Polen und wir – 3-2000  Seite 19-20

 

Deutsch-polnische Spurensuche in der Region Lublin

„...verschollen in Izbica. Eine Spurensuche“

Von Hannelore Lutz

Ein nicht einfaches Thema hatten 18 Jugendliche aus Wuppertal, Solingen und Krefeld in Deutschland und in Polen zu bearbeiten. Sie suchten in Wuppertal und in der Region Lublin die Spuren von dreiundsechzig Wuppertaler Juden und Jüdinnen, die am 22.4.1942 nach Izbica deportiert wurden. Gemeinsam mit Jugendlichen aus Lublin machten sie sich in Polen auf den Weg, besuchten Izbica, Sobibór, Włodawa und arbeiteten im Archiv der Gedenkstätte Majdanek: denn der zweite Schwerpunkt der Studienfahrt war die Begegnung mit jungen Polen. Unter anderem wollten sie wissen, ob und wieweit auch heute noch das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen durch die Vergangenheit beeinflusst wird, ob ein gemeinsames Interesse an der Geschichte vorhanden ist aber auch, wie junge Polinnen und Polen „in der Provinz“ leben.

 

An drei Wochenende bereiteten sich die Jugendlichen auf ihre (erste) Fahrt nach Polen vor. Sie äußerten ihre Erwartungen und Wünsche an den Aufenthalt, sie arbeiteten mit Quellen und Dokumenten, den Erinnerungen von Überlebenden. Sie lasen Texte zur polnischen Geschichte, literarische Texte, informierten sich über das heutige Polen und die Region Lublin. Zur Vorbereitung gehörte aber auch die Beschäftigung mit dem jüdischen Leben in Südostpolen, von dem heute fast keine Spuren mehr erhalten sind. Die Bewohner der kleinen und größeren Orte wurden während der „Aktion Reinhard“ in den Vernichtungslagern Sobibór und Bełżec ermordet, ebenso wie Zehntausende deutsche, tschechische, österreichische, holländische Juden.

In Wuppertal beschäftigten sich die jugendlichen Teilnehmer mit dem Gedenkbuch für die Wuppertaler Juden, das in der Gedenkstätte „Alte Synagoge“ angelegt und fortgeschrieben wird. Namen und Biografien von Wuppertalern, deren Lebensweg in der Stadt bis zur Deportation vom Bahnhof Wuppertal-Steinbeck über Düsseldorf nach Izbica in Polen, wurden von den Jugendlichen zusammengestellt. In Polen wollten sie versuchen, weitere Spuren zu finden.

Zur gleichen Zeit bereiteten sich in Lublin zehn Jugendliche eines Lyzeums auf die Begegnung und die gemeinsame Arbeit vor. Sie bekundeten ihr Interesse an der Zusammenarbeit aber auch daran, den Deutschen „ihre“ Stadt und Region zu zeigen, sie für einige Tage an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Auf beiden Seiten war die Neugier groß: Gibt es große oder gar keine Unterschiede? Wie sind Schulbesuch, Studium etc. geregelt? Keiner der polnischen Jugendlichen war bisher in Deutschland.

Gleich nach der Ankunft in Lublin wurden die deutschen Jugendlichen mit der jüdischen Vergangenheit der Stadt konfrontiert: Ihre Unterkunft lag direkt am Rande der Altstadt, auf dem Gelände des ehemaligen Gettos. Gemeinsam mit den jungen Polinnen, die ihre deutschen Besucher bereits erwarteten, wurde die Stadt in Kleingruppen erkundet - die erste Befangenheit verschwand sehr schnell. Vor allem, nachdem jede Gruppe mindestens einen polnischen und einen deutschen Satz beim abendlichen Bericht vortragen musste. In den nächsten Tagen lernten Deutsche und Polen eifrig polnische und deutsche Sätze, Redewendungen, mehr oder weniger sinnige Sprichwörter...

An den drei folgenden Tagen stand die Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Majdanek auf dem Programm. Die erste Annäherung während der Führung über das Gelände ließ die gesamte Gruppe durch die Konfrontation mit den Gaskammern, den Schuhbergen, der Ausstellung in den Museumsbaracken verstummen. Das Krematorium, die Erschießungsgräben der „Aktion Erntefest“ und der riesige, unter einer stilisierten Urne liegende Berg menschlicher Asche machten sie fassungslos. Alle Teilnehmer äußerten den Wunsch, sich später noch einmal individuell mit dem Ort auseinander zu setzen. Es dauerte einige Zeit bis die Gruppe in der Lage war ihre Eindrücke zu reflektieren, sich in Kleingruppen zusammenzufinden und erste Erkundungen in Archiv und Bibliothek vorzunehmen.

Die nächsten beiden Tage waren ausgefüllt mit Archivarbeit: Die polnischen Teilnehmerinnen fassten noch nicht veröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen von Häftlingen zusammen, Materialien zu den Themen „Täterinnen und Täter“, „Lagerleitung“, „Hygienische und soziale Verhältnisse“ und zum Majdanek-Prozess wurden ausgewertet. Die Suche nach Spuren der Wuppertaler Juden blieben ergebnislos. Die Jugendlichen erfuhren, dass von einem Transport mit ca. 1.000 Menschen maximal 30 bis 40 arbeitsfähige Männer zur Zwangsarbeit nach Lublin und Majdanek gebracht wurden. Die Auswertung der Arbeitsergebnisse und Vorstellung im Plenum zeigte eine engagierte und motivierte Arbeitsphase in einer authentischen Umgebung, „die wir so nie hatten und wahrscheinlich nicht mehr haben werden“, äußerte sich eine Teilnehmerin.

