POLEN und wir, 3/2000

S. 3-6

 

Zentrum der Zwietracht

 

Wojciech Pięciak

 

Wenn der in Berlin entstehende "Erinnerungsort gegen die Vertreibungen" ein Spiegelbild der historischen Sicht wird, die die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach repräsentiert, kann das die polnisch-deutsche historische Diskussion um viele Jahre zurückwerfen und die sowieso nicht besten Beziehungen zwischen Deutschen auf der einen Tschechen und Polen auf der anderen Seite verschlechtern.

An seine ersten Kontakte mit den deutschen Vertriebenenverbänden in den 70er Jahren erinnernd, sagte Mieczysław Pszon, gestorben 1995 und viele Jahre der Experte für Deutschlandfragen von TP, dass unter den Landsmannschaften (...) relativ am Leichtesten mit den Vertretern der Landsmannschaft Warthegau Gespräche zu führen seien.

In diese Zeiten, als der Bund der Vertriebenen nicht zu Unrecht als Organisation, die die Änderung der Grenzen anstrebt, betrachtet wurde, fiel es den Menschen der Landsmannschaft Warthegau am leichtesten, die Nachkriegsänderungen zu akzeptieren. Menschen, die nach dem Anschluss von Großpolen 1939 an das Dritte Reich in Häuser angesiedelt wurden, aus denen wenige Stunden vorher die polnische Bevölkerung hinausgeschmissen wurde, verstanden am Besten, dass nicht die Polen den Krieg und die planmäßige Aussiedlung begonnen haben, sondern der deutsche Besetzer.

Seit dieser Zeit vergingen einige Jahrzehnte. Heute interessiert die Vertriebenenproblematik wohl mehr junge polnische Historiker als deutsche. Die Aussiedlerkreise, heute ältere Leute, arbeiten mit polnischen Gemeinden zusammen, obwohl offensichtlich Unterschiede in der Bewertung vieler Ereignisse bleiben.

Schwierig ist es aber weiterhin, mit der Spitze des Bundes der Vertriebenen (BdV) [im Polnischen polnisch und deutsch] zu sprechen, hauptsächlich mit dessen Vorsitzender, Erika Steinbach. Das ist ein bisschen paradox, denn Steinbach repräsentiert die jüngere Generation (Jg. 1943). Und außerdem muss gerade sie, genau wie jene Deutsche, wie sie Pszon beschrieben hat, die Verbindung von Ursache und Wirkung verstehen. Schließlich, wie die Tageszeitung "Rzeczpospolita" (v. 9. Juni 2000) feststellte, wurde die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen im besetzten Polen geboren: in dem dem Reich angeschlossenen, am Meer gelegenen Städtchen Rumia, dessen polnische Bevölkerung 1939 ausgesiedelt oder ins Arbeitslager und KZ Stutthof eingeliefert wurde. Der Vater von Frau Steinbach war in Rumia als Wehrmachtssoldat stationiert.

Heute interessieren sich nur wenige für den Bund der Vertriebenen. Dafür widmen die Medien in Polen Frau Steinbach ungefähr genau so viel Aufmerksamkeit wie der Außenpolitik Deutschlands. Es reicht, dass sie wieder eine Forderung stellt und sie mit den Verhandlungen über den EU-Eintritt verknüpft. Es verwundert demgegenüber, dass polnische Journalisten, Politiker und das Außenministerium das bisher größte Projekt von Erika Steinbach nicht zur Kenntnis nahmen, das, obwohl es erst ein Jahr alt ist, konkrete Gestalt angenommen hat und auf lange Sicht hin viel wesentlicher ist als ein nächster dummer Presseartikel.

Gemeint ist hier der "Erinnerungsort gegen die Vertreibungen", der öfters auch nur "Zentrum gegen die Vertreibungen" genannt wird und in Berlin entstehen soll.

Zuerst eine allgemeine Bemerkung über die Form des deutschen Gedenkens an die Kriegsopfer.

