Polen und wir   3-2000  Seite 21

 

„Alle Erinnerung ist Gegenwart.“ (Novalis)

Vier Autorinnen erinnern sich an ihre Kindheit und Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit

Buchbesprechungen von Antje Jonas

 

 

Das verlorene Gesicht Lebensbilder 1932-1947

Annerose Rosan

Dieses Buch ist eine Selbstvergewisserung der 1928 geborenen Autorin. Einzelne Ereignisse der in einem masurischen Dorf verlebten Kindheit werden erinnert und sind in lose nebeneinanderstehenden Episoden aufgehoben worden.

Der Leser lernt die Schönheiten der Natur, die schneereichen Winter mit Pferdeschlitten und Bratäpfeln kennen, er erfährt von der Freiheit und den Beschwernissen eines Kindes, das eingebunden ist in einen arbeitsreichen, harten Alltag einer Bauernfamilie: Schulerlebnisse werden geschildert, so der Tod einer Klassenkameradin und die Ankunft eines Armeleute-Kindes in der Klasse oder beispielsweise der Besuch des geliebten Onkels Emil aus Berlin, das Schützenfest im Dorf und die Abenteuer mit Eduard, einem wildgewordenen Schafsbock. Die Wirklichkeit, so unprätentiös und klar im sprachlichen Ausdruck sie dem Leser auch entgegenkommen mag, wird dennoch als hintergründig erfahrbar. Die Doppelbödigkeit des erinnerten Geschehens tritt klar zutage, wenn es in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt wird. Denn die Schrecken des Krieges überschatten zunehmend die Idylle des masurischen Dorfes, bis der Familie nur die Flucht bleibt. Hier ändert sich der Erzählton. Während im ersten Teil des Buches die Erinnerungen zuweilen sehr humorvoll und mit ironischer Feder notiert werden, stellt die Autorin die grausamen Situationen während der Flucht nur in knapper Form dar; sie verzichtet auf Ausführlichkeit und berichtet nur das Notwendigste, denn diese Erinnerungen sind noch immer schmerzhaft. Hier wird der Text durch das rasche Tempo und durch die Reduktion des Erzählten sehr dicht und gewinnt eine Authentizität, die den Leser zweifellos emotional sehr berührt. Der Abschied von der geliebten Landschaft, der Abschied von der Schwester Lisette, die an den Folgen der Flucht stirbt, das kurze Wiedersehen mit dem notgedrungen verkauften Pferd, die Fremdheit in dem norddeutschen Dorf, in dem die Familie unterkommt, das sind Episoden, die deutlich machen, dass die Verluste, die die Autorin als Kind verkraften musste, noch immer gegenwärtig sind, dass eine Traurigkeit geblieben ist und dass die Sinnerfüllung des Lebens nach der Flucht ein harter Kampf gegen das Gefühl der Zerbrochenheit gewesen sein muss.

Dieses Buch trägt Erfahrungen, Wissen und Erkenntnisse der Kriegskinder- Generation weiter, deren Stimme unverändert wichtig ist – gegen das Vergessen, die Verharmlosung und die Verdrängung geschichtlicher Verläufe. Angesichts aktueller rechtsradikaler Entwicklungen in unserem Land ist dieses Buch eine sehr deutliche Stimme gegen Gewalt, Krieg und Kriegsverherrlichung.

 

Annerose Rosan, Das verlorene Gesicht, 122 Seiten, 19,80 DM, Donat Verlag Bremen, ISBN3 – 931737 – 94 –2      

 

Textauszug:

“Eines Tages sah ich kurz vor Hutbergen einen Bauern auf seiner Weide frisch gemähtes Gras auf einen Wagen laden. “Das Pferd sieht aus wie unser Hans”, dachte ich, ohne im geringsten damit zu rechnen, dass er es wirklich sein könnte. In diesem Moment erblickte mich das Tier, wieherte laut auf und setzte sich mitsamt dem Wagen in Richtung Tor in Bewegung. Mein Gott, wie fühlte ich mich! Ich warf das Rad in den Straßengraben, lief den Weg entlang, kletterte durch Drahtzäune und fiel ihm um den Hals. Hans stand ganz still, hielt den Kopf gesenkt und ließ alle Liebkosungen über sich ergehen. Ich weiß nicht genau, ob es seine oder meine Tränen waren, die von seinem Pferdegesicht kullerten. Der Bauer war herangekommen. Ich spürte seine Hand über meinen Kopf streichen; ich sah, wie er mit der anderen Hand den Hals des Pferdes tätschelte. “Jo, jo”, sagte er nur, “jo, jo.”

