Polen und wir, Heft 3-2000, Seite 15-16

 

Heimat, die nie vergeht –

oder: Germanias blutende Wunden

Von Friedrich Leidinger

Vor über 2 Jahren, genau am 29. Mai 1998 beschloss der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit eine Resolution, in der er die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich Oder und Neisse als „völkerrechtswidrig“ bezeichnete und die Erwartung aussprach, dass noch „offene bilaterale Fragen“ (gemeint waren Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) im Rahmen des Beitritts Polens und Tschechiens zur Europäischen Union ihre Lösung finden. Obwohl die Bundestagsentschließung die deutsch-polnische Grenze nicht einmal andeutungsweise erwähnte, sah sich der polnische Sejm zu einer scharfen Erklärung veranlasst, in der einmütig die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die polnische Westgrenze sowie die polnischen Eigentumstitel an Immobilien in den nach der Zerschlagung des Dritten Reiches an Polen gefallenen deutschen Ostgebieten als „unverzichtbare Grundlage einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung“ in Europa benannt werden. Wie dünnes Eis über einem reißenden Fluss war die Deckschicht über dem deutsch-polnischen Konflikt aufgebrochen. Eilig reiste eine Gruppe von Abgeordneten unter Führung von Frau Prof. Süssmuth nach Warschau, um zerschlagenes Porzellan zu kitten. So rasch die Empörung in Polen entstanden war, so rasch kehrte auch wieder Ruhe ein. Polen stand und steht in Verhandlungen über seinen Beitritt zur EU und benötigt dazu die deutsche Unterstützung.

 

Also alles ein Missverständnis? Das jedenfalls erklärten die aufgescheuchten Polenpolitiker der damals christlich-liberalen Regierungskoalition den polnischen Nachbarn und der deutschen Öffentlichkeit.

Am 3. September 2000 sprach mit Gerhard Schröder zum ersten Mal ein Bundeskanzler auf der Kundgebung des Bundes der Vertriebenen zum „Tag der Heimat“. Die Kernsätze seiner Rede waren Paraphrasen der oben erwähnten Bundestagsresolution. Doch diesmal blieb die heftige Reaktion aus Warschau aus. Kein Grund zur Beunruhigung?

Ohne Zweifel hat Schröder in seiner allgemein mit Spannung erwarteten Rede eine klare Position bezogen. Er stellte die Vertreibungen der Deutschen in den Kontext des Vernichtungskrieges, zeichnete die Funktion von Vertreibung seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute nach, lobte posthum die Entspannungspolitik Willy Brandts und kritisierte – geschickt in ein Lob für die Trennung des BdV von der „Jungen Ostpreußischen Landsmannschaft“ gekleidet – die Nähe der Vertriebenen-Organisationen zu neonazistische Gruppen. Die Vision der Vertriebenen von einer „Rückkehr in die Heimat“ sah er in der zu erwartenden Freizügigkeit aufgehoben, zu der Polen und Tschechien durch den EU-Beitritt verpflichtet sein werden. Die Kulturarbeit der im BdV vertretenen Organisationen pries Schröder als Teil des Kulturaustausches mit den osteuropäischen Nachbarn und erteilte gleichzeitig den Plänen des BdV und ihm nahestehender Politiker für eine Zentrale Gedenk- und Dokumentationsstätte für Vertreibungen eine Absage.

Eine Rede, an der nichts falsch ist, möchte man sagen. Und doch bleibt ein Rest Unzufriedenheit. Sie gilt nicht so sehr dem Gesagten: Natürlich ist es notwendig, die millionenfachen Grausamkeiten, die mit Zwangsumsiedlungen oder – moderner – „ethnischen Säuberungen“ (welch ein Unwort!) bezeichnet werden, zu ächten. Natürlich wurden auch die deutschen Bewohner Ostpreußens, Schlesiens und Pommerns zu Opfern, deren Leid Respekt verdient. Natürlich ist die Pflege landsmannschaftlicher Tradition gerade in einer sich als multikulturell verstehenden Gesellschaft, zu der der Gebetsruf des türkischen Muezzin genauso gehört wie die Barbara-Prozession der Oberschlesier, unverzichtbar. Und natürlich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen dem Kauf einer mallorquinischen Finca oder einem masurischen Bauernhof. Die zwiespältigen Gefühle, die jener letzte Vergleich gleichwohl weckt, sind dieselben, die die Schröder-Rede hinterlässt.

