Polen und wir 3-2000 Seite 17

 

Wie sich das Bild von unserem östlichen Nachbarn
Polen im Laufe der Jahre wandelte

Von Michael Roeder

Der folgende Überblick folgt den Hauptphasen der bundesdeutsch-polnischen Beziehungen, um so ablesen zu können, in welchem Verhältnis, historisch-politische Entwicklung und Schulbücher zueinander stehen. Dazu werden einige Geschichtsschulbücher herangezogen, die seit 1949 in der Mittelstufe (Klassen5/7 bis 10) besonders weit verbreitet und in allen Schularten in Benutzung waren. Es ist schwierig, die jeweiligen Aussagen dieses Artikels durch einzelne Zitate zu belegen, da das hier nachgezeichnete Bild von Polen aus einer Vielzahl von Mosaiksteinen und Auslassungen besteht.

 

Polen in den Geschichtsbüchern

Die Jahre von 1949 bis 1960

Dies war die Zeit des Kalten Krieges; offizielles Ziel gegenüber Polen war die Wiedererlangung der deutschen Ostgebiete. Die Schulbücher dieser Zeit waren in vollem Einklang mit der Vorstellung vom deutschen Osten. Sie gaben der Ostkolonisation (und dem Deutschen Orden) fast die Hälfte des Raumes, in dem sie sich mit Polen befassten (an zweiter Stelle standen Flucht und Vertreibung nach 1945). Die beiden folgenden Zitate deuten an, wie die Ostkolonisation - aus ihrem gesamteuropäischen Rahmen herausgelöst und ohne Berücksichtigung der slawischen Rolle - dabei als Beweis für das Deutschtum der betreffenden Gebiete benutzt wurde:

Preußen [d.h.: Ostpreußen bzw. Masuren-MR] wurde vom Deutschen Orden “durchkolonisiert, besiedelt, aufgebaut. (...) Es war damals der bestregierte und blühendste Teil Deutschlands [!]. (...) So entstand aus einer Wildnis ein blühendes Staatswesen.” (Ebeling, Deutsche Geschichte, Bd. 2, 1949, S. 161f.)

“In den Gebieten Polens östlich von Schlesien, über die Weichsel hinaus, waren die Städte ausschließlich deutschen Ursprungs und deutscher Art.” (Kletts Geschichtliches Unterrichtswerk, Bd. 2, 1955, S. 113)

Insgesamt lässt sich sagen, dass in dieser Zeit die Beschäftigung mit Polen eher die Beschäftigung mit dem ‘Erwerb und Verlust des deutschen Ostens’ war. Das zeigte sich auch bei der Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit: Zwar erfuhren die Schüler viel über Flucht und Vertreibung der Deutschen, über Polen hieß es hingegen lakonisch:

“Polen war entsetzlich arm geworden.” (Ebeling, Deutsche Geschichte, Bd. 5, 1955, S. 150)

Durchgängig zeichneten diese Bücher ein Bild von den Polen, in dem diese als arm, kulturell zurückgeblieben und deutschenfeindlich erschienen.

 

Die Jahre zwischen 1960 und 1970

Mit dem Wandel im Verhältnis der beiden Supermächte zueinander (dem ‘Tauwetter’) begann auch in der BRD eine breite gesellschaftliche Diskussion über die deutsche Haltung zu Polen mit dem Ziel der Aussöhnung. Sie führte schließlich zum Warschauer Vertrag von 1970. Doch auch für diesen Zeitraum blieb die Betonung des deutschen Ostens in den Geschichts-büchern bestimmend. Dies geschah weiterhin dadurch, “dass das Hauptgewicht “ der Behandlung Polens auf Ostkolonisation und Deutschen Orden (sowie Flucht und Vertreibung) gelegt wurde, also auf “das Land im Osten”, das allein Zisterzienser, deutsche Bauern und der Deutsche Orden aus einer “Einöde zu fruchtbarem Land” gemacht und “dem christlichen Glauben und der deutschen Siedlung und Kultur erschlossen hatten”; aber “die Polen kamen wieder” (Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1967, S. 45,47f’.)

Allerdings wurde nun erstmals von Polen als “Opfer eines deutschen Angriffes” (Ebeling, Die Reise in die Vergangenheit, Bd. 4, 1966, S. 231) gesprochen. Aber auch noch 20 Jahre nach Kriegsende bekamen die Benutzer dieser Geschichtsbücher nur ansatzweise einen Eindruck von der deutschen Besatzungszeit vermittelt. So wird letztlich in dieser Periode ein deutliches Auseinandergehen von veröffentlichter Meinung zu Polen und dem Polenbild der Schulbücher erkennbar.

