Warum sind Sie mit der
Entschädigung unzufrieden?

Die Zeitung junge Welt sprach mit dem ehemaligen Auschwitz-Häftling Rudy Kennedy. Rudy Kennedy wurde 1943 als 15jähriger von Breslau nach Auschwitz deportiert. Er ist Vorsitzender des “Claims for Jewish Slave-Labour Compensation”, einer Organisation mit Sitz in London, die sich für die Entschädigung ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter engagiert

jW: Nach der elften Verhandlungsrunde um die Entschädigung ehemaliger Nazi-Zwangsarbeiter ist am Donnerstag eine Einigung um die Verteilung der Gelder erzielt worden. In der deutschen Presse wurde das als großer Erfolg gefeiert. Wie bewerten Sie das Ergebnis?

RK: Nach unserer Meinung ist das Ergebnis eine Beleidigung für die Überlebenden. Sicher, man kann Leiden nicht mit Geld aufwiegen. Aber das wenige Geld, das nun ausgezahlt wird, ist nicht mehr als ein Almosen. Zudem ist gar nicht bekannt, wie viele Menschen entschädigt werden sollen. Trotzdem wird von vornherein ein Betrag festgelegt. Wir waren jahrelang im Konzentrationslager und haben dort für die Unternehmen geschuftet. Für diese Unternehmen ist allein schon die späte Entschädigung ein Rabatt, denn nur ein Bruchteil ihrer Opfer hat die Torturen überlebt. Von diesen Überlebenden sind in den letzten Jahrzehnten sehr viele gestorben.

Die Hauptverantwortlichen hatten keine braunen oder schwarzen Uniformen an: Sie trugen Nadelstreifenanzüge. Wir haben täglich zwei Mahlzeiten bekommen. Das wurde von den Firmen organisiert. Ebenso wie die Unterkunft. Die SS-Wachmänner haben nur die Gebäude bewacht. Die unmenschliche Behandlung aber ging von diesen Firmen aus. Sie haben uns jeglicher ziviler Rechte beraubt. Es wurde getreten und geschlagen, bis die Menschen einfach gestorben sind. Und dann wurde neue “Ware” hereingebracht. Das muss man im Hinterkopf behalten, denn während der Verhandlungen wurde uns entgegengehalten, dass wir formalrechtlich eigentlich gar keine Handhabe gegen die Wirtschaft hätten. Das heißt doch, dass ich, der ich in Deutschland geboren wurde, bis heute meine Rechte nicht zurückerhalten habe. Von Rechts wegen müssten wir doch unseren Lohn bekommen und hätten Rentenansprüche. Die deutsche Seite verhält sich hier wie in “Alice im Wunderland”: Alles wird auf den Kopf gestellt, alles wird umgekehrt.

F: Kann man also sagen, dass die Interessen der deutschen Wirtschaft stärker gewichtet werden als die ihrer Opfer?

RK: Was heißt stärker? (...) Hier in England ist vor kurzem eine Frau verhaftet worden und hat dabei, weil die Polizisten sie misshandelt haben, Verletzungen davongetragen. Sie hat danach über 20 000 Pfund erhalten, also über 60 000 Mark. Das ist an einem Tag geschehen. Wir waren Tausende und wir haben mehr als tausend solcher Tage erlebt. Und die Verbrechen sind vorsätzlich begangen worden.

Ich war bei vielen Verhandlungsrunden dabei. Die Vertreter der deutschen Wirtschaft haben uns gesagt, dass wir uns beeilen sollen, weil viele von uns jeden Tag sterben würden. In 50 Jahren ist nichts passiert und jetzt soll es unsere Schuld sein, wenn wir die Angebote nicht akzeptieren, weil sie nicht annehmbar sind?

F: Ein weiterer Aspekt sind die Opfer in Osteuropa, von denen viele leer ausgehen werden.

