POLEN und wir, 3/2000

S. 7-9

 

In der letzten Ausgabe von POLEN und wir druckten wir die “Charta der Heimatvertriebenen” samt eines Kommentars ab. Dieser Kommentar wie auch die Beiträge zum Görlitzer Vertrag wurden teilweise sehr kontrovers aufgenommen. Wir laden zur weiteren Diskussion auch zu anderen Themen in unserer Zeitschrift ein. Die Hervorhebungen stammen von der Redaktion.

 

Leserbriefe zur
“Charta der Heimatvertriebenen”
und zum “Görlitzer Vertrag”

 

9. Juli 2000

Sehr geehrter Herr Schade,

als  Abonnent der von Ihnen zur Zeit redaktionell betreuten Zeitschrift „P0LEN und wir“ und als in Westdeutschland geborener langjähriger Freund polnisch-deutscher Verständigung (Jahrgang 1932 ohne geburtsmäßige Ostbeziehungen, seit 1985 Mitglied der Wissenschaftlichen  Gesellschaft in Plock von 1820) widerspreche ich entschieden Ihren Ausführungen, Kommentaren und Bewertungen in Heft Nr. 2, 2000, S. 2 und 5 (u.a.) über die Charta der Heimatvertriebenen und anderen Äußerungen des Heftes zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte.

1.         Die ostdeutschen Heimatvertriebenen  haben nicht mehr und weniger Schuld an dem Aufstieg und den Verbrechen des NS-Systems als andere Deutsche der Zeit, aber sie haben mehr als andere Deutsche durch den Verlust ihrer Heimat und die erschwerten Bedingungen der Integration in die deutschen Nachkriegsverhältnisse nach 1945 die Folgen des NS-Systems und des von ihm angezettelten Krieges tragen müssen.

2.         In diesem Zusammenhang ist die „CHARTA DER HEIMATVERTRIEBENEN“ vom 5. August 1950 in Stuttgart ein international bemerkenswertes Dokument für Gewaltverzicht. Sie führen selbst an, daß die Charta „von vielen Politikerinnen und Politikern nahezu aller Bundesparteien als ein positives Beispiel für die Haltung der Vertriebenenverbände“  angesehen wird. Dankenswerterweise drucken Sie den Text S. 5 im Wortlaut ab, der ihre Kommentierung und Vorhaltungen ad absurdum führt:

a)         In § 1 beziehen sich die Vertriebenen auf das „unendliche Leid, welches insbesondere das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.“ Das schließt die von Ihnen vermißten Konkreti-sierungen ein und zeigt, daß die Vertrie-benen nicht nur ihr eigenes Schicksal im Blick haben, sondern das aller Menschen.

b)         In § 2 und 3 erklären die Vertriebenen ihre Bereitschaft nicht nur „mit allen Kräften ... die Schaffung eines geeinten Europas“ zu unterstützen, „in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können,“ sondern auch den Neuaufbau Deutschlands, in dem sie vielfach als zwangsweise verbrachte Fremde von den einheimischen Deutschen betrachtet wurden. Daher auch ihre Forderung nach Gleichberechtigung einheimischer und vertriebener ostdeutscher Bürger „in der Wirklichkeit des Alltags“, nach einer „gerechten Lastenverteilung“ und nach einer sozialgerechten Integration in die  deutsche und europäische Nachkriegs-gesellschaft.

3.         Wenn in diesem Zusammenhang das Recht auf Heimat „als eines von Gott geschenkten Grundrechtes der Mensch-heit“ gefordert wird, so ist auch das nicht revanchistisch gedacht, sondern grundsätzlich  mit dem Schicksal „aller Flüchtlinge“ in der Welt verbunden. Das Flüchtlings-problem wird demgemäß als „ein Welt-problem“ gesehen, „dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflich-tung“ erfordert.

