Eine polnisch-israelisch-deutsche Begegnung in Krakau

Das Treffen, zu dem etwa 50 Ärzte, Psychologen und Historiker aus Israel, Polen und Deutschland im vergangenen September in Krakau zusammen gekommen sind, darf wohl als historisch bezeichnet werden. Zwei Tage lang sprachen sie an einem symbolträchtigen Ort, dem jüdischen Kulturzentrum im Stadtteil Kazimierz, über Ressentiments, Vorurteile und verdrängte Wahrheiten im Verhältnis zueinander. Getragen wurde die Begegnung von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit e.V., der Israelischen Psychiatrischen Gesellschaft, dem Zentrum für Jüdische Kultur "Fundacja Judaica", dem Lehrstuhl für Psychiatrie der Jagiellonen-Universität und der Haubenstock-Stiftung. Ursprünglich als Dreiecksgespräch geplant, nahm der polnisch-israelische Austausch auf dem Treffen den breitesten Raum ein. Einige der israelischen Gäste äußerten ihre Angst, in Polen zu sein und sich auf diese Weise den traumatischen Erfahrungen ihrer Familie anzunähern. Die formale Klammer der Begegnung war das Gespräch über die Verarbeitung der Erfahrung des Holocaust. Dazu gab es Berichte über das Weiterleben von Menschen, die dem Vernichtungslager entronnen sind, und ihr Schicksal in der israelischen Gesellschaft, über das Überleben polnischer Juden unter dem Schutz einer angenommenen “arischen” Identität am Beispiel der Krakauer Psychologin Maria Einhorn-Susu³owska oder über das wissenschaftliche und moralische Vermächtnis des in Krakau geborenen israelischen Psychoanalytikers Hillel Klein.  POLEN und wir dokumentiert hier einen der Beiträge, die sämlich vollständig in “Dialog”, Zeitschrift der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit, die Ende des Jahres erscheinen wird, veröffentlicht werden.  (F.L.)

 

Das jüdische Tabu unter den Polen

Von Magda Cechnicka

Taburaum. In diesem Raum verstumme ich, schließe die Augen, wende mich ab. Als wollte ich mich verweigern, weglaufen vielleicht, um die großen, universellen Dinge, aber auch die zufällig hier und da gelegenen Verbote, Schamgefühle, Ängste und Geheimnisse nicht auszusprechen. Ein Tabu wappnet sich mit Sanktionen. Sanktionen, die aus dem selben Stoff sind, wie das Tabu, von dem sie ihren Ausgang genommen haben. Ungeheuerliche Strafen, Drohungen, vielleicht Vernichtung. Die Macht eines Tabus wird uns bewusst, wenn es uns so gefangen hält, dass wir nicht einmal mehr die Strafe, die Sanktion kennen (wollen).

Auf der Flucht aus Sodom dreht sich Lots Weib um und versteinert zur Salzsäule - sie hat das Tabu, das Verbot, sich umzudrehen, gebrochen. Dabei hatte Gott Lot gewarnt: "Fliehe, damit du dein Leben rettest, und schaue dich nicht um und halte dich nirgends auf.... denn sonst kommst du um." Salz reinigt. Sich umzuschauen erfüllt das Bedürfnis nach Erinnerung, die Identität konstituiert. Der Preis allerdings, das Opfer ist hoch. Wer sich erinnern will, kann dafür sein Leben verlieren. Wenn wir die Salzsäule als Metapher betrachten, so gibt es keine größere und schrecklichere Träne. Das brennende Sodom, gestraft durch Gottes gerechten Zorn.

Aber wie die Zeit verstehen, in der Gott schwieg und aufhörte, mit seinem auserwählten Volk zu reden? Wie mit den Bildern von brennenden Kindern in Treblinka, Be³¿ec, Sobibor, Majdanek umgehen? Schon danach zu fragen erscheint unmöglich. Das absolut unmenschliche Böse lässt alle Worte zu Stein werden. Schweigen breitete sich aus unter denen, die sich gerettet haben, die gerettet wurden. Einige schwiegen für immer, selbst ihre engsten Angehörigen erfuhren nie “davon”; andere fingen nach Jahren an zu sprechen. Und solche wie ich, nach dem Krieg geboren, schweigen, empfinden caritas, tiefes Mitgefühl, wehren zugleich Vorwürfe ab, sind noch nicht in der Lage, Verantwortung auf sich zu nehmen, wollen nicht die Schuld tragen.

