Mythen und Tabus

Von Friedrich Leidinger

Deutsch-polnische Verständigung, die sich nicht in oberflächlichen Dingen erschöpft, wird früher oder später auf das Thema des jeweiligen Verhältnisses zu den Juden stoßen. Anders als die Deutschen sind die Polen durch die Erfahrung des Holocaust und seiner Folgen für die polnische Gesellschaft traumatisiert. In den 20er Jahren zählten sich bei Abstimmungen 2,8 Millionen polnischer Einwohner zur jüdischen Minderheit, das waren etwa 9 Prozent der Bevölkerung. Allein in Warschau lebten damals ungefähr so viele Juden wie im ganzen Deutschen Reich. Wenn deutsch nicht nur in den großen Städten sondern auch in den Dörfern bis an die Grenze der Sowjetunion als lingua franca gesprochen wurde, dann lag das auch an der jiddisch sprechenden jüdischen Bevölkerung Polens, deren politische Vertreter im polnischen Sejm eine häufige Abstimmungskoalition mit den Abgeordneten der deutschen Minderheit, der zweitgrößten Minorität des Landes, bildeten.

Von den polnischen Juden hat nur eine geringe Anzahl die Shoah überlebt. So wie die heutigen politischen Grenzen und die ethnische Zusammensetzung Polens als Folge des von Deutschland geführten Vernichtungskrieges erklärt werden kann, so ist die Gründung des Staates Israel ganz wesentlich als Reaktion der Staatengemeinschaft auf die Shoah zu verstehen.

Doch was vordergründig als Erklärung erscheint, wirft mehr Fragen auf und weist auf noch größere Probleme hin. Da ist die Opferrolle, die Juden und Polen angesichts der deutschen Vernichtungsmaßnahmen zu tragen hatten. Kann man Völkermord differenzieren? Man muss. Man muss allein schon deshalb, weil die Distanzierung, die hinter Begriffen wie “Völkermord”, “Holocaust“ oder Judenvernichtung“ steht, das Beschreiben einer Wahrheit erschwert. Die Unterscheidung erfolgt allerdings nicht nach der Zahl der Opfer. “Polen” als Staat sollte verschwinden, aber seine Menschen sollten, sofern sie an dem in der neuen deutschen Weltordnung von 1940 vorgesehenen geographischen und sozialen Platz waren, als dienende “Untermenschen” weiterleben. Für die Juden hingegen sollte kein Platz und kein Name mehr sein.

Doch wem gehören die Opfer? Welcher Pole starb als Jude, welcher Jude als Pole? Die katholische Kirche kennt Heilige, die wegen ihres Glaubens den Märtyrertod gestorben sind. Aber die vom polnischen Papst kanonisierte und in Polen sehr populäre Edith Stein wurde nicht als katholische Karmeliter-Schwester oder wegen ihrer philosophischen Schriften, sondern wegen ihrer jüdischen Abstammung in Auschwitz ermordet.

Hinter dem jüdischen Schicksal, das mit den Namen der in Polen gelegenen Stätten der Vernichtung verknüpft ist, fällt das polnische Schicksal in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit oft zurück. Wer weiß schon, dass in Auschwitz seit Juni 1940 Zehntausende Polen umkamen, bevor im April 1942 mit den Transporten in die Birkenauer Gaskammern das dortige Kapitel der Shoah begann? Auch die Verdrängung des Völkermordes und seine politische und rechtliche Aufarbeitung unterliegt also der Differenzierung. Gerade das Kapitel Opferentschädigung zeigt, wie sehr die Polen und andere slawische Völker gegenüber jüdischen Opfergruppen benachteiligt wurden und es bis heute bleiben.