1997 publizierten zwei amerikanische Politologen jüdischer Herkunft, Andrei Markovits und Simon Reich, das Buch "Deutsches Dilemma", das in der BRD auf ein ziemlich großes Interesse stieß. Sie stellen darin fest, dass das historische Gedächtnis der Deutschen (vor allem über den Holocaust), das in bedeutendem Maße die politische Kultur in der BRD vor 1989 geprägt hat, im vereinigten Deutschland schrittweise zurückgehen wird. Die Autoren schreiben: "Schuld, Scham und Verantwortungsgefühl, also unmittelbare emotionale Reaktion werden schrittweise rein intellektuellen Formen der Abrechnung mit der Vergangenheit Platz machen". Die Deutschen würden aufhören, sich nur als Henker zu betrachten, und sich in immer größerem Ausmaße auch als Opfer betrachten, während eine solche Sichtweise „angesichts der Abscheulichkeiten des Holocausts in politischen Auseinandersetzungen lange völlig inakzeptabel war“. Die Deutschen als Kriegsopfer würden zu einem gleichberechtigten Element des kollektiven Gedächtnisses.

Heute sieht man, dass die Amerikaner Unrecht hatten. Zum einen waren die Deutschen als Opfer immer ein Element des kollektiven Gedächtnisses in der BRD (und in der DDR). Es reicht, ein wenig in den Erinnerungen Kohls zu lesen oder Dresden am Jahrestag der Bombenangriffe von 1945 zu besuchen. Zum anderen änderte sich in den neunziger Jahren – natürlich – die Debatte, aber der Effekt dieser Veränderungen ist ein anderer, als ihn die Amerikaner vorausgesagt haben. Der „Mythos Holocaust“ bleibt stark, aber er stört nicht bei der politischen „Normalisierung“ Deutschlands; Beweis dafür ist der Kosovokrieg, bei dem deutsche Politiker die Erinnerung an Auschwitz für die Legitimierung von Handlungen gegen Jugoslawien instrumentalisierten.

Wahr hingegen ist, dass das Gedenken an die deutschen Opfer – die Opfer von alliierten Bombenangriffen, Vertreibungen oder NKWD-Lagern in der DDR – heute zu einem Element des kollektiven Bewusstseins wird, das der Erinnerung an die deutschen Verbrechen zwar vielleicht nicht gleichkommt, aber zulässig ist (oder, wie man sagt, „politisch korrekt“).

Auch deshalb war die Veröffentlichung des „Schwarzbuch des Kommunismus“ in Deutschland kein Wendepunkt, weil der Prozess der Wahrnehmung kommunistischer Verbrechen in der BRD einige Jahre früher begonnen hatte. Damals begann ein linkes Tabu schwächer zu werden und die mit diesem Tabu einhergehende spezifische Arbeitsteilung an Bedeutung zu verlieren – eine Arbeitsteilung, die am stärksten in den 70er und 80er Jahren zu sehen war: dass es Sache der „Rechten“ war, über die Verbrechen des roten Regimes zu sprechen, Sache der „Linken“ hingegen waren die Verbrechen des braunen Regimes. Die Deutschen konnten von sich behaupten, im 20. Jahrhundert Opfer zweier Diktaturen gewesen zu sein – unter Berücksichtigung der Proportionen.

Folge der Vereinigung war der Zusammenbruch der DDR – die Liquidierung eines Staates einschließlich seines Apparates, seiner Historiographie und seiner Quasi-Identität – ein mit nichts vergleichbarer Vorgang, vor allem nicht vergleichbar mit den Bedingungen, unter denen in den anderen Ländern des „Ostblocks“ mit der Vergangenheit abgerechnet wurde. Die Öffnung der Archive, die Aufdeckung und Verfolgung der vom ostdeutschen Regime und den Sowjets in Ostdeutschland verübten Verbrechen – all dies begann schon 1990 den Weg zu einer einigermaßen normalen Diskussion über die Verbrechen des Kommunismus zu bahnen.

Dann kamen andere Ereignisse und Diskussionen. Zwar keine so lautstarken wie z.B. der große Streit über das Buch Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“, aber bezeichnende. 1995 gedachte man der Vertreibung sowie der Zerstörung Dresdens, die zum Symbol für die Barbarei alliierter Luftangriffe wurde; im sogenannten Bombenkrieg kamen 600000 deutsche Zivilisten um. 1998 wiederum zog sich durch die Medien eine Debatte über das Vorkommen (oder eher Nichtvorkommen) des Luftkrieges in der Nachkriegsliteratur.