In meiner Erinnerung reicht das Wort “Jude” zurück bis zu einem bestimmten Nachmittag, ein vieldeutiges Bild aus meiner frühen Kindheit (ich glaube, es war 1952), das sich mit ungewöhnlicher larheit in meine Erinnerung gegraben hat.

Es ist das Bild einer zerstörten Synagoge. Vom Fenster in der Wohnung meiner Oma, die gerade aus Sibirien heimgekehrt ist, spähe ich in das enthüllte, entblößte Innere des Gotteshauses. - Wer wohnt denn da? frage ich - Niemand, da haben die Juden gebetet - Wo sind die jetzt? - Die sind jetzt weg.

Dieses Bild und die damit verknüpfte durchdringende Traurigkeit wanderten in die verschwiegensten Schlupfwinkel meines Gedächtnisses. Sie verschmolzen dort mit vielen anderen Dingen, über die ich damals und später schweigen musste, zu niemand reden durfte, die für lange Zeit Geheimnisse blieben und noch lange mein Leben geformt haben. So verankerte sich das Judentum tief in meiner Vorstellung als etwas auf geheimnisvolle Weise Abwesendes, das ich erst Jahre später über die Literatur kennenlerne. Mit einem nicht grundlos eigenartigen Eifer lese ich alles, oder wenigstens vieles, was an Romanen, Erinnerungen etc. erscheint. Diese Welt erregt meine Aufmerksamkeit. Ich kaufe Schallplatten von Supraphon und lausche auf meinem Plattenspieler “Bambino” dem Gesang Prager Kantoren “Shema Isruill ...”. Ekstatische Bibelgesänge bilden die akustische Kulisse zur Lektüre der Romane Stryjkowskis, die die Erinnerung an die Welt jener, die “weg” sind, beschwören, und berühren mich mit tragischer Inbrunst. Juden leben im 19. Jahrhundert und “vor dem Krieg”.

Der Krieg gehört zu unserer Familiensaga, Deportation, Partisanenkampf, brutale Einschnitte in Lebensläufe. In ihm erreichte der Patriotismus meiner Familie nach vorangegangenen Heldentaten in der Zeit der Aufstände der frühen Republik seinen absoluten Höhepunkt. Der Krieg war ein riesiges Fresko. Ein Höllenbild, in dem auf der einen Seite Menschen an die Wand gestellt, bei Razzien verhaftet, in Lagern oder bei der Gestapo ermordet wurden - das waren wir - und auf der anderen die Nazis, Deutsche. Ich weiß nicht, ob es Folge meiner Unwissenheit, meiner mangelnden Vorstellungskraft war, oder ob ich auch zu den Produkten dieses “Verschweigens der Vernichtung”, wie es die Historiker jetzt nennen, gehöre. Ich war blind. Ich sah dort keine Juden. Aber vielleicht habe ich sich auch nicht von uns ausgenommen. Diese Vergasten und Verbrannten, mit entsetzlicher Präzision Vernichteten waren in meinem Bewusstsein (ich bin nach dem Kriege geboren) keine anderen als WIR. Ich kannte auch keinen Juden persönlich. So bleibt es bis 1968, als sich herausstellt, dass Zeñka Zylbersztajn, die immer so nervös an ihren langen Haaren zupft, nach Israel auswandern muss. Dabei will sie gar nicht. Ihre Eltern hat man zur Auswanderung gezwungen. Ich spüre ein Gefühl von Tragik wie in einem antiken Drama. Ich bin schutzlos und schmerzhaft verstrickt und habe doch keinen Einfluss.

Die Situation, eine Laune der Geschichte, Manipulation, Leute (welche?) lassen uns als Menschen gegenüber stehen, deren Identität gewaltsam und ohne unser Zutun festgelegt wurde.

Der Uhrzeiger dreht sich in irrsinnigem Tempo rückwärts wie in einem Science-Fiction-Film bis zu Zeñkas Großvater, einem Uhrmacher aus Stanis³awowo, der daran Schuld ist, das Genowefa, genannt Zeñka, Russischstudentin, Jüdin werden und Krakau, ihrem Schatz und dem bevorstehenden Grammatikkolloquium den Rücken kehren muss.

