Die Bieszczady - Polens letzte Wildnis ?

Von Dagmar Haase

Naturräumlich gliedert sich Polen in drei Landschaftszonen, welche sehr unterschiedliche Anteile an der Gesamtfläche des Landes (312.700 km2) haben: das dominierende nordmitteleuropäische Tiefland, die schmale zentraleuropäische Mittelgebirgszone und ein flächenmäßig sehr kleiner Teil Hochgebirge.

Die kleine Mittelgebirgszone im Süden des Landes teilen sich die Sudeten im Westen an der Grenze zur Tschechischen Republik und die Beskiden im Osten Polens, welche geologisch zum Karpatenbogen gehören. Die Sudeten erreichen mit der Schneekoppe (poln. œnieska, 1602m über dem Meeresspiegel) im Touristengebiet des Riesengebirges (Karkonosze) ihre höchte Erhebung. Ganz im Südosten des Landes dagegen erstrecken sich die Bieszczady - ein rauhes, relativ dünn besiedeltes Gebiet an der Grenze zur Slowakischen Republik und zur Ukraine. Polens letzte Wildnis ?

Die Bieszczady-Höhenzüge gehören landschaftlich zu den Ostbeskiden und sind als eine waldreiche Mittelgebirgsregion Polens bekannt, in welcher bis heute Wölfe und Bären heimisch sind. Sie erreichen Höhen von 1.400 Meter über dem Meeresspiegel und sind bis unterhalb des Gebirgskammes mit natürlichen Tannen-Buchen-Wäldern bewachsen, welche allerdings bis heute stark dezimiert wurden. Größere Teile der Bieszczady sind heute Nationalpark - Tiere, Pflanzen und die Berge stehen unter strengem Naturschutz.

Besonders reizvoll sind die kammartigen, langgestreckten und waldlosen Poloniny-Rücken, welche sich von der kleinen Ortschaft Dolzyca bis zum Dreiländereck Polen-Slowakei-Ukraine ziehen. Hier liegt auch die höchste Erhebung der Bieszczady - die Tarnica, mit stolzen 1346 Metern über dem Meeresspiegel. Vom Gipfel der Tarnica kann man direkt in die beiden Nachbarstaaten blicken.

Das Klima der Bieszczady ist rauh und als warmgemäßigtes Mittelbreitenklima, so beschrieben im Diercke Weltatlas (1996), kaum zu erkennen. Der gesamte Südosten Polens ist klimatisch recht kontinental geprägt. Kalte Winter wechseln hier gewöhnlich mit relativ warmen, z.T. trockenen Sommern. In den Bieszczady kann die winterliche Schneedecke bis über 200 Tage im Jahr liegen bleiben - nahezu ideal für den Wintersporttourismus. Allerdings – fast das ganze Jahr über wehen heftige Winde auf den Bieszczady-Kammwegen.

Auch wasserwirtschaftlich haben die Bieszczady eine außerordentliche Bedeutung für Polen - der San, mit insgesamt 14.400 km2 einer der größten und wichtigsten Flüsse des Landes nach der Weichsel, der Oder, der Warte und dem Bug, entwässert das niederschlagsreiche Mittelgebirge und ist die Grundlage für einen der größten Stauseen Polens - den Solinastausee. Dieser ist im Sommer darüber hinaus ein beliebtes Ausflugsziel für den regionalen und gesamtpolnischen Bade- und Freizeittourismus.

Hinsichtlich seiner Fauna zählen die Bieszczady zu den wohl reizvollsten Gebieten in ganz Polen: viele wildlebende Tierarten wie Wolf, Luchs, Braunbär oder Waldamsel wurden durch die Dezimierung der Wälder und die landwirtschaftliche Raumnutzung in die Refugienräume der bewaldeten Berge verdrängt. Vielleicht aufgrund dieses Reichtums an Wildtieren hat man den Bieszczady den Titel einer „Wildnis“ verliehen, an vielen Orten und Plätzen in diesem Gebirge kann man durchaus verstehen, warum, auch ohne einen Wolf und Bär gesehen zu haben.