Lisette war gestorben. Es gab Tage, an denen ich mich unendlich einsam fühlte. Wenn wenigstens eine Freundin, ein Spielkamerad aus meiner Kindheit hier wäre! Aber wie ich gehört hatte, waren die meisten Mädchen aus meinem alten Dorf, soweit sie das Kriegsende überlebt hatten, in Rußland umgekommen. Eigentlich hatte ich sehr viel Glück gehabt. “Bewahre dir deine Träume, Anuschka”, klang es in meinem Inneren wie aus einer verlorenen Welt. Wer hatte das doch mal zu mir gesagt? Mein Onkel Emil? Aber hier gab es keine unendlichen Wälder, keine weiten Moorwiesen, wo ich Binsenkörbchen flechten,

und keinen einsamen Waldsee, an dem ich Onkel Emil beim Angeln und die Eidechsen beim Sonnen beobachten konnte. Onkel Emil lebte auch nicht mehr. Ja, es war wirklich so.

Ich stand an der Weser, ließ Papierschiffchen schwimmen, und wenn ich die Augen schloß, roch es nach Meer. Ich drehte mich um und stieß fast mit einem Mädchen zusammen. “Hallo.” “Hallo.” “Du siehst nicht wie eine Hiesige aus.” “Du auch nicht.” “Ich heiße Isolde und bin aus Altenstein in Ostpreußen.” “Altenstein kenne ich. Ich komme aus Gilgenau bei Hohenstein.” Wir gingen zusammen ins Dorf zurück. Wir hatten uns viel zu erzählen.”

(S. 119-120)

 

 

Schwarz mit ein bißchen Gold. Eine Jugend in Pommern

Maria Renard

Wenn das Buch der Annerose Rosan einem Fotoalbum vergleichbar ist, das für den Betrachter einzelne Bilder bereithält, so gleicht das hier vorzustellende Buch einem ganzen Film. Mit „Schwarz mit ein bisschen Gold“ hat die Autorin einen Roman vorgelegt, der professionelle Schreiberfahrungen widerspiegelt. Wahrscheinlich ist mit diesem Buch sogar der letzte große Pommern-Roman erschienen Das Erzählte eignete sich in der Tat für eine Verfilmung; so bildhaft stehen die Erlebnisse des Mädchens Maria vor dem Leser, so genau erscheint die Kulisse der Kleinstadt Lauenburg, so dreidimensional erlebbar werden die Ereignisse und Charaktere. Die Sprache ist sehr gut durchdacht, Spannungsbögen werden aufgebaut, die Handlungen werden im Vorder- und Hintergrund gut ausgeleuchtet. Die Autorin wertet kaum, aber schildert sehr genau, was ihr in der Außenwelt und im Inneren widerfährt. Der Abstand der heute hochbetagten und zudem schwer erkrankten Autorin zu dem einstigen Kinder–Ich ist gerade groß genug, um aus der Ich-Erzählerin eine Roman-Figur werden zu lassen, die auch einen anderen Namen hätte tragen können. So erwartet den Leser ein vorzüglich geschriebener Roman, der vom Autobiogra-phischen ausgeht, sich darin aber nicht erschöpft.