Ich lese J. Andrzejewskis “Warschauer Karwoche” - lautes Geschrei, Feuerschein über dem Ghetto, Bilder wie mit einem umgedrehten Fernglas betrachtet. Dann aus der Nähe die Helden der Erzählung, Menschen, die sich aus der formlosen Masse herauslösen. Jetzt hat sie Zeñkas Gesichtszüge. Irena und Jan, befreundet aus der Vorkriegszeit, ein Studienkollegen, treffen sich hier wieder. Ein flüchtiger Flirt hatte sie damals zusammengeführt. Jetzt lebt sie als Jüdin versteckt; voller Bitterkeit, jeden falschen Ton im Gespräch mitleidlos bloßstellend, anklagend. Er spürt schon den natürlichen Impuls, ihr zu helfen, aber er sorgt sich auch um seine Frau und das Kind, das sie erwartet. Und obwohl er ihr Unterschlupf gewährt, liegen ihre Welten weit auseinander. Es ist die selbe Zeit, der selbe Ort und die selben Ereignisse - drei aristotelische Kennzeichen eines Dramas - und doch spielen sich zwei verschiedene Dramen ab. Keiner weiß vom anderen, sie bleiben sich fremd. Zwei völlig getrennte Geschichten, jeder vertieft in sein eigenes Drama von Einsamkeit und Verlassenheit.

In den siebziger Jahren und später erschienen Erzählungen und Berichte über die Shoah, deren Autoren oder Hauptpersonen mit dem “Leben davon gekommen” waren, und wohl keiner von ihnen hielt diese Tatsache für selbstverständlich. Juden bekamen nun ein individuelles Gesicht, eine Geschichte, die man bisher vielleicht nicht aussprechen konnte; aussprechen, weil eine Erzählung immer von einem epischen Prinzip durchströmt wird, nach dem stillschweigend nur das erzählt wird, was erzählt werden kann. Hier war es anders. Es wurde ausgesprochen, was völlig unmöglich erschien. Diese Zeit des Verschweigens, Zeit ohne Worte musste wohl verstreichen, bis die Erinnerung eine Bresche durch eine versteinerte Sprache, der es an Worten, Begriffen, Benennungen und Bedeutungen fehlte, schlagen konnte. Eine Erinnerung, die nicht in eine erzählerische Vergegenständlichung - er sah ... er fühlte, dass ... - zu fassen war. Die Erschaffung einer direkten Sprache voller durchsichtiger, emotionaler Ausdrücke überwand diese Unvollkommenheit der damaligen Sprache in der Literatur.

Nach 30, 40 Jahren kamen Menschen zu Wort, die oft die einzigen Zeugen eines Bruchstücks der Geschichte waren, die ihren Widerstand, Abwehr und Schmerz, sich zu erinnern und Worte für die Zeit der Shoah zu finden, überwanden.

Diese Angst vor Worten hat einen Namen: In der Geschichte der Holocaust-Überlebenden Miriam Akavia reist die Hauptperson der Geschichte nach Tel Aviv zu ihrer Familie. Beim ersten Treffen Fragen nach der Familie. “Margot hob die Augen und murmelte einige unverständliche Worte. Onkel und Tante erwarten eine Antwort, aber wie ihnen erklären, was geschah, wenigstens an einem Abend? ... Du hast uns gar nichts erzählt, Margot. ... Was ist mit den Eltern geschehen? Wo ist Rut? Wart ihr nicht zusammen? Erzähl. (In einem inneren Monolog taucht eine Reihe schrecklicher Bilder auf) ... Ich kann euch nichts erzählen. Vielleicht ein andermal.”

Ganz ähnlich und ohne Vermittlung einer literarischen Figur benennt M. G³owiñski dieses Problem in seinem autobiographischen Buch: “Immer noch hielt mich etwas davon zurück, meine Absicht in die Tat umzusetzen, im Grunde wehrte ich mich dagegen, als bewirkte der Prozess des Aufschreibens, dass die Erlebnisse in mir in ihrer ganzen Schrecklichkeit wiedererstanden.”