Dieses Unbehagen knüpft an dem Namen des Veranstalters des „Tages der Heimat“ an: „Bund der Vertriebenen“. „Vertrieben“ ist dort schon lange niemand mehr. Wenn 55 Jahre nach Kriegsende die noch lebenden, materiell reichlich entschädigten und sozial vollständig in ihre neue Lebensumgebung integrierten ehemaligen Ostdeutschen immer noch und die Millionen von Spätaussiedlern, die in den letzten 30 Jahren aus allen osteuropäischen Ländern nach Deutschland gekommen sind, schon wieder „Vertriebene“ genannt werden, heißt das nicht nur, die Leiden der unmittelbar nach dem Krieg gewaltsam deportierten Menschen zu banalisieren. Vielmehr ist eine weitgehende Umdeutung des Begriffs „Vertreibung“ in einem völkischen, nationalistischen Sinne damit verbunden. Das Leid der Betroffenen in diesem Sinne besteht keineswegs im Erdulden von Gewalt und Misshandlung,  sondern im „Verlust der Heimat“ als dem Verlust der Existenz als „Deutsche in Deutsch-land“. Wie anders soll man die Tatsache von inzwischen wohl über 500.000 polnischen Bürgern verstehen, die glückliche Besitzer eines deutschen Reisepasses sind, obwohl Doppelstaatsangehörigkeit nach dem immer noch geltenden politischen Willen des deutschen Gesetzgebers als besonders schädlich und nach Möglichkeit zu vermeiden gilt.

Dieses Deutschland, das als „Heimat“ der Vertriebenenorganisationen figuriert, ist niemand anders, als der Geist jenes Deutschen Reiches, das Jahrzehnte nach seiner bedingungslosen Kapitulation durch die an dieser Stelle oft zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer ebenso makabren wie politisch wirksamen Fortexistenz befördert wurde.

Zwar hat Schröder festgestellt: „Die Bundesrepublik Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegen ihre Nachbarländer.“ Aber im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts schrumpft dieser Ausspruch auf die Stufe einer reinen Gewaltverzichtserklärung. Das Deutsche Reich ohne feste Grenzen weiterleben zu lassen und gleichzeitig die auf fremdem Staatsgebiet gelegenen nationalen Wunden offen zu halten – das sind die eigentliche Aufgabe der Vertriebenenorganisationen seit ihrer Gründung. Dieses Anliegen verbirgt sich hinter all den Aktivitäten zur ostdeutschen Kulturpflege. Letztlich vollziehen sie damit nur das Selbstverständnis einer Nation, die weit von der konstitutionellen Identität entwickelter bürgerlich-demokratischer Nationen entfernt sich als völkische Nation versteht. Es ist hier kaum Platz aufzuzählen, in welchen Gesetzen – vom Einbürgerungsrecht bis zum Renten-recht - dieser Sachverhalt abgebildet wird.

Daher ist die Aufforderung des Kanzlers an den BdV, sich von Rechtsextremisten oder Neonazis abzugrenzen zwar gut gemeint, trifft aber nicht das Kernproblem. Für die Verständigung mit Polen ist gerade im Hinblick auf die bevorstehende Aufnahme in die EU eine Klarstellung ganz anderer Art notwendig: Bereits im Juli 1998 hat der Vorstand der Deutsch-Polnischen Gesellschaft dem damaligen Bundesaußenminister geschrieben und die Abgabe einer Erklärung verlangt, dass die Bundesregierung den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14.11.1990 nicht unter den Vorbehalt der vom Bundesverfassungsgericht festgeschriebenen Grundlagen der Deutschlandpolitik stellt, und gefordert, im Deutschen Bundestag einen Entschließungsantrag der Regierung einzubringen, in dem das Parlament aufgefordert wird, das Postulat der Fortexistenz des Deutschen Reiches in über den Bestand der Bundesrepublik hinaus reichenden Grenzen für obsolet zu erklären und den vielfältigen Niederschlag dieses Postulats in der Gesetzgebung der Bundesrepublik rückgängig zu machen. Eine Antwort der Regierung und des Bundestages steht noch heute aus.

Das deutsch-polnische Verhältnis gibt einmal mehr den Lackmus-Test für die demokratische Kultur in Deutschland. Die Bundesrepublik wird sich der Frage stellen müssen, ob sie die Rechte der polnischen Minderheit genauso ernst nimmt, wie sie entsprechendes für die deutsche Minderheit in Polen reklamiert, warum sie den in Oberschlesien lebenden „Deutschstämmigen“ den „Doppelpass“ gewährt, während sie dasselbe den im Ruhrgebiet geborenen und lebenden Türken verweigern will. Die Bundesregierung steht an, Maßnahmen gegen die zu erwartenden Spannungen und Ängste vor allem in Polen zu treffen, die sich in Zusammenhang mit dem EU-Beitritts Polens aus der Projektion nationalistischer Vorstellungen ergeben. Eine dieser Maßnahmen kann nur in dem endgültigen Verschließen jener nationalen Wunden bestehen, wie es eine für alle Verfassungsorgane der Republik verbindliche Liquidation des „Reiches“ durch den Souverain, den Bundestag, als endgültig und unwiderruflich bedeuten würde.

Dass es dazu kommen könnte, dafür bot Schröders Rede leider keine Anhaltspunkte.