Polen und wir - Heft 50 - Juli 1999

POLEN IN DER NATO ODER DIE NATO IN POLEN ?

Anmerkungen zu einem historischen Vorgang

Von Harri Czepuck

Es gibt manchmal Zufälle im persönlichen Leben, die erst durch den Ablauf der Geschichte interessant werden, durch einen Zusammenhang, den sie dadurch erlangen.

Als die NATO im April 1949 gegründet wurde, "als Schirm und Schwert gegen die Gefahr aus dem Osten", war ich in Polen. "Zufällig" wäre im Hinblick auf meinen Aufenthalt in diesem Lande nicht ganz exakt, denn ich war noch deutscher Kriegsgefangener, aber zu dieser Zeit Redakteur der von deutschen Kriegsgefangenen redigierten und gedruckten Zeitung für die 40 000 deutschen Kriegsgefangenen in Polen DIE BRÜCKE. Dadurch hatte ich - nun wirklich zufällig - die Möglichkeit, polnische Zeitungen zu lesen. Darin wurde die damalige NATO-Gründung als ein Akt der militärischen Zuspitzung im Kalten Krieg kommentiert. Dem als Defensivbündnis ausgewiesenen Pakt wurden von östlicher Seite - wie man heute weiß, nicht ganz zu Unrecht - auch Aggressionspläne nachgesagt. Verstärkt äußerten die Zeitungen Sorge, daß besondere Gefahren für Polen entstehen könnten. Die Gefahr war absehbar, da die kurz vor der Gründung stehende Bundesrepublik Deutschland sich schon mit der Aufstellung von 12 Divisionen dem westlichen Militärbündnis angedient hatte und auf dem Territorium dieser künftigen Bundesrepublik Landsmannschaftsverbände entstanden waren, die ganz offen die Revision der polnischen Westgrenze verlangten.

ANTWORT AUF BEDROHUNG

Für Polen war dies nicht nur im damaligen Verständnis eine Bedrohung, die nun auch militärischen Charakter anzunehmen schien. Polen war dann auch für einen Gegenpakt, wie er ein Jahr später, nicht zufällig in Warschau, gegründet wurde und seither den Namen der polnischen Hauptstadt trug. Für Polen war klar, und der Gedanke wurde von der damals lebenden Generation geteilt, daß diese Grenze eines militärischen Schutzes bedürfe. Wer heute den Warschauer Pakt nur als Zwangsknute der Russen gegen seine eigenen Verbündeten ansieht, hat die damalige Zeit nicht erlebt oder vergessen. Er verkennt aber auch den Charakter des westlichen Militärbündnisses.

Der nächste Zufall ereignete sich fast auf den Tag genau 50 Jahre später. Zufall war nicht das Ereignis, daß Polen, die Tschechische Republik und Ungarn am 12. März 1999 Mitglied der NATO wurden, sondern die Tatsache, daß ich diese Situation wiederum im Lande selbst, diesmal zwar als Gast eines Sanatoriums, erlebte und wiederum vor Ort Stimmen, Stimmungen und Kommentare zur Kenntnis nehmen konnte.

Die unterschiedliche Situation innerhalb eines halben Jahrhunderts widerspiegelt einen Teil der Geschichte dieses Landes und auch Europas in dieser Zeit. Schlagzeilen feierten den Beitritt Polens zum amerikanisch dominierten Militärpakt als "Ende der Jalta-Ära" und heftig zitiert wurde auch die "New York Times", die anläßlich der Unterzeichnung der Beitrittsurkunde etwas anmaßend schrieb, der Akt symbolisiere "die Rückkehr der drei Nationen in die Mitte Europas, in die europäische Zivilisation". Manchmal traten geradezu religiöse Züge zutage. Da wurde der britische "Daily Telegraph" zitiert, der geschrieben hatte: " Die Polen begrüßen (den Eintritt in) die NATO, wie die Aufnahme in das Christentum"

Dabei übersahen die Kommentatoren, die da über das Ende der Jalta-Ära jubelten, bewußt oder unbewußt, daß gerade in Jalta, die Grenzen und die Unabhängigkeit des wieder erstandenen polnischen Staates von allen Siegermächten festgeschrieben und in gewissen Sinne garantiert worden waren. Solche geschichtlichen Gedächtnis- und Denkausfälle gab es in den Kommentaren eine Menge. Dennoch stehen diese Einschätzungen in einer etwas traurigen Übereinstimmung, mit den Auffassungen bei uns, daß beispielsweise mit der deutschen Vereinigung 1990 die Abmachungen von Potsdam für beendet erklärt werden könnten. Beide Einschätzungen zeigen allerdings, daß diejenigen, die sich mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges immer noch nicht abfinden wollen, sich politisch und nun auch militärisch durchgesetzt haben könnten.