Und dann brach der Konflikt im Kosovo aus. Dieser Krieg und die mit ihm einhergehende verbrecherische Politik Milosevi´c gegenüber der albanischen Bevölkerung spielten eine große Rolle bei der Veränderung der Einstellung, die die deutsche Linke Aussiedlerkreisen gegenüber hatte. Die sozialdemokratische Linke, die über Jahrzehnte hinweg die Aussiedler ignoriert und dadurch den christdemokratischen Parteien die Übernahme der Kontrolle über den BdV ermöglicht hatte, begriff erst jetzt die unbestreitbare Tragödie dieser Menschen.

Innenminister Otto Schily (vor 30 Jahren ein radikaler Linker, heute Befürworter eines starken Staates), gab im Mai 1999 in Berlin auf dem jährlich stattfindenden „Vertriebenentag“ zu, dass es die Linke „leider“ vorgezogen habe, über „das Verbrechen der Vertreibung“ hinwegzusehen, und dies „aus fehlendem Interesse, aus Angst, sich des Revanchismus verdächtig zu machen oder durch eine falsche (sic!) Sicht der Außenpolitik.“

Bei der Gelegenheit unterstützte Schily das Projekt, in Berlin ein „Mahnmal gegen Vertreibungen“ zu errichten. Dieses Projekt war einige Wochen vorher vom Vorstand des Bundes der Vertriebenen beschlossen worden. Es ist ein wirklich ehrgeiziges Vorhaben und umfasst eine Gedenkstätte, ein ständiges Museum, das der Heimat von vor 1939 sowie den Ereignissen nach 1945 gewidmet sein soll, wie auch ein eigenes historisches Institut. Nicht nur dem Ausmaß, sondern auch der Bedeutung nach soll das Projekt der Holocaust-Gedenkstätte in Berlin nicht nachstehen, die seit Januar vergangenen Jahres im Bau ist und sich ebenfalls aus mehreren Elementen zusammensetzen soll, die übrigens identisch mit denen des erheblich späteren Projekts für das Zentrum sind.

Auf diese Übereinstimmung hin befragt, bestreitet Erika Steinbach, dass das Mahnmal gegen Vertreibungen als Gegengewicht zum Holocaust-Mahnmal gedacht war. Aber sie bestreitet dies auf eine für sie spezifische Art. Denn Steinbachs Strategie beruht darauf, dass sie das sagt, was ihr Zuhörer gerne hören würde. Im Herbst 1999 versicherte sie in Warschau, dass in dem Zentrum auch die Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen und Sowjets gezeigt würden. In Deutschland allerdings drückte sie sich anders aus – dort sprach sie von der Dokumentation der Leiden der Armenier oder Albaner.

Wenn also heute die Vorsitzende des BdV gezogene Parallelen zwischen den beiden Gedenkstätten in Frage stellt, so sollte man sich den Standpunkt des BdV-Vorstandes ins Gedächtnis zurückrufen, nach dem die Vertreibung ein „historisches Ausnahmeereignis“ gewesen sei, wodurch sie aus dem historischen Kontext herausgerissen sei. Darüber hinaus sagt ein Interview Steinbachs mit der „Leipziger Volkszeitung“ vom Mai 1999 vieles aus. In dem Interview fordert Steinbach, das Zentrum müsse sich in deutlicher „historischer und räumlicher Nähe“ zum Holocaust-Mahnmal befinden – neben dem Brandenburger Tor. Ihre Forderung begründet sie damit, dass die Juden „in der ersten Phase [der Verfolgungen] ebenso Opfer von Vertreibungen waren“ und „sich die Themen ´Juden´ und Vertreibungen im Grunde genommen ergänzen. Der unmenschliche Rassenwahn im einen wie im zweiten Fall soll auch Thema unseres Zentrums sein“.

Die logische Konsequenz eines solchen Denkens sollte es sein, die Aussiedlungen nach dem Kriege als Holocaust an der deutschen Nation zu bezeichnen. Das tut Steinbach jedoch nicht. Solche Formulierungen kann man ausschließlich in Schriften der schon extremen Rechten lesen. Aber führt Steinbachs Gedankengang nicht zu eben einem solchen Schluss?