Auch E. Hoffman spricht vom Schrecken, als sie an ihrem Roman “Sztetl” arbeitet. “Ein Roman über Polen und Juden zur Zeit der Shoah. In Polen zur Zeit des Krieges; ein in jeder Hinsicht schrecklicher Roman. Er erzeugt zugleich Achtung und Entsetzen. Wer damit in Berührung kommt, kann sich leicht eine moralische Geistesverwirrung zuziehen, eine tödliche Erkrankung.” Doch eine tödliche Erkrankung ist nicht genug der Bedrohung, um sich nicht umzudrehen wie Lots Weib, das hervorzuholen, was man aus der Erinnerung nicht tilgen kann, was irgendwie weiter lebt, so dass es auch ohne Worte Einfluss auf den, der damit “umgeht”, hat. “Wir rannten hinter einer Mauer menschlicher Leiber. Mein Großvater im Gehrock und Mantel, dahinter Mutter unter einem Tuch, und dahinter ich, den Kopf verhüllt. Ich sah nur Beine. ... Meine Knie schmerzten. Ich glaubte Schüsse in den Rücken zu spüren, die Beine, an die ich mich heftete, waren nicht die Beine meiner Mutter. Großvater und Mutter drehten sich nicht um. Wenn mich jemand erkannte und riefe ‘Haltet die Juden’, so würden sie ohne sich umzudrehen verschwinden.” Ist es so, ist das ein Roman über uns, Polen und Juden, in der Zeit des Krieges, in der Zeit der Shoah?

Die therapeutische Bedeutung des befreienden Wortes für den, der geschwiegen hat, gerät zum Trauma, zur Strafe für den Bruch des Tabus, denn zur Salzsäule erstarrt nicht, wer hinter sich schaut, sondern wer Bilder gesehen hat, für die es keine Vorstellung und keine Worte gibt. So ein Bild ist die Flucht aus dem sicheren Versteck. Eine Flucht, den Blick auf den Boden geheftet, den Kopf gesenkt, das Gesicht in der Dunkelheit verhüllt.

Verhüllt das Gesicht, das verräterische, das wie ein Urteil war, wie ein Fluch, wie der schlimmste Feind. Das Gesicht, das seine todbringende Bedeutung erlangte, wenn es auf einen Blick traf, der es abschätzte, taxierte und das Urteil sprach.

Alle diese Bilder durchwatend taucht unter größten Anstrengungen eine Frage in mir auf. Sie müsste das eigentliche Gegenstück zu dem Levinas’schen “Du wirst mich nicht töten” sein. Doch diese Szenen von Flucht und “Begegnung”, dieser Schrecken und diese Umzingelung und Machtergreifung eines taxierenden Blickes markieren den Taburaum, der sich zwischen uns ausbreitet. In den Raum unserer Begegnung hat sich der Tod eingetragen. Die todbringende Maschine der Nazi-Herrschaft war in gewisser Weise unpersönlich. Präzise, grausam, kollektiv. Der Verrat, die Auslieferung zum Tode, war ein Akt individueller Begegnung. Von Angesicht zu Angesicht. Auge in Auge. Unde malum? Woher das Böse?

Mit zugeschnürter Kehle habe ich gesprochen. Viele meiner Gedanken habe ich nicht ausgesprochen. Noch nie habe ich es geschafft, nach Auschwitz zu fahren. Dabei sollte ich das tun. Wenn nur einer meiner Sätze das Schweigen gebrochen und nichts Böses getan hat, so widme ich ihn Janina Haubenstock.

Magda Cechnicka ist Polonistin und lebt in Krakau. Der hier abgedruckte Vortrag wurde auf dem 1. Israelisch-Polnisch-Deutschen Seminar “Mythos und Tabu” in Krakau am 26.09.1999 gehalten. In dem Vortrag wurden folgende Buchtitel zitiert: Jerzy Andrzejewski, Wielki tydzieñ (Warschauer Karwoche); Warszawa 1946; Miriam Akavia, Cena (Der Preis), Wroc³aw 1992; Micha³ G³owiñski, Czarne sezony (Schwarze Jahreszeiten), Warszawa 1999; Eva Hoffman, Sztetl (Das Schtetl), Zeszyty Literackie nr 66; Wilhelm Dichter, Koñ Pana Boga (Das Pferd des Lieben Gottes), Kraków, 1996.

Übersetzung: Friedrich Leidinger. Wir danken der Autorin für die freundliche Erlaubnis zum Abdruck.