GILT NOCH DER DEFENSIVCHARAKTER?

Freilich muß man der Frage nachgehen, worin denn die Wichtigkeit besteht: ob Polen sich in der NATO befindet oder die NATO in Polen. Da kommt man bei sachlicher Betrachtung doch zu nachdenklich machenden Ergebnissen. Es gibt ja nach dem 50.Jahrestag der NATO, wo neue strategische und zwar globale Strategien verkündet wurden, kaum noch einen Zweifel, daß sich die NATO von einem Defensivbündnis zu einem kollektiven Weltpolizisten unter amerikanischer Führung gewandelt hat. Das bestätigen sogar amerikanischen Stimmen, die es wissen müssen. Der ehemalige NATO-Oberfehlshaber und zeitweilige Außenminister der USA zur Reaganzeit, Alexander Haig, hat der Berliner Zeitung "TAGESSPIEGEL" (v. 2.5.99) in einem Interview erklärt: "Wir haben eindeutig den Zweck der NATO vergessen, weil wir uns von der Euphorie der " Neuen Weltordnung" haben blenden lassen. Die gibt es nicht. Es ist dieselbe dreckige alte Welt, nur komplexer und schwieriger zu steuern, schwerer vorauszusagen, weniger vom Bipolarismus im Zaum gehalten. Dies bedeutet eben, daß die NATO nicht die Allianz ist, die sich in out-of-area-Einsätzen engagieren sollte." Haig zweifelte deshalb sogar eine weitere längere Existenz der NATO an, "vor allem weil ich an die Folgen des Einflusses der letzten beiden US-Regierungen unter Bush und Clinton denke. Die haben versucht, der NATO eine extrem breite Strategie zu verordnen und sogar Rußland einzubinden. Ich glaube dies untergräbt ganz grundlegend die Legitimität des Defensivbündnisses NATO."

MEHRHEIT IN POLEN FÜR NATO

Zunächst muß man konstatieren, daß sich zwei Drittel der Bevölkerung für den NATO-Beitritt ausgesprochen haben, weil die NATO-Mitgliedschaft die Sicherheit des Landes gewährleiste. Das hat natürlich angesichts der leidvollen polnischen Geschichte eine gewisse Berechtigung. Polen fühlte sich immer als Pufferstaat, zwischen den beiden das Land jahrhundertelang bedrohenden Großmächten Rußland und Preußen/Deutschland. Mit der NATO-Mitgliedschaft glaubte man endlich aus dieser Situation herauszukommen, vor allem weil die USA an der NATO-Spitze gelegentlichen deutschen Vormachtsdrang zügeln und die russische Gefahr bannen würden. Man könnte sagen, daß es mit der Mitgliedschaft im Warschauer Pakt ähnlich gewesen sei, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Leider hatten die Polen da bestimmte Ängste, die ja auch nicht unbegründet waren, wenn man an den Beginn der achtziger Jahre denkt.

Aber unter den NATO - kritischen Stimmen, fand man beispielsweise auch den historischen Hinweis eines Lesers in der Zeitung GLOS KOSZALINSKI, daß schon einmal ein Pakt mit dem Westen nicht funktioniert habe, als es ernst wurde: 1939. Dennoch überwog der Jubel. Die Magazinzeitschrift WPROST verstieg sich in ihrer Kommentierung gar zu einem Wortspiel. Sie überschrieb ihre kommentierende Betrachtung mit "Independence Day", was auf den im amerikanischen Mittelwesten gelegenen Unterschriftsort Independence hinwies, als auch auf die polnische Wunschvorstellung nun mit dem NATO-Beitritt endlich auch Selbständigkeit und Unabhängigkeit errungen zu haben. Auf dem Pilsudski-Platz in Warschau, vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten fand am Abend des 12. März ein feierliches militärisches Zeremoniell mit dem polnischen Präsidenten Kwasniewski statt. In einer Reihe von Garnisonen gab feierlichen Appelle. Weil ganz in der Nähe meines Aufenthaltes abgelaufen, ist mir die Veranstaltung der 6. Polnischen Panzer-Kavallerie-Brigade in Starogard Szczecinski im Gedächtnis geblieben, an der auch Bundeswehrvertreter und Vertreter der dänischen Streitkräfte teilnahmen, als Abgesandte der schon vor dem offiziellen NATO-Beitritt gebildeten Deutsch-dänisch-polnischen Brigade, mit Stabssitz in Szczecin und einem deutschen Stabschef an der Spitze. Den Bürgern der Stadt wurde von den Militärvertretern versichert, daß Standort und dazugehörige Arbeitsplätze gesichert seien, wohl um die Bürger noch freundlicher zu stimmen. Denn: andere Militärstandorte in Polen müssen um ihre Existenz und damit um Arbeitsplätze fürchten, weil die NATO künftig bestimmen wird, wo Militärstützpunkte hingehören und wo nicht. In Kolobrzeg, dessen Standort bedroht ist, war deshalb beispielsweise die Sorge über den NATO-Beitritt größer, als anderswo, weil der Standort aufgelöst werden soll. Mit dem "Independence-Day" ist das wohl nicht ganz in Übereinstimmung zu bringen.