Bislang ist das Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ eine private Idee: Die Idee einer Nicht-Regierungsorganisation. Allerdings ist der Bund der Vertriebenen selbst mit Unterstützung von Sponsoren nicht in der Lage, das Zentrum selbständig zu errichten; er ist auf den Staat angewiesen. Schon heute sind grob geschätzt über 90 Prozent seines Haushalts staatliche Zuwendungen. Der BdV ist sich dessen bewusst und macht keinen Hehl daraus, dass er selbst für das Zentrum kaum drei Millionen Mark aufbringen könnte, 160 Millionen müssten die Bundesländer geben (in fünf Jahresraten zu 32 Millionen), die Bundesregierung hingegen müsste ein Gebäude in der Hauptstadt opfern. Daraus folgt: Für das Zentrum braucht man öffentliche Gelder, folglich auch die Akzeptanz der Bundesregierung und der Landesregierungen.

Das jedoch ändert den Charakter des Projekts radikal. Wenn nämlich die Regierungen das Zentrum materiell unterstützen, ist dieses nicht mehr eine Initiative „von unten“, sondern Teil der offiziellen Politik der BRD. Die Mächtigen in Deutschland sind sich dieser Implikationen jedoch wohl nicht bewusst. Sie sagen mehr oder weniger (zuletzt, so mag es scheinen, weniger) verbindlich materielle Unterstützung zu, ohne den Willen zu zeigen, an der konzeptionellen Gestaltung des Zentrums mitzuwirken.

Wenn allerdings das Zentrum de facto zu einem staatlichen Projekt wird, sollte das Gremium, das über die Gestaltung entscheidet, nicht nur von BdV-Leuten oder von Autoritäten, die Steinbach dazu eingeladen hat, besetzt werden (man spricht von Leuten wie dem SPD-Politiker Peter Glotz, der früheren ostdeutschen Dissidentin Freya Klier oder dem Vorsitzenden der Kunstakademie, Györgi Konrad), sondern auch von Vertretern der Bundesregierung und der Landesregierungen (Politiker, Beamte oder Historiker). Auch wäre es eine gute Geste – und sogar mehr als eine Geste -, wenn auf Vorschlag der deutschen Regierung in dieses Gremium Vertreter z.B. Polens oder Tschechiens einbezogen würden. Hier lohnt es sich, sich an die Lektion zu erinnern, die man vor einigen Jahren lernen musste: Der Streit um die Gestaltung des Holocaust-Mahnmals dauerte auch deshalb elf Jahre, weil am Anfang nicht festgelegt worden war, wer formal darüber zu entscheiden hat; am Ende musste der Bundestag darüber abstimmen. Wie sind die Mächtigen und politischen Parteien in Deutschland dem Projekt gegenüber eingestellt? Schon im August 1999 hat Erika Steinbach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gesagt, dass die Idee eines solchen Zentrums „große Akzeptanz bei der Bundesregierung und den Landesregierungen“ gewonnen habe, und Minister Schily bereit sei, dem BdV ein im Staatsbesitz befindliches Gebäude in Berlin zur Verfügung zu stellen; auch Finanzminister Hans Eichel stehe dem wohlwollend gegenüber. Auf der Internetseite des BdV kann man Informationen finden, dass in Gesprächen mit Steinbach die Ministerpräsidenten aus 13 der 16 Bundesländer ihre Unterstützung des Projektes angekündigt hätten.

Ist das wirklich so? Die deutschen Politiker stehen mit dem Rücken zur Wand und vermeiden eine Antwort. Die Beteuerungen Steinbachs könnten ein Element ihrer Lobbypolitik sein, die darauf beruht, den Eindruck zu erwecken, es gebe in der Sache keine Kontroversen und alle seien „dafür“. Unter den Parteien im Bundestag gibt es zwei klare Standpunkte zur Idee eines solchen Zentrums: Die Christdemokraten von CDU und CSU unterstützen das Projekt, dagegen sind die Grünen, die der Meinung sind, „der BdV sei nicht in der Lage, die Vergangenheit zu überwinden“. SPD und FDP haben sich nicht geäußert. Unklar ist auch der Standpunkt des Kanzleramtes.

Das Projekt selbst muss nicht von vornherein etwas Schlechtes sein. Würde es nach dem Grundsatz der Verständigung realisiert – nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch mit den Nachbarn, darunter mit Polen – so könnte es als Ort des Gedenkens die Völker über historische Gräben hinweg einander annähern statt zu teilen.