Das Bewusstsein dieser Benachteiligung macht viele Menschen in Polen empfindlich. Sie reagieren verletzt, wenn ihre Art des Totengedenkens in Auschwitz bei Vertretern amerikanischer oder westeuropäischer jüdischer Organisationen auf Kritik, ja sogar militanten Protest stößt. Wenn die Mehrheit der polnischen Öffentlichkeit Kreuze oder das Gebet katholischer Nonnen am Ort des Märtyrertums von Menschen aus fast ganz Europa und fast aller Bekenntnisse gegen Kritik aus dem Ausland – denn in Polen hat niemand ernsthaft daran Anstoß genommen – verteidigt, so drückt sich in dieser Abwehr auch Verbitterung über die Selbstgerechtigkeit der westlichen Nationen aus, die während des Zweiten Weltkrieges gegenüber den verzweifelten Bemühungen des polnischen Untergrundes, die Weltöffentlichkeit auf die barbarische Vernichtungspolitik der Deutschen aufmerksam zu machen, lange indifferent blieben und heute den noch lebenden polnischen Opfern wie den Nachgeborenen eine antijüdische Haltung vorwerfen. Die polnische Befindlichkeit gegenüber der wohlmeinenden Mahnung, sich endlich mit dem „polnischen Antisemitismus“ zu befassen, ist deutlich von dem antisemitischen Gekasper gewisser Klerikalfaschisten und ihres Propagandasenders „Radio Maryja“ zu unterscheiden. Antisemitismus ist genau so wenig ein spezifisch polnisches wie ein spezifisch katholisches Problem, denn Antisemitismus gehört zum Charakter fast jeder modernen Nation und mehr oder weniger aller christlichen Bekenntnisse.

In keinem von Deutschland besetzten Land war der Widerstand gegen die Maßnahmen der Okkupanten gegen Juden so umfangreich und so wirksam wie in Polen. Kollaboration wie in Frankreich oder den Niederlanden gab es in Polen nicht. Von den als „Gerechte der Völker“ in Jerusalem geehrten Menschen sind die meisten Polen. Auf einer Tagung berichtete ein polnischer Sprecher von 5000 polnischen Zivilisten, die für Hilfeleistung an Juden hingerichtet wurden. Aber das zeige auch, dass 5000 Menschen wegen ihrer Hilfe für Juden von ihren Nachbarn denunziert wurden, entgegnete sein israelischer Gesprächspartner. Ein Kalauer, der zeigt, das selbst über den Opfertod von Tausenden angesichts der heillosen Vergangenheit keine Verständigung mehr möglich erscheint.

Die wechselseitige Berührung polnischer und israelischer Identität ist nicht allein auf das Opferschicksal beschränkt. Sie findet ihren Ausdruck in der Anekdote von der israelischen Ministerrunde, die unversehens in der polnischen Muttersprache der anwesenden Kabinettsmitglieder disputiert (wohl zur Zeit eines Premierministers Begin), sie zeigt sich in der wiedergeborenen Präsenz jüdischer Kultur im heutigen Polen, wo sich doch kaum 5000 Menschen zum Judentum bekennen (in Deutschland sind es etwa zehnmal mehr), sie zeigt sich in der geschichtlichen Analogie der zionistischen Utopie und der Utopie einer Wiederbegründung der Rzeczpospolita als osteuropäischer Territorialmacht.

Doch gerade in der Analogie utopischer Gesellschaftsentwürfe zeigt sich auch der Widerspruch, die kaum zu beschreibende Paradoxie im polnisch-jüdisch-israelischen Verhältnis. Die Idee des neuzeitlichen Judenstaates war die jüdische Antwort auf den immer erfolgreicheren ethnischen Nationalismus unter den Völkern Galiziens, die aus der multiethnischen Hinterlassenschaft des polnischen Feudalstaates hervorgegangen waren.

Die patriotisch gesonnene intellektuelle und künstlerische Elite der polnischen Romantik sah dagegen im geteilten Polen einen Messias, der durch seine Passion alle Völker von ihrer Unfreiheit erlösen würde. Adam Mickiewicz, der klassische Dichter für die nationale Wiedergeburt Polens, brachte diese Stimmung in seinem Stück “Dziady“ (Die Ahnen) zum Ausdruck. Es konnte zu seinen Lebzeiten in Polen nicht aufgeführt werden, sicher nicht wegen der antisemitischen, sondern vor allem wegen seiner antirussischen Sentenzen. In der 2. Republik gehörte es zum Repertoire zahlreicher polnischer Bühnen, bis die Okkupation das Stück wieder absetzte. Aber auch nach 1945 verhinderte der Zensor Aufführungen des mystischen Epos.

Das änderte sich erst zwanzig Jahre später. Die Warschauer Premiere im März 1968 geriet zum Skandal und löste eine landesweite antisemitische Kampagne aus, dem Geschmack der Zeit folgend als “antizionistisch“ verbrämt. Zu Zehntausenden verließen die letzten noch in Polen lebenden Juden das Land, nur wenige hundert blieben im Land. Doch zugleich war die Kampagne von 1968 ein weiterer Schritt der “Entstalinisierung“ nach 1956. Ihr Nachhall war noch in den 80er Jahren unter dem Kriegsrecht zu vernehmen, als ein Buch unter dem beziehungsreichen Titel “Oni“ (“Die Anderen“) zum erstenmal das polnische Publikum mit aktuellen Interviews noch lebender Repräsentanten des staatlichen Repressionsapparates der ersten Nachkriegsjahrzehnte konfrontierte. War es Zufall oder gezielte Auswahl, dass 11 der 13 dort porträtierten Führer eines verhassten Regimes jüdische Namen trugen? War es nur ein Problem der politischen Korrektheit, wenn antikommunistische Oppositionelle in dieser Zeit unbefangen von der “Żydokomuna“ (ungefähr “jüdische Kommunistenclique“) redeten?