 

Die 70er und 80er Jahre

Dies war eine Zeit der problembeladenen ‘Normalisierung’ der Beziehungen. Zwar markierte der Warschauer Vertrag eine deutliche Zäsur im bundesdeutsch-polnischen Verhältnis; aber es dauerte doch noch bis zum Ende der 70er Jahre, dass in den Schulbüchern beträchtliche Veränderungen stattfanden. Nun konnte man Feststellungen wie diese lesen:

“Ähnlich wie die Germanen lebten die Slawen in Dörfern zusammen.” (Ebeling- Birkenfeld, Die Reise in die Vergangenheit, Bd.1, 1977, S. 128)

In der Zeit der Ostkolonisation “entwickelte sich ein friedlich-nachbarlicher kultureller Assimilationsprozess” und “verschmolz die Schicht der deutschen Siedler häufig mit den einheimischen Slawen”. (Geschichtliche Weltkunde, Bd. 1, 1979, S. 229)

“Seit dem Beginn der deutschen Geschichte waren immer wieder deutsche Fürsten und Ritter in das dünn besiedelte Slawenland östlich von Elbe und Saale eingedrungen, hatte dort weite Gebiete erobert und ihre Bewohner unterworfen.” (Ebeling-Birkenfeld, Die Reise in die Vergangenheit, Bd. 1, 1977, S. 173)

Aus polnischen (und überhaupt slawischen) Gegnern waren Mitmenschen geworden und umgekehrt aus deutschen ‘Kulturträgern’ normale Eroberer.

Diese veränderte Haltung schlug sich auch darin nieder, dass die Ostkolonisation insgesamt deutlich weniger Aufmerksamkeit erhielt und andererseits die deutsche Besatzungspolitik im 2. Weltkrieg offener angesprochen wurde:

“Polen war das am schwersten in Mitleidenschaft gezogene Land, auf das sich der besondere Hass der Nazis richtete.” (Geschichtliche Weltkunde, Bd. 3, 1979, S. 162)

Des weiteren wurde nun ein Zusammenhang zwischen nationalsozialistischer Be-satzungspolitik und den Folgen für Deutschland hergestellt. Hier wurde bemerkenswert rasch die 20. der (bundes)-deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen von 1976 umgesetzt; dort war u.a. gefordert worden, dass “die nationalsozialistische Besatzungspolitik und ihre Konsequenzen für das polnische Volk hinreichend dargestellt werden (sollten)”. Die veränderte offizielle und öffentliche Einstellung zu Polen war nun auch in den Geschichtsschulbüchern aufgegriffen worden, und sie versuchten, ihren Beitrag zu Einstellungsänderungen bei den Schülern zu leisten.

 

Die Zeit um 1990

Die politischen Veränderungen dieser Zeit in Polen und Deutschland schlugen sich in zwei Verträgen nieder, von denen der Vertrag “über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit” vom 17.6.1991 hier von Interesse ist. Dort wurde in Art. 30 festgestellt, dass “das gegenseitige Kennenlernen und das gegenseitige Verstehen der jungen Generation von grundlegender Bedeutung (ist), um der Verständigung und der Versöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk einen dauerhaften Charakter zu verleihen”.

In den ersten Schulbuchausgaben zu Beginn der 90er Jahre führte das noch nicht zu spürbaren Veränderungen; vielmehr war erst einmal das Hauptanliegen, die jüngste Entwicklung unterzubringen.

 

Natürlich ist zunächst einmal ganz offensichtlich, dass im Laufe von über 40 Jahren das Polenbild in den Geschichtsschulbüchern einen erheblichen Wandel erfahren hat; es ist sozusagen ins Gegenteil gekehrt. Und doch bleibt trotz dieser erheblichen atmosphärischen und auch faktischen Verbesserung etwas: Dieser Wandel wird nicht selbst zum Thema gemacht und erklärt. Im Grunde wurde ein veraltetes Geschichtsbild durch ein anderes, zeitgemäßeres ausgetauscht. Was bisher wahr war, ist jetzt falsch und wird ersetzt. Statt das bisherige Geschichtsbild zur Diskussion zu stellen und so die Urteilskraft der Schüler und ihre Einsicht in die Veränderlichkeit von Geschichtsbildern und die Gründe dafür zu entwickeln.