Wenn jedoch die Gestaltung der „Gedenkstätte gegen Vertreibungen“ ein Spiegelbild des Geschichtsbildes wird, das Erika Steinbach präsentiert – und bislang deutet alles darauf hin, dass es so kommen wird – kann das die die deutsch-polnische historische Diskussion um viele Jahre zurückwerfen und die ohnehin nicht zum Besten stehenden Beziehungen Deutschlands mit Polen und Tschechien verschlechtern. Aussagen Steinbachs deuten darauf hin, dass die Konzeption des Zentrums (besonders aber des Museums) sich auf eine solche Interpretation der Vergangenheit stützen wird, die es in öffentlichen Diskussionen gebietet, über Polen oder Tschechien als „Vertreiberstaaten“ zu sprechen (das  ist so, als ob irgendein polnischer Politiker – und Frau Steinbach gehört dem CDU-Vorstand an – beginnen würde, statt von „Deutschland“ vom „Land der Verbrecher“ zu sprechen). Das ist eine Frage der Sprache, aber eine, die bezeichnend ist.

In der deutschen Presse taucht die Idee des Zentrums im Grunde genommen nur in zwei konservativen Tageszeitungen auf – in der „Welt“ sowie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die beide die Lobbypolitik Steinbachs unterstützen. Andere interessieren sich dafür nicht. Eine der wenigen kritischen Stimmen war ein Text in der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“, einer Lokalzeitung aus der früheren DDR. Die Autorin, Gabriele Lesser, schreibt: „Interessant wäre es, genauer zu wissen, wie Erika Steinbach in dem Museum das Städtchen Rumia zeigen wird, in dem sie geboren wurde: Denn wer war es, der nach Steinbachs Ansicht von dort vertrieben wurde? Die Polen, die in Arbeitslager oder ins KZ Stutthoff geschickt wurden, oder die deutschen Besatzer, die [1945] aus Rumia ins Reich, d.h. nach Hause, zurückkehren mussten?“

In Deutschland befassen sich nur wenige mit Frau Steinbach, und es ist möglich, dass ihre Initiative natürlichem Zerfall erliegen wird, weil sie kaum jemanden interessiert – die Regierung sie hingegen um des lieben Friedens willen unterstützen wird. Denn das rotgrüne Kabinett steckt mit den Vertriebenenorganisationen in einem doppelten Dilemma. Erstens ein moralisches – das ist der Fall des Ministers Schily. Zweitens  würde die Regierung Schröder – vor allem in der Person Michael Naumanns, des Kulturbeauftragten im Kanzleramt – gern eine Reform der staatlichen Kulturbezuschussung durchführen, darunter der Bezuschussung des Bundes der Vertriebenen (jährlich ca. 40 Millionen Mark).

Das radikale Projekt Naumanns, das die Streichung der Zuwendungen an den BdV und die Verlagerung der Mittel an eine neue Stiftung vorsieht, die nicht mit den Landsmannschaften in Verbindung stehen und verschiedene Projekte „im Osten“ unterstützen soll (z.B. die deutsche Minderheit), stieß naturgemäß auf Kritik der Aussiedlerorganisationen sowie der CDU/CSU-Opposition. Aber nicht nur deshalb wurde es zunächst auf Eis gelegt. Die Grundsätze, nach denen der BdV aus dem Staatshaushalt bezuschusst wird, sind so konstruiert, dass die Regierung, wenn sie die Zahlungen einstellt, für die sogenannten sozialen Folgen einer solchen Entscheidung verantwortlich ist (das bedeutet z.B. Abfindungen, vorzeitige Pensionierungen und soziale Absicherung für die festangestellten Mitarbeiter des BdV). Die Finanzierung des Zentrums kann somit als ein „Abschiedsgeschenk“ für die Aussiedlerorganisationen aus Mitteln des Staatshaushalts gedacht sein. Eine solche Lösung könnte beiden Seiten attraktiv erscheinen. Diese Interpretation scheint auch die Aussage Erika Steinbachs zu bestätigen, dass die Regierungen die Summe von 160 Millionen Mark für die Schaffung des Zentrums in Raten bis 2005 aufbringen würden (dann soll das Projekt fertiggestellt sein); dies entspricht dem jährlichen Gegenwert der Zuwendungen an den BdV. Beweise für die Existenz einer Abmachung zwischen der Regierung und dem BdV gibt es jedoch nicht.