Die Bieszczady gehören historisch zu der Region Polens, welche während der polnischen Teilungen zum österreichischem Herrschaftsbereich zählten und Teil des Königreiches Galizien-Lodomerien waren. Es handelt sich um ein Gebiet, welches sich heute jenseits beider Grenzen erstreckt: von der polnischen nach Westen und von der ukrainischen nach Osten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der politischen „Neuordnung“ Ostmitteleuropas durch die Siegermächte wurden in den Bieszczady jahrhundertealte Traditionen, regionale Strukturen und familiäre Beziehungen getrennt. Die in den Waldkarpaten und den Bieszczady siedelnden Ukrainer und Lemken wurden nach dem Weltkrieg in der „Akcja Wisla“, der „Aktion Weichsel“ von den neuen polnischen Machthabern zu großen Teilen umgesiedelt und vertrieben, Dörfer und Ackerland verfielen und verödeten. Das kann man bis heute sehen, wenn man vom Norden aus der Richtung Przemysl in die Bieszczady fährt.

Alte, verfallene Holzkirchen stehen abseits der Straße, zu erahnende kleine, handtuchgroße Felder säumen die steiler werdenden Talhänge. Sie werden nicht mehr bearbeitet und verbuschen. Terrassen kann man noch erkennen. Besonders schön ist der Blick auf diese alte Kulturlandschaft von den Bergkämmen der Poloniny. In der Morgensonne sind die alten Flureinteilungen und die Felder zu sehen, heute Wiesen, auf denen heute zumeist Rinderherden weiden.

In den dunklen Nadel-Mischwäldern der östlichsten Bieszczady in den kleinen Ortschaften Michniowiec oder Lipie kann man noch das alte Handwerk des Holzkohlebrennens in großen Meilern erleben. Sie stehen direkt an der neu gebauten Straße und einige Waldarbeiter verrichten hier, ohne weiter auf die neugierigen Touristenblicke zu achten, ihre Arbeit. Diese Straße ist ohnehin eine Sackgasse - in Lipie stehen noch einige Herbergen und ein größeres Hotel - danach ist die Welt zu Ende. Die nächsten Menschen leben in Hrozova und Lopusanka jenseits der polnisch-ukrainischen Grenze.

Die Bieszczady sind heute Grenzregion zwischen der Ukraine, der Slowakei und der Republik Polen. Wirtschaftlich sind sie eine der „rückständigsten“ und ärmsten Regionen Polens, der Großteil der Bevölkerung lebt auf dem Dorf. Doch Ortschaften wie das schicke Ustrzyki Dolne oder das kleinere Ustrzyki Górne längst keine Bauerndörfer mehr: hier hat der Tourismus Einzug gehalten, neben einigen größeren Hotelbauten gibt es zahlreiche Pensionen und Herbergen, welche mit viel bunter Werbung an der Straße auf sich aufmerksam machen. Viele Wanderwege und Bergtouren sind in den Bieszczady ausgeschildert, und an so manchem Kiosk werden Informationshefte über den Nationalpark verteilt. Die Parkplätze sind nicht kostenlos hier – sie sind eine der wenigen Einnahmequellen für den Naturschutz in Südostpolen. Auch Pferdetouren durch das Gebirge werden von der Nationalparkverwaltung angeboten.

Die Mehrzahl der Bergurlauber sind Polen, auch wenn sich hin und wieder bereits ein paar „Westeuropäer“ (z.B. Österreicher, Belgier) in den Südostzipfel Polens wagen.

Nicht nur in den Touristenorten Ustrzyki Dolne und Ustrzyki Górne spürt man eine Art „Aufbruchstimmung“. Bei der Fahrt von Sanok oder Przemysl in Richtung des Gebirges kann man überall in den kleinen Dörfern an der Straße den Wiederaufbau oder gänzlichen Neubau von insbesondere griechisch-katholischen Kirchen beobachten. Meist hilft das ganze Dorf bei den Bauarbeiten und selbst am Wochenende ruht man nicht. Bis zur politischen Wende in Polen 1990 wurde gerade die griechisch-katholoische Religion de facto „verboten“, zumindest von staatlicher Seite unterdrückt, und erfährt heute v.a. in Südostpolen eine Art „Wiederbelebung“.

In fast jedem Dorf, ob in Lesko, Stefkowa, Wetlina oder anderen sind Schilder mit „Agroturystika“ zu sehen - der „Urlaub auf dem Bauernhof“ po polsku. Auch diese Werbung für eine Form des ökologisch angehauchten Tourismus zeigt, dass die Zeit in Polens letzter Wildnis - den Bieszczady - nicht stehen geblieben ist.

(Die Autorin, Dr. Dagmar Haase, arbeitet am Umweltforschungszentrum Leipzig- Halle)