Ein Zeitzeugengespräch bildete den Abschluss dieser Arbeitsphase. Ein ehemaliger Majdanek-Häftling, der aus Lublin stammte und nach seiner Befreiung auch wieder dorthin zurückgekehrt war, berichtete über seine Odyssee und die Schwerstarbeit in Majdanek, Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau. Dieses sehr lange und intensive Gespräch wurde von einigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen als eindrucksvollster Teil des Arbeitsaufent-haltes empfunden.

Wie versprochen, hatten die Jugendlichen Gelegenheit, sich individuell mit dem Ort „Majdanek“ auseinander zu setzen. Eine gemeinsames Gedenken an alle in Majdanek ermordeten Menschen bildete den Abschluss der sehr intensiven Tage.

Izbica war der nächste Ort der Spurensuche: Wurden doch aus diesem Ort noch zwei Karten von Wuppertalern an ihre Angehörigen geschickt. Während der Fahrt von Lublin durch eine Reihe kleiner Orte nach Izbica war die Gruppe sehr angetan von der ländlichen Prägung, der Ruhe der Landschaft. In Izbica wurde die Gruppe mit dem totalen vergessen konfrontiert: Außer dem verfallenen jüdischen Friedhof mit einem kleinen Denkmal und einer privaten kleinen Gedenktafel in deutscher Sprache erinnert dort nichts an die jüdischen Einwohner von Izbica und daran, dass Zehntausende europäischer Juden durch diesen Ort in die Vernichtungslager Sobibór und Bełżec transportiert wurden. Und dass wahrscheinlich Tausende schon hier den Tod fanden.

In Sobibór und Włodawa, den beiden nächsten Zielorten, wurden wir von einem Mitarbeiter des Wojwodschaftsmuseums begleitet. Die ehemalige Synagoge in W³odawa wurde behutsam restauriert. Einige - wenige - Kultgegenstände, die man noch fand, sind hier ausgestellt. Eine Foto- und Dokumentenausstellung zeigt die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Włodawa auf: 7.000 Juden lebten hier, sie alle wurden im dreißig Kilometer entfernten Sobibór oder in Bełżec ermordet. Dafür, dass die Erinnerung an die Gemeinde erhalten bleibt, Kinder und Jugendliche sich mit der Geschichte beschäftigen, setzt sich eine kleine engagierte Gruppe von Lehrerinnen und HistorikerInnen in Włodawa und Umgebung ein.

„Ein großer Friedhof“ ist der Wald auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Sobibór. Sichtlich schwer fiel den Jugendlichen die Konzentration auf diesen Ort, die begleitete Führung, die Ausstellung von Dokumenten. Und rundherum Wald, Wiesen, kaum ein Haus. Sowohl die deutschen als auch die polnischen Jugendlichen waren sichtlich irritiert (für die jungen Polinnen war es der erste Besuch in Sobibór). Der Ort erschloss sich nicht.

Auf der Rückfahrt nach Lublin, durch die weite Landschaft, war es merklich still im Bus, keine Musik, kaum Gespräche. Ermüdungserscheinungen nach dem anstrengenden Tag? Am Abend stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann die Fragen, die während des Tages ausblieben, sie aber offensichtlich schon längere Zeit beschäftigten. Wie kann man Spuren von Menschen so vollkommen beseitigen? Was ging in denjenigen vor, die das Lager sprengen, die Schienen herausreißen und alles abtransportieren ließen an einen unbekannten Ort? Die die letzten Häftlinge erschossen, verbrannten, damit niemand etwas erzählen konnte? Die sämtliche Unterlagen beseitigten, Bäume anpflanzen, das Gelände in einen „harmlosen“ Wald verwandeln ließen? Innerhalb der Gruppe entspannen sich rege Gespräche und Diskussionen: Was geht in den Personen vor, die ganze Regionen, Länder in einen einzigen Friedhof verwandeln? Und „Ich habe Bilder im Kopf, von dem was in Sobibór passiert ist, passiert sein kann. Das macht diesen Ort für mich so unheimlich“, sagte eine Teilnehmerin - andere bestätigten dies.

Aber noch andere Aspekte wurden in unseren Auswertungen angesprochen: Trotz der anstrengenden, oft belastenden, durchweg nicht einfachen und vor allem arbeitsreichen Woche blieb genug Zeit, sich zu treffen, auszugehen, das Leben in Lublin ein wenig kennen zu lernen und eine Tagesfahrt nach Kazimierz Dolny zu unternehmen. Hier waren die polnischen Jugendlichen in ihrem Element. Sie zeigten uns die Stadt, die wunderschönen Renaissancehäuser, erzählten die Sagen, die sich um die Burgruine rankten.

Natürlich war die Zeit zu kurz, mehr als einen ersten Einblick zu gewinnen. Zwischen einigen Teilnehmern haben sich inzwischen (Brief)-Freundschaften entwickelt, Besuche und Gegenbesuche fanden statt, ein deutscher Teilnehmer will seinen Ersatzdienst in Polen ableisten.

Die Hoffnung, Spuren der deportierten Wuppertaler Juden zu finden, hat sich nicht erfüllt. Aber die Jugendlichen - deutsche und polnische - haben zahlreiche Denkanstöße erhalten und Erfahrungen gesammelt. Darüber hinaus konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Begegnungen, die angebotenen Arbeitsformen, das Zusammenleben und die neu gewonnenen Erfahrungen motiviert werden, weiter Fragen zu stellen und auch in Zukunft tolerant und offen miteinander umzugehen.