4.         Der Bruch des Grundrechtes auf Heimat durch die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten nach 1945 hat seine historische Wurzel in dem vom Völkerbund sanktionierten „Bevölke-rungsaustausch“ zwischen der neugegründeten Republik Türkei und Griechenland nach dem Ersten Weltkrieg und wurde als ein Modell zur Lösung von Minderheitenfragen verstanden, dem auch die Alliierten nach 1945 in Bezug auf die Veränderung von Staatsgrenzen in Ostmitteleuropa (Polen und Deutschland, Polen und die UdSSR u.a.) gefolgt sind. Das Mißlingen angestrebter  Minderheiten-lösungen im staatlich neugestalteten Raum Ostmitteleuropas nach 1918 und insbesondere  eine expansive NS-Rassen- und Kriegspolitik seit 1933/39 haben  eine solche Radikallösung damals als einzigen Weg für ein friedvolle Gestaltung staatlicher Verhältnisse in den betroffenen Gebieten  erscheinen lassen.

Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine solche Lösung wie die Vertreibung und Zwangsumsiedlung von Millionen von Menschen ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Heimat darstellt, das inzwischen in die Charta der Menschenrechte der UN und Europas eingegangen ist und bei der seit den 90er Jahren aktuellen Lösung der Jugoslawien-Frage wie in  zahlreichen anderen gegenwärtigen Konfliktherden der Welt ein grundlegender Faktor der europäischen und internationalen Politik ist.

5.         Die Berufung auf das Grundrecht des Menschen auf Heimat in der Charta der Heimatvertriebenen von 1950 und die Forderung seiner Anerkennung in der Politik  - auf der Grundlage der Erfahrung des eigenen Vertriebenenschicksals – ist nichts anderes als die allgemeine Anmahnung dieses Rechtes in der Politik. Daß gerade jene, die das  Schicksal der Vertreibung erlitten haben,  das Recht auf Heimat als allgemeine Rechtsnorm des Völkerrechts herauszustellen, gibt der Forderung besonderes Gewicht. Und daß sie dies mit einer zukunftsorientierten Versöhnlichkeit im Rahmen einer europäischen Einigung verbinden, zeigt, daß die Charta der Vertriebenen der politischen Entwicklung der vergangenen 50 Jahre weit voraus war.  Man kann von der Charta der Vertriebenen  von 1950 zu der am 28. April 2000 „am Grab des Heiligen Adalbert in Gnesen“ verabschiedeten Erklärung der Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Deutschlands eine direkte Linie ziehen. Denn hier sind im Hinblick auf eine europäische Einigung und die angestrebte Integration der ostmitteleuropäischen Staaten in die EU konkrete Faktoren des Heimatrechtes und entgegenstehender Haltungen angesprochen, die bei der europäischen Integration eine Rolle spielen und gelöst werden müssen.

6.         Wenn dabei auf die „Respektie-rung der Unterschiedlichkeit der Kulturen, der nationalen Traditionen und der regionalen Verschiedenheiten“ abgehoben wird, so sind jene Faktoren beschrieben, die auch aus der Sicht der Vertriebenen seit langem angemahnt werden. Sie finden seit der politischen Wende 1989/90 im Ostblock inzwischen auch in den ostmitteleuropäischen Staaten zunehmende Beachtung, die ihnen im sozialistischen Zwangssystem nicht möglich war, und sind vielfach Anknüpfungspunkte freier partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Städten und Gemeinden, Kreisen und Regionen (nicht zuletzt auch der inzwischen eingerichteten EURO-Regionen), die eine notwendige Basis der Völkerverständigung neben der staatlichen und europäischen Politik darstellen.

7.         Welchen Part die Vertriebenen in dieser seit 1989/90 veränderten politischen Situation haben, ist von vielen von ihnen bereits dadurch beantwortet worden, daß sie zu Vorreitern der zwischenmenschlichen Verständigung mit ihrer alten Heimat geworden sind. Auch kulturell hat das im Sinn der jüngsten Erklärung der Ministerpräsidenten vielfach zu konkreten Maßnahmen des Wissenschaftsaustauschs und der Traditionspflege geführt, die auch die Zeit der deutschen Staatlichkeit in den ehemaligen deutschen Gebieten angemessen berücksichtigt.

Nicht zuletzt wird man in den Erklärungen der Ministerpräsidenten in Gnesen vom 28.4.2000 einen weiteren Schritt zur Versöhnung sehen dürfen, die von den Vertriebenenverbänden seit ihrer Stuttgar-ter Charta von 1950 angeboten und seitdem  staatlicherseits von Polen und Tschechien eingefordert wird. Im Rahmen anstehender europäischer Einigung ist der Weg für weitere Verständigungen über noch unzulängliche Lösungen vorgezeichnet, die umso leichter fallen werden, je konkreter die europäische Verständigung fortschreitet.