RK: Ich vertrete ja die jüdischen Opfer. Es ist für uns ganz klar, dass auch diese Menschen furchtbar behandelt wurde. Um den Krieg zu führen, wurden Hunderttausende herbeigeschafft und in Arbeitslager gepfercht. Ein großer Teil dieser Menschen soll heute leer ausgehen. Von den Verantwortlichen wird ein Betrag zur Verfügung gestellt, und wir sollen uns um die Aufteilung kümmern. Aber das ist doch nicht unsere Aufgabe. Das erinnert mich alles sehr an meine Erlebnisse im KZ. Da waren Juden und Nichtjuden, die sich gegenseitig bedrohen mussten und die sich gegenseitig bekämpften, um überleben zu können. Genauso kommt mir das heute vor: Wir bekommen Geld vorgeworfen und können uns dann darum streiten. Das ist grauenhaft.

jW: Was halten Sie von dem angestrebten Zukunftsfonds, für den 700 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden sollen?

RK: Wir wollen, dass für diesen Fonds so wenig wie möglich gezahlt wird. Wir befürchten, dass dieses Geld nicht zur Wahrheitsfindung benutzt wird, sondern, um für die Industrie Propaganda zu finanzieren. Es wäre viel billiger, wenn man einfach die Archive öffnen würde. Derzeit hat jede Firma dort aber ihre eigenen Historiker drin. Und die dürfen nicht gestört werden. Man kann sich ja vorstellen, was dort herauskommen wird. Die Verhandlungen haben nach einem halben Jahrhundert die Möglichkeit geboten, eine Versöhnung zu erreichen. Diese Chance ist nun vertan.

Interview: Harald Neuber

 

 

Und wie billig sie davonkommen!

 (...) Also jetzt ist mit Zahlung zu rechnen! Nach jahrelangem Feilschen! Nachdem erst nach einem halben Jahrhundert die Entschädigung der Zwangsarbeiter überhaupt auf die politische Tagesordnung kam. Ach ja, zunächst haben die deutschen Großunternehmen alles geleugnet, sich selbst als Opfer des Naziregimes dargestellt und erklärten, man habe ihnen die Zwangsarbeiter aufgezwungen. Das war der größte Skandal!

Als auf Druck von Klagen der Holocaust-Opfer die Schweizer Banken die “verschwiegenen Konten” öffneten und einen Entschädigungsfonds einrichteten, waren die deutschen Konzerne gewarnt. Als die Sammelklagen gegen US-Niederlassungen deutscher Konzerne in Aussicht standen, sahen sie ihr Exportgeschäft gefährdet. Da erst kam es zur Gründung eines Entschädigungsfonds, in den die Unternehmen fünf Milliarden einzuzahlen hätten. (...) In Wirklichkeit zahlen die Konzerne nur 2,5 Milliarden Mark, die andere Hälfte erhalten sie von der Steuer zurück. Und wie billig sie davonkommen! Denn von ehemals etwa zwölf Millionen Verschleppten leben (...) etwa eine Million, die in den Genuss einer “Entschädigung” kommen könnten, wenn sofort ausgezahlt wird. Wie dringend das ist, ergibt sich daraus, dass täglich über tausend von ihnen sterben. Wirtschaftswissenschaftler haben errechnet, dass die Unternehmen von den “ersparten” Lohnzahlungen auf die heutige Währung umgerechnet 180 Milliarden Mark Gewinne erzielten (...). Dabei ging es in all den Verhandlungen seitens der Regierung nicht um die Rechte der überlebenden Zwangsarbeiter, nicht um die moralische Pflicht der Bundesrepublik gegenüber den Opfern des Naziregimes, sondern vielmehr um den Schutz der deutschen Großunternehmen vor deren Klagen und vor allem um das Exportgeschäft. Nun kommen die bürokratischen Hürden mit Meldefristen und mit Staffelung und mit der Erpressung, dass die Opfer auf weitere Forderungen verzichten müssen. Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit darf das aber nicht sein!

Peter Gingold (Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) junge Welt vom  25.3.2000. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.