 

Fazit

Es gibt weitere Kritikpunkte, die sich jedoch nicht auf Polen beschränken, sondern eigentlich für die Beschäftigung mit fast allen Ländern und Völkern gelten, so dass Polen hier insofern nur stellvertretend steht (Die wesentlichen Ausnahmen hiervon sind in der Mittelstufe Spanien, Frankreich, Großbritannien und die USA - also die führenden Staaten der jeweiligen Periode):

Die Geschichte Polens ist in den Schulbüchern in der Regel die deutsche Beziehungsgeschichte mit Polen. Das sieht man durchgänig bei den drei Hauptthemen Ostkolonisation, 2. Weltkrieg und seine Folgen so wie den drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Polen als eigenes historisches Subjekt gibt es hingegen fast nicht; oder anders ausgedrückt: nur dann, wenn Polen erfolgreich war, wie z.B. als mittelalterliche Großmacht Polen-Litauen. Ganz überwiegend herrscht bei der Beschäftigung mit den historischen Ereignissen die deutsche Sicht vor. Das hat Auswirkungen auf die Inhalte. So wird z.B. die Entwicklung von der Beseitigung Polens 1795 (über die preußische Polenpolitik und den Nationalsozialismus) hin zum Verlust der deutschen Territorien östlich von Oder und Neiße 150 Jahre später nicht als ein Zusammenhang verdeutlicht; die Schüler sehen nur Anfang- und Endpunkt und dazwischen –  in der Zeit der staatlichen Nichtexistenz von Polen - nichts. Auch wenn der Geschichtsunterricht die nationale Geschichte vorrangig behandelt, sollte er dennoch ein Bewusstsein dafür schaffen, dass andere Länder und Völker ihre eigene Geschichte und ihre eigene Sicht auf die Geschichte haben.

 

Wie steht es nun mit den Jugendlichen selbst und ihrem Bild von Polen?

Seit den 50er Jahren gibt es dazu gezielte empirische Untersuchungen in der BRD. Typisch für die Untersuchungen in den ersten drei Jahrzehnten waren direkte Fragen nach dem Wissen über und der Einstellung zu Polen. Es waren dies Verfahren quantitativer Art (z.B. in der Form von Eigenschaftslisten). Anders dagegen die mehr ‘offenen’ Untersuchungen

der letzten beiden Jahrzehnte, deren zentraler Bestandteil Gruppeninterviews mit Schülern waren, in die der Gesprächsleiter möglichst wenig eingriff. Die Auswertung erfolgte hermeneutisch, d.h., das Augenmerk wurde auf den Stellenwert der jeweiligen Schüleräußerungen für den Sprechenden selbst sowie für den Gesprächsverlauf gelegt.

 

Das Bild deutscher Jugendlicher über Polen

In der ersten Befragung unter Studenten der FU in Westberlin 1951, in der die Einstellung zu verschiedenen Völkern anhand einer umfangreichen Eigenschaftenliste ermittelt wurde, erschienen die Polen u.a. als streitsüchtig, hinterlistig, arm, schmutzig, primitiv, aber auch heimat- und freiheitsliebend. Bei zwei weiteren Untersuchungen in den 60er Jahren, diesmal unter Oberschülern, äußerte eine übergroße Mehrheit Antipathie; typische Kennzeichnungen waren: schmutzig, faul, grausam, unberechenbar. Neu aber ist, dass in diesen beiden Befragungen 45% bzw. 70% überhaupt kein Urteil zu den Polen abgaben. Es folgten zwei weitere Befragungen von Neuntklässlern in den 70-ger Jahren, in denen diese Tendenz zur Gleichgültigkeit sich fortsetzte. Dies zeigte sich auch in einer Untersuchung unter Zehntklässern 1989 in Westberlin. Polen wurde von ihnen nur so am Rande wahrgenommen und kam ihnen “grau”, “kalt”, “omamäßig” und “dreckig” vor und war eigentlich “nichts Bestimmtes”  für sie. Nachuntersuchungen 1993 und 1995, jetzt unter Einschluss von Ostberlin, bestätigten dieses Bild.

Durchgängig zeigte sich bei allen Arbeiten, dass die Kenntnisse über Polen minimal waren, und wenn es doch welche gab, dass die Schule dabei nur eine untergeordnete Rolle spielte. Außerdem hatten die Schüler fast keine Kontakte zu Polen.

 

Der Autor, Dr. Michael Roeder, ist Gymnasiallehrer und wohnt in Berlin. Seine Dissertation “Zum Wandel des Polenbildes in bundesdeutschen Geschichtsbüchern” [1949-1991] ist 1994 im Shaker-Verlag, Aachen erschienen. Sie kann über die Redaktion bei ihm bestellt werden.