8.         Daß  „POLEN und wir“  für die Traditions- und Kulturpflege der Vertriebe-nen und die Vertriebenenverbände allgemein nicht allzu großes Verständnis aufbringt, ist bekannt und geht auch aus verschiedenen Äußerungen des vorliegenden Heftes hervor. Es darf aber nicht übersehen werden, daß eine nach Millionen zählende Generation von Vertriebenen im Sinn des Heimatrechtes ein Anrecht auf eine  heimatliche Kultur- und Traditionspflege hat und diese auch national einen kulturellen Wert darstellt, der sich in vielen Formen (Museen, Archiven, Forschungseinrich-tungen, Zeitschriften und Zeitungen u.a.) darbietet. Viele dieser Einrichtungen sind in ihrer Existenz an die Lebensgrenze der Vertriebenengeneration gebunden. Der Staat steht hier in der Verpflichtung, mit den Vertriebenen nach Wegen zu suchen, Kulturtraditionen zu bewahren und weiterzuführen und  sie auch für die internationale Verständigung und Kulturpflege nutzbar zu machen.  Dies setzt sicher mehr Sensi-bilität voraus, als in der gegenwärtigen Kulturpolitik des Bundes erkennbar ist.

Wenn in diesem Zusammenhang seitens der Vertriebenenverbände ein „Zentrum gegen die Vertreibung“  gefordert wird, so zeigt das die Historisierung der Epoche der Vertreibung und der Vertriebenen der Deutschen an.  Einem solchen Zentrum kann man – auch im Zusammenhang mit anderen Denkmalen der Zeitgeschichte – kaum seine Berechtigung bestreiten. Die von Ihnen angeführte Kommentierung der Angelegenheit geht an dem Sachverhalt und einer rationalen Bewertung vorbei.

Ich gehe noch zuletzt auf die Berichte über „50 Jahre Görlitzer Abkommen“ ein. Daß dieses 1950 geschlossene Abkommen „grundlegenden Vorbildcharakter“  für die späteren Verträge zwischen der Bundes-republik Deutschland und Polen gehabt habe, ist zu bestreiten. 1950 handelte es sich um sozialistische, nicht demokratisch legitimierte Vertragspartner, die die in Potsdam 1945 gezogenen vorläufigen Grenzen zwischen Polen und der inzwischen nicht mehr existenten DDR als „Friedens- und Freundschaftsgrenze“ unter der allmächtigen Aufsicht Stalins (Foto) legitimierten, obgleich beide Staaten im Verlauf der Entwicklung ihre freundschaftlichen Beziehungen kaum weiterentwickelten und am Ende der sozialistischen Zeit geradezu in einem sehr distanzierten, wenn nicht in einem unfreundlichen Verhältnis standen. Die für die heutige Situation maßgebenden 2+4-Verträge können schon aufgrund ihrer Internationalität und demokratischen Legitimität im Görlitzer Vertrag von 1950 kein „grundlegendes Modell“ haben.  Der Grenzverlauf als solcher war durch das Potsdamer Abkommen vorgezeichnet und eine Frage internationaler Anerkennung in einem Friedensvertrag, an dessen Stelle nach dem politischen Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks die 2+4-Verträge 1990 getreten sind.

Trotz des gewachsenen interessanten und aktuellen Nachrichtenteils fand ich das vorliegende Heft als politisch sehr einseitig. Dies sollte im Sinn einer breiten tragfähigen polnisch-deutschen Verständigung verändert werden.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Paul Leidinger, Warendorf

 

Lieber Herr Schade,

in Ihrem “Kommentar” zur “Charta der Heimatvertriebenen” von 1950 sehen Sie diese - m.E. zu Recht - nicht als “Doku-ment der Versöhnung, sondern [als] ein Dokument der Revanche und politischen Unverfrorenheit”. Und Sie stellen - ebenfalls zu Recht - die Frage, wo die Proteste “dieser ‘gnädigen’ Deutschen” gewesen seien, als die deutsche Wehrmacht unsere Nachbarländer überfiel und in ihrem Gefolge SS und Gestapo dort ihr Terror- und Völkermordregime errichteten: “Wo haben sie protestiert, sich verweigert?”