In jedem Fall ist es ein Paradox – wenn auch mit seiner eigenen Logik -, dass noch vor einigen Jahren, unter der Regierung Kohl, das Projekt Steinbachs keine Chance gehabt hätte – es heute hingegen, unter einer Regierung der Linken, umgesetzt werden kann.

Das Projekt einer „Gedenkstätte gegen Vertreibungen“ ist wichtig für die polnische Staatsraison. Wenn es realisiert wird, werden in einigen Jahren zwei Orte symbolisch das deutsche Gedächtnis bestimmen: Das Holocaust-Mahnmal sowie das Zentrum. Sie werden das historische Vorstellungsvermögen kommender Generationen gestalten und das Zentrum Berlins dominieren, das nicht nur zum Zentrum der Regierungsgewalt, sondern auch zur „Landschaft des Gedenkens“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“) wird.

Polen ist in dieser Landschaft nicht vorhanden. Ob das gut ist? Wenn sich die Hauptstadt Deutschlands nicht nur im geographischen Sinne in der Nähe zu Polen befinden soll, sollte es in ihr nicht an z.B. einem Museum oder einer Ausstellung fehlen, die verschiedene Etappen der deutsch-polnischen Beziehungen präsentiert – nicht nur die von vor einem halben Jahrhundert. Schade, dass bis jetzt in Polen niemand eine solche Initiative übernommen hat.

 

Aus: Tygodnik Powszechny, Nr. 32 vom 6. August 2000, S. 5; Übersetzung: Mark Brüggemann und Wulf Schade


S. 5 Kasten:

Aus den Richtlinien von Arthur Greiser vom 23. Februar 1943 zur Duldung der polnischen Sprache im Reichsgau Wartheland [dtv-Lexikon: Wartheland, in den besetzten polnischen Gebieten 1939 errichtete Reichsgau]

 

1. ‑. . . Es gibt zwischen dem Deutschen und dem Polen keine Gemeinschaft. Ein Eindeutschen von Polen ist, abgesehen von zahlenmäßig geringen Ausnahmen, nicht nur unerwünscht, sondern nationalsozialistisch falsch. Der polnische Mensch kann und darf nicht germanisiert werden.

2. Zur Sprachenfrage ist damit klargestellt, daß es falsch wäre, dem Polen zu verbieten, polnisch zu sprechen. Der Führer stellt daher eindeutig fest: "Ein fremdrassiges Volk in deutscher Sprache seine fremden Gedanken ausdrückend, würde die Höhe und Würde unseres eigenen Volkstums durch seine eigene Minderwertigkeit kompromittieren" . . .

3. Die Notwendigkeit, den Polen weitgehend in den Arbeitsprozeß einzuschalten und die Unmöglichkeit, von jedem deutschen Beamten, Arbeiter und Angestellten zu verlangen, daß er polnisch lernt, sowie die Durchsetzung des deutschen Hoheitsanspruchs nach außen zwingen zu den folgenden Grundsätzen:

a) Vor deutschen Behörden und in Dienststellen von Partei und Staat darf nur deutsch gesprochen werden. Der Pole, der sich in deutscher Sprache nicht verständlich machen kann, hat sich einen Dolmetscher mitzubringen.

b) In den polnischen Schulen wird Deutsch nur soweit gelehrt, als es notwendig ist, daß der polnische Arbeiternachwuchs, den wir zur Erfüllung der Kriegs‑ und der Aufbauaufgabe brauchen, sich in deutscher Sprache verständlich machen kann; d.h. die deutsche Sprache wird vokabelmäßig gelernt, darf aber grammatikalisch nicht richtig gesprochen werden.

c) Schilder in doppelter Sprache sind möglichst überall dort anzubringen, wo von deutscher Seite aus Wert darauf gelegt wird, daß der Pole unbedingt eine Bekanntmachung usw. versteht. Um eine klare Linie herbeizuführen, sind derartige Absichten mit meinem Gauamt für Volkstumsfragen vorher abzustimmen.

d) Im Verkehr untereinander, auf der Straße usw. kann der Pole polnisch sprechen so viel er will. Wir haben in keiner Weise Interesse daran, ihn zum Deutschsprechen zu zwingen ...