Das jüdisch-polnische aber auch das deutsch-jüdische und das polnisch-deutsche Verhältnis ist am Ende des 20. Jahrhunderts eher von wechselseitigen Verstrickungen, Projektionen und Schuldgefühlen als von der Erkenntnis einer tiefen Zusammengehörigkeit bestimmt. Um den deutschen Anteil daran besser zu verstehen, sei hier eine Lektüre empfohlen. Vor mehr als 75 Jahren verließ ein großer deutscher Schriftsteller mit polnisch-jüdischen Eltern seine Heimatstadt Berlin für zwei Monate und reiste durch Polen. Über den Anlass seiner Reise schrieb Alfred Döblin, inzwischen in der amerikanischen Emigration katholisch geworden, 25 Jahre später: “In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ereigneten sich in Berlin pogromartige Vorgänge, im Osten der Stadt, in der Gollnowstraße und Umgebung. Das geschah auf dem Landsknechtshintergrund dieser Jahre; der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus. Damals luden Vertreter des Berliner Zionismus eine Anzahl Männer jüdischer Herkunft zu Zusammenkünften ein, in denen über jene Vorgänge, ihren Hintergrund und über die Ziele des Zionismus gesprochen wurde. Im Anschluss an diese Diskussionen kam dann einer in meine Wohnung und wollte mich zu einer Fahrt nach Palästina anregen, was mir fremd war. Die Anregung wirkte in anderer Weise auf mich. Ich sagte zwar nicht zu, nach Palästina zu gehen, aber ich fand, ich müsste mich einmal über die Juden orientieren. Ich fand, ich kannte eigentlich Juden nicht. Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren. Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin daraufhin nach Polen gefahren“ (Zitat in A. Döblin, Reise in Polen. dtv 2428. S. 352).

Dieses Polen, das Döblin zwei Monate lang bereiste, ist für immer untergegangen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Untergang ist vielleicht die Zeit reif, dass Israelis, Polen und Deutsche zusammen kommen, um die Fäden aus der Vergangenheit aufzunehmen und über Ausblicke in die Zukunft zu reden.

(Dr Autor, Dr. Friedrich Leidinger, ist Psychiater in Köln und stellvertretender Vorsitzender unserer Gesellschaft. Er lebt in Hürth.)

 

 

Die Bedeutung des KZ-Auschwitz im polnischen Bewusstsein

Einer repräsentativen Umfrage des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS vom 15.-17. Januar 2000 zu Folge verbinden sich nahezu gleichrangig Auschwitz (31%) und der deutsche Überfall auf Polen (30%) im Bewusstsein der Polinnen und Polen mit dem Begriff des II. Weltkrieges, erst danach folgt mit deutlichem Abstand der Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 (12%) Es wächst in den letzten Jahren der Anteil der Polinnen und Polen, die im KZ-Auschwitz-Birkenau in erster Linie ein Vernichtungslager für Jüdinnen und Juden sehen. Bereits 30% bezeichnen das KZ als in erster Linie Ort der Vernichtung des jüdischen Volkes (1995=8%), nur noch 43%  sehen diesen Ort als in erster Linie Martyrium (1995=47%) des polnischen Volkes an. Bei der Frage, als was kann man Auschwitz bezeichnen, wurde die Haltung noch deutlicher. So bezeichneten 83% der Befragten Auschwitz als Ort des Völkermords, 79% als Ort der Judenvernichtung, 76% als Ort des Todes vieler Polen.

Die Umfrage ergab auch, dass eine Mehrheit es für erlaubt hält, religiöse Kulthandlungen auf dem Gelände des Konzentrationslagers und in unmittelbarer Nähe zu verrichten (KatholikInnen 69%, andere 56%) , aber ebenso war die deutliche Mehrheit dagegen, dort sakrale Gebäude zu errichten (60% der KatholikInnen, andere 63%). (Gazeta Wyborcza vom 28. Januar 2000)

w.s.