte er sich am 7. Mai 1999 in "Rzeczpospolita" in Spekulationen über das Schicksal Kosovos. Er plädiert für Bodentruppen, für die vorläufige Abtrennung des Kosovo und schreibt großherzig Bedingungen vor, unter denen das Kosovo eventuell wieder an Jugoslawien zurückgegeben werden könnte.

Überhaupt geriert sich die politische Klasse political correct, befindet sich fast durchweg auf NATO-Linie. Das schließt den Präsidenten ein, der keine Alternative zu Rambouillet sieht, und deshalb, ähnlich wie Bundeskanzler Schröder, die alleinige Verantwortung für die Bombardierungen bei seinem jugoslawischen Amtskollegen liegen sieht. Auch er widerspricht, wenn das Geschehen ein Krieg gegen Jugoslawien genannt wird, spricht lieber ausweichend vom Kosovokonflikt, und verweist gerne auf unteilbare Menschenrechte, deren Verletzung durch keinerlei staatliche Souveränität, auch der jugoslawischen nicht, gedeckt sei. Übrigens hörte man Kwasniewski zu anderen Zeiten ganz anders über Jugoslawien reden, aber das ist vergessen, ist graue Vergangenheit - leider Gottes. Dem Präsidenten in dessen staatsmännischen Haltung nachzueifern bemüht sich Polens führender Sozialdemokrat, Leszek Miller. Er spricht sich offen für die Fortsetzung des Bombardements aus, solange bis die jugoslawische Führung auf NATO-Linie einschwenkt. Von ihm stammt ein Gedanke, wie ihn Schröder, Scharping oder Fischer nicht besser hätten formulieren können: Nicht die demokratische internationale Gemeinschaft habe Serbien den Krieg erklärt, sondern Slobodan Miloševic habe den demokratischen Nationen den Krieg erklärt, indem er das Menschenrecht verletzt und der Menschenwürde einen Schlag versetzt habe. Die Führung der polnischen Sozialdemokratie befürwortet weitgehend den Krieg, den die sogenannte Neue Mitte, als welche Europas Sozialdemokraten sich zunehmend begreifen wollen, im entscheidenden Maße mit durchführt.

Widerspruch in den Minderheit

Freilich gibt es in den Reihen der polnischen Sozialdemokratie und insbesondere in der von ihr geführten Parlamentsfraktion SLD auch Gegenstimmen. Doch sie befinden sich eindeutig in der Minderheit. Hier wird vor allem auf die Einstellung der Bombardierungen gedrungen, die als Bedingung gilt, um zum Verhandlungstisch zurückzukehren. Dieser Weg sei für alle Beteiligten, auch für die bedrückte Bevölkerung des Kosovo die bessere Alternative zu den täglichen Bombardierungen. Ähnliche Positionen gibt es in der Bauernpartei (PSL), wo mitunter die NATO-Luftangriffe als Fehler bezeichnet werden. Dennoch, glaubt man aktuellen Meinungsumfragen, stellt sich das Wählerpotential dieser wichtigsten Oppositionsparteien in Mehrheit hinter die NATO-Aktionen.

Die Haltung in der Freiheitsunion (UW), der kleinern Regierungspartei, ist, wie gesagt, weitgehend homogen. Etwas komplizierter stellt sich die Situation für die AWS, den größeren Koalitionspartner dar. Grundsätzlich wird die NATO-freundliche Haltung der Regierung Buzek begrüßt. Auch das Wählerpotential steht in seiner übergroßen Mehrheit hinter dieser Haltung. Dennoch lassen sich bestimmte Probleme nicht verbergen. Die politische Rechte Polens hat tatsächlich größere Schwierigkeiten mit der Verletzung der staatlichen Souveränität eines Landes als andere politische Kräfte. So spricht der bekannte Publizist Antoni Macierewicz ganz offen davon, dass dieser Krieg alleine jenen internationalen Kreisen entgegenkomme, die bereits seit längerem eine Beseitigung der Nationalstaaten, eine Aufkündigung der staatlichen Souveränität propagieren und zu einer Weltregierung und multiethnischen Gesellschaft streben. Da auch der Papst sich nicht eindeutig für die NATO-Operationen ausgesprochen hat und eher an den Verhandlungswillen der betreffenden Seiten appelliert, steht die AWS vor einem gewissen Dilemma.

