Polen und wir Heft 3/2000 Seite 10

 

Mein 6. Juli 1950 in Görlitz

Von Wolfhard Besser

Erwarten Sie keine tiefgründigen Reminiszenzen. Nachfolgende Zeilen sind Erinnerungen aus kindlicher und jugendlicher Sicht, denn am Tag der Unterzeichnung des deutsch(DDR)-polnischen Grenzvertrages in Zgorzelec war ich gerade mal 12 Jahre alt. Für mich geschah an diesem 6. Juli 1950 etwas Unfassbares: Mein Onkel - ehrenamtlicher Gewerkschaftsfunktionär seines Betriebes - durfte in die Oststadt von Görlitz (wie die Einwohner sagten), nach Zgorzelec. Die Bedeutung dieses Ereignisses konnte ich damals noch nicht erfassen - für mich war nur wichtig: Mein Onkel hatte die Straßen und Plätze besuchen können, wo ich geboren wurde und meine ersten Kindheitsjahre verbracht hatte. Alle Teilnehmer an diesem festlichen Akt - viele Polen und Tausende ausgewählte Deutsche aus der jungen DDR, meist Görlitzer Bürger, aber auch aus anderen Städten Sachsens und Brandenburgs, durften auf die andere Seite der geteilten Stadt fahren.

 

Denn bis zu diesem Zeitpunkt war der Grenzübergang an der Neiße fast eine Barriere. Zwar konnte man von der deutschen Seite aus in die “andere” Stadt einblicken und das lebhafte Treiben in der Oststadt sehen, aber über die Neiße- Brücke kam man nicht. Zudem war auf der polnischen Seite entlang des Flusses ein Stacheldraht-Verhau gezogen und hin und wieder sah man polnische Grenzsoldaten Streife laufen. Erst Jahre nach Vertragsunterzeichnung wurden die Grenzbefestigungen abgebaut und beiderseits Grenzpfähle gesetzt.

Viele Görlitzer, die früher im Ostteil gewohnt und sich nun im deutschen, größeren Teil der Stadt angesiedelt hatten, kamen oft zur Grenze und blickten hinüber in der irrigen Hoffnung, wieder in ihre alte Heimat zurück zu können. Widersinnig war damals auch die Tatsache, dass man mit der Straßenbahnlinie 3 im 20Minuten-Rhythmus zum Grenzübergang fahren konnte. Für Zivilpersonen war er unpassierbar. (Vor 1945 fuhr die Straßenbahn weiter nach Görlitz-Moys - die Schienen sind auf dem Foto noch zu sehen.)

An diesem 6. Juli 1950 also unterzeichneten die beiden Ministerpräsidenten das Abkommen zwischen der DDR und Polen. Für mich war damals beeindruckend: Mein Onkel konnte für einen Tag dorthin, wo ich von 1938 bis 1945 meine frühe Kindheit verbrachte; wo ich mein geliebtes Märchenbuch zurückgelassen hatte. Zu meiner Enttäuschung reichte seine Zeit nicht aus, um die Straße aufzusuchen, wo unser Haus stand. Ich wollte doch wissen, wohnt da eine andere Familie, wie sieht das Anwesen jetzt aus?

Die Vertragsunterzeichnung im “Dom Kultury” - 1898 an erbaut als Oberlausitzer Gedenkhalle - im Volksmund Ruhmeshalle genannt - zur Huldigung der deutschen Monarchie, 1902 durch Wilhelm 11. eingeweiht - eine Stiftung des Görlitzer und Oberlausitzer Handwerks - war natürlich das wichtigere Ereignis.

Im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung fand vor dem Kulturhaus und dem angrenzenden ehemaligen Friedrichsplatz (heute Sierczewski-Platz) eine Kundgebung statt, wo die Bedeutung des Tages gewürdigt wurde. Aber für mich als heranwachsender junger Mensch war etwas ganz anderes von großem Belang: Alte deutschen Teilnehmer erhielten zum Abschied ein großes Lebensmittelpaket. Und das bedeutete 1950 schon etwas.

Jahre danach änderte sich nicht viel - die Grenze blieb im Prinzip unpassierbar. Zwar gab es bescheidende kommunale Kontakte zwischen den beiden Grenzstädten; auch die Eisenbahnverbindung wurde Mitte der 50er Jahre durch den Bau des noch am 8. Mai 1945 von den Nazis gesprengten Viaduktes über die Neiße wieder hergestellt, aber Züge nach Wroc³aw/ Kraków fuhren erst Jahre später hinüber.

Gerade wir jungen Leute wollten damals Kontakte knüpfen zu Gleichaltrigen östlich der Neiße. Das gelang nur selten, und wenn, dann nur bei offiziellen politischen Ereignissen, wie die Plakette aus dem Jahre 1957 ausweist. Und so kam es an einem Tag im Juli 1957 in Görlitz zu einem deutsch-polnischen Abend mit jungen Leuten aus Zgorzelec. Nur auf hoher politischer Ebene war in den 50er und Anfang der 60er Jahre der Kontakt zwischen beiden Ländern weitaus besser ausgeprägt. Mein erster wirklich enger Kontakt zu polnischen Menschen ergab sich demzufolge erst Ende der 60er Jahre, als aufgrund der 68er Ereignisse in der CSSR die Grenze zu Polen durchlässiger wurde.