Ich kenne weder die Verfasser dieser “Charta” noch ihre Biographien. Sehr wahrscheinlich, dass Ihre pointierte Kritik genau die Richtigen trifft. Die große Mehrzahl der später “Heimatvertriebenen” gehörte zweifelsohne, ebenso wie alle anderen Deutschen (bitte das nicht zu vergessen), zu denen, die hinter Hitlers Politik standen und ihrem “Führer” bis 5 Minuten nach zwölf die Treue hielten.

Doch wenn allgemein von “den” Heimat-vertriebenen gesprochen wird und dabei nur an diejenigen gedacht wird, die “nichts vergessen und nichts hinzugelernt” zu haben scheinen, tut man noch nachträglich einer Minderheit Unrecht. Denn es gab in diesen heute polnischen Gebieten auch andere Deutsche: Juden und Sinti in Danzig, Kommunisten und Deserteure in Ostpreußen, den Kreisauer Kreis und nazifeindliche Katholiken in Schlesien, Zeugen Jehovas, Sozialdemokraten und von den Behörden als “Gemeinschaftsfremde” Etikettierte in Pommern - um nur ein paar Beispiele zu nennen. Sie alle haben in irgend einer Form “sich verweigert”, und viele von ihnen haben auch protestiert, dort wo und solange es ihnen möglich war.

Dass sie schwiegen, als Hitlers Armeen in Polen und der Sowjetunion einmarschierten, war nicht ihre Schuld. Viele von ihnen waren schon ermordet worden, und die noch lebten, saßen zum größten Teil hinter dem Stacheldraht eines KZs oder Gestapo-Gefängnisses. Sie haben einen hohen Blutzoll entrichtet, und den wenigen von ihnen, die - von Folter und KZ-Haft für ihr Leben gezeichnet - ihre Befreiung erlebten, war zudem noch die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt.

Ich weiß, dass es schwierig ist zu differenzieren. Aber gerade wir, die wir uns die deutsch-polnische Verständigung zur Lebensaufgabe gemacht haben (das darf ich von Ihnen wohl auch sagen), sollten nicht vergessen, dass es unter den “Heimatvertriebenen” auch diese Männer und Frauen gegeben hat. Sie gehörten zu dem kleinen Häuflein “Gerechter”, die die Ehre unseres Volkes gerettet haben. Wir können stolz auf sie sein (und ich glaube, das versteht man auch in Polen), und sie verdienen es nicht, mit den Revanchisten in einen Topf geworfen zu werden. Die Erinnerung an sie kann helfen, Brücken zu schlagen.

In diesem Sinne grüße ich Sie herzlich

Ihr J. Neander

 

28. 7. 2000

Sehr geehrter Herr Schade,

als Leser von “POLEN und wir”, der - eben als solcher - schon viel erlebt hat, möchte ich diesmal mein Kompliment nicht verhehlen: Nr. 2/2000 ist erstaunlich vielseitig und informativ, technisch haben Sie offenbar nun fast alles im Griff. - Ich persönlich finde übrigens die “Charta der Heimatvertriebenen” (S. 5) recht friedfertig, vor allem wenn man den frühen Zeitpunkt bedenkt. Aber ich habe - im Unterschied zu Ihnen - das Dokument auch erst jetzt kennen gelernt.

Was ich Ihnen bzw. der Redaktion gern ausreden würde, sind die “LeserInnen-briefe” (so nur auf S. 2). Sie wären nämlich sonst gezwungen, auch von der Arbeiterinnenklasse oder der Ausbeu-terInnengesellschaft zu schreiben. Und wollen Sie denn z. B. Erich Honecker umfälschen: “Ohne KapitalistInnen geht es besser!”? (Von den - evangelischen - BischöfInnen ganz zu schweigen, denen Herr Dr. Koch in seinem Referat bedenklich nahe kommt.) Gerade diese Vergewaltigung der deutschen Sprache dürfte den Grünen (“Taz”) noch zur Last gelegt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Dietrich Scholze-śołta