Auch in der politischen Rechten, die nicht in der AWS aufgegangen ist, gibt es recht unterschiedliche Positionen, die etwa reichen von der Einstellung Jan Olszewskis (ROP), der für die Bombardierungen ist, allerdings diese durch intensive Verhandlungen begleitet sehen möchte, bis zu der Meinung des konservativ-nationalen Politikers Jan Lopuczanski, der die Bombardierungen für eine ungerechte Aggression hält und deren Einstellung für die Voraussetzung hält, um Friedensverhandlungen beginnen zu können.

Entschiedene Kriegsgegner

Wenn im öffentlichen Meinungsbild über diesen Krieg etwas auffällt, dann ist es die relativ entschiedene Position der Redaktion der Tageszeitung "Trybuna". Chefredakteur Janusz Rolicki hat das von ihm geleitete Blatt tatsächlich zu einem Sprachrohr der eindeutigen Kritik an den NATO-Aktionen gemacht, obwohl die Zeitung eigentlich den Sozialdemokraten nahesteht, die ja in der Mehrheit - zumindest was die engere Führung und die Parlamentsfraktion betrifft - eher durch eine zustimmende Haltung auffällt. Dieser Widerspruch ist auch anderen schnell aufgefallen, so dass beispielsweise der Publizist Sergiusz Kowalski am 22. April 1999 in "Gazeta Wyborcza" der Führungsspitze der Sozialdemokraten süffisant rät, sie möge im Zusammenhang mit der Umgestaltung des linken Parteienbündnisses SLD in eine eigenständige Partei doch nach einer anderen Tageszeitung Ausschau halten. Kowalski wirft "Trybuna" vor, sie bediene sich eines Stils, der an die Zeit alter Klassenkämpfe erinnere. So sei in dieser Zeitung wie zu Zeiten Gomulkas von "sogenannten westlichen Demokratien", vom "Militärisch-Industriellen-Komplex" und von "deutschen Revanchisten" die Rede. Bezüglich der letztgenannten Frage sei Kowalski beruhigt, die deutschen Trachten- und Umsiedlervereine sind tatsächlich bestrebt, ihr eigenes Süppchen auf dem Feuer des gegenwärtigen Balkankrieges zu kochen. Wenn in Deutschland in der Medienöffentlichkeit von Vertreibung, ethnischen Säuberungen geredet wird, dann ist für seine östlichen Nachbarn immer erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Da wird dann schon mal der tschechoslowakische Präsident Beneš mit Hitler, Stalin und Miloševic in einen Topf geworfen, da wird dann aber auch die Forderung laut erhoben, Polen und Tschechien müssten, bevor sie Mitglieder der EU werden sollten, altes "Unrecht" wiedergutmachen. Warum sollte eine polnische Zeitung diese Dinge nicht beim Namen nennen dürfen?

Wenn ich das Meinungsspektrum in Polen überblicke, dann freue ich mich insbesondere über die sehr entschiedene Haltung von Ludwik Stomma, dem Kolumnisten der "Polityka". Der weltgewandte Publizist, der ansonsten über Gott und die Welt zu schreiben versteht, nimmt zu diesem Thema kein Blatt vor den Mund, bringt seinen Schmerz, seine Ohnmacht in aufrüttelnder Weise zum Ausdruck. Hut ab, Herr Professor! Außerdem sei die Haltung von Mieczyslaw F. Rakowski gewürdigt, der sich nicht scheute, dem von ihm unterstützten politischen Lager in aller Öffentlichkeit ein unmissverständliches Nein! zu entgegnen. Zu guter Letzt möchte ich die Zeitschrift "Przeglad Tygodniowy" erwähnen, die sich Woche für Woche um Hintergründe und Zusammenhänge der Krise auf dem Balkan bemüht.