BEGINNENDE ZWEIFEL

Auch andere Nachrichten in jenen Tagen regten zum Nachdenken an. Da wurde darauf hingewiesen, daß die Bewaffnung der polnischen Armee dem "NATO-Standard angeglichen" werden müsse, was bedeutet, daß die polnischen Waffen, besonders die schwere Technik, die noch aus dem Warschauer Pakt stammt, und zum Teil in Polen selbst produziert wird, durch Waffen aus dem alten NATO-Bereich ersetzt werden sollen. Abgesehen davon, daß es so werden wird wie bei weitläufigen Verwandten, wo die ärmeren Verwandten immer die gebrauchten Sachen der reicheren auftragen müssen, werden in diesem Falle die abgetragenen Waffen aber noch bezahlt, also die Rüstungskosten in Polen erhöht werden müssen. Ob das der Wirtschaft Polens nutzt oder schadet, an der just zum Beitrittszeitpunkt wieder einmal Herr Balcerowicz mit dem Rotstift tätig wurde, bleibt abzuwarten.

In der Warschauer "Trybuna" vom 16. 3. 99 war beschwichtigend zu lesen: "Um seine reale Souveränität muß jedes Land ständig kämpfen, ohne sich nach den Widrigkeiten des Schicksals umzusehen. Es ist ein Paradoxon - die polnische Souveränität ist durch fehlendes Eigenkapital und der Schwäche unserer eigenen Wirtschaft mehr bedroht, als durch die Konsequenzen, aus dem NATO-Beitritt."

Im Übrigen, was die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes durch den NATO-Beitritt anlangt, so wird man die Worte des deutschen Bundeskanzlers anläßlich des Kriegseintritts Deutschlands im Rahmen der NATO gegen Jugoslawien, im Ohr haben müssen, der in seiner Fernsehrede an die Nation rundheraus erklärte: Eigentlich wollten wir ja nicht. Aber Bündnisräson ist Staatsräson. Deutlicher kann man wohl nicht zu erkennen geben, daß NATO-Mitgliedsstaaten sich den Befehlen der NATO-Militärs zu beugen haben.

MENETEKEL KOSOVO

Überhaupt hat der Kosovo-Krieg, in den Polen vier Wochen nach den Beitrittsfeierlichkeiten hineingezogen wurde, die kritischen Stimmen lauter werden lassen. Freilich ohne schon einen Stimmungsumschwung herbeizuführen. Sonst hätte wohl Ministerpräsident Buzek angesichts des Treffen mit Bundeskanzler Schröder in Gdansk auf den Satz: "Für Polen geht es bei der Unterstützung der NATO im Kosovo um Verantwortung und Ehre." verzichtet. Um hier noch einmal Alexander Haig im TAGESSPIEGEL zu zitieren: "Uns in Kosovo verwickeln zu lassen, war politisch falsch....Politisch würde ich sagen: wir haben dort nichts verloren. Wenn man sich aber engagiert, wenn es dann folglich auch um die Zukunft und das Prestige der NATO geht, dann kann man keinen Krieg mit Bremsen führen. Wenn die NATO verliert, wird dies eine entscheidende Niederlage - ohne Erholung danach."

Wenn also mit dem Kosovo-Krieg eine Diskussion beginnt, über den Sinn und eine Strategie der NATO, dann wird auch Polen davon erfaßte werden. Dann werden Überlegungen akut, warum die Eile beim Eintritt in ein Militärbündnis statt der raschen wirtschaftlichen Einbindung in den europäischen Wirtschaftsraum.