In der Geborgenheit der Familie erlebt Maria die pommersche Kleinstadt Lauenburg samt Umgebung. Die Mutter ist äußerst streng, der Vater eher ein gutmütiger Träumer. Geburt und Tod, der Lauf der Jahreszeiten und die hohen Feiertage scheinen das Leben des Mädchens vollkommen auszufüllen. Maria ist intelligent, musikbegeistert und somit in ständigem Konflikt mit ihrer unnachgiebigen Mutter, die das Kind mit strenger Hand auf ein Leben voller Pflichten und Schulpflichten vorbereiten will. Doch Maria sucht und findet immer wieder Auswege aus dem tristen und mit Angst besetzten Schulalltag; sie liest, unternimmt Ausflüge mit ihrem Vater, spielt heimlich auf der Kirchenorgel. Der Wunsch nach der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen führt sie schließlich in die Reihen des BDM, obwohl ihre Eltern der neuen nationalsozialistischen Bewegung sehr skeptisch gegenüberstehen. Ihre erste Jugendliebe zu einem jungen Holzbildhauer erlebt sie so intensiv, dass selbst der Kriegsbeginn in den Hintergrund tritt. Um ihren Schulproblemen eine Zeit lang zu entkommen, meldet sie sich freiwillig zu einem Arbeitseinsatz im annektierten Polen. Hier zerbricht angesichts des Elends die Idylle ihrer Lauenburger Kindertage. Maria beginnt zu begreifen, was Krieg bedeutet. Sie denkt nach und bleibt mit ihren Fragen doch allein. Aus dem Mädchen wird kurz nach dem Abitur die Frau eines Flugzeugführers. Maria ist überfordert mit der Situation, plötzlich verheiratet zu sein. Ihr Mann, den sie kennen zulernen kaum Zeit findet, wird mit seinem Flugzeug abgeschossen. Doch zu trauern bleibt ihr keine Zeit. Sie wird ungefragt von der Rüstungsindustrie geschluckt, findet sich auf einem V-2-Versuchsgelände wieder, weiß kaum, wofür sie da arbeitet, ist froh über eine warme Suppe und eine eiskalte Unterkunft. Das Gelände wird bombardiert. Sie kommt mit dem nackten Leben davon, begibt sich in das völlig zerstörte Berlin und entkommt auch hier den Bomben. Schließlich verschlägt es sie nach Lübeck, wo sie 1945 als 20 jährige junge Frau und Witwe ein neues Leben aufbauen muss, ein Leben noch ohne jede Sicherheit, aber doch ein Leben ohne Krieg.

Maria Renard, Schwarz mit ein bißchen Gold. Eine Jugend in Pommern, 353 Seiten, 36,-DM, Donat Verlag Bremen, ISBN 3–931737–40–3

 

Textauszug:

“Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich in unerfreulicher Erinnerung. Mutter bestand darauf, daß ich sofort nach dem Fest mit den Dankesbriefen begann. Sie saß neben mir und sah mir auf die Finger. Zuerst kam der Brief nach Eberswalde. Ich revoltierte innerlich. Wie kann man sich von Herzen für etwas bedanken, das man nicht ausstehen kann? Die Silberlöffel hatte ich jetzt beisammen. Vermutlich würden in den nächsten Jahren die Gabeln und später die Messer folgen. Ich würde nach und nach in der ganzen Pracht ersticken, und einmal jährlich durfte ich sie auspacken, putzen und wieder einpacken.

“Liebe Omutti, liebe Tante Mieze”, schrieb ich.

“Wieso eigentlich ‘Omutti’?”

“Weiß ich nicht”, kam es von meiner Mutter, “so nannten wir meine Großmutter auch.”

“Vielleicht ‘Obermutti’?”

“Rede nicht so viel, schreib!”

“Ich danke euch...”

“‘Euch’ schreibt man groß. Dumme Gans.” Ritsch, ratsch - sie zerriß den Briefbogen und legte einen neuen hin. Ich fing von vorne an.

“Schmier nicht so. Sauber und ordentlich muß der Brief sein, sonst schreibst du ihn zum dritten Mal! “ Ich schrieb ihn zum dritten Mal. Dann war der Vormittag um. Der Weißkohleintopf stimmte mich auch nicht fröhlicher.

Nachmittags saß ich wieder und schrieb. Diesmal an die Rostocker Renards. “Lieber Onkel Erich, liebe Tante Grete...” Ich war entschlossen, einen vorbildlichen Brief zu schreiben. Meine drei Cousinen sollten mich bewundern. Als ich bei meiner Begeisterung ob der herrlichen Kunstgeschichte angelangt war, kleckste der Füllfederhalter. Ich starrte auf den großen blauen Fleck.

Mutter saß mir gegenüber und faßte ebenfalls Briefe ab. Mit einem einfachen altmodischen Federhalter. Sie kleckste nie. Die Feder glitt gleichmäßig über das Papier, Aufstrich dünn, Abstrich dick, eine Zeile wie die andere, bildhaft schön. Eine energische Handschrift.

Sie sah auf, und ich spürte ihre energische Handschrift auf der Wange. “Was mußtest du dir auch diesen neumodischen Füller kaufen”, sagte sie erbost.

“Aber alle in meiner Klasse haben einen Füllfederhalter.”

“Was die anderen haben, geht dich nichts an. Als ich so alt war wie du, hatte ich auch nicht alles, was die anderen Mädchen besaßen. Fang von vorne an.”

Ich schrieb sämtliche Dankes-Briefe mindestens zweimal. Die Qual dauerte eine ganze Woche.” (S. 126-127)

 

 

In einem deutschen Städtchen

Krystyna Ewa Vetulani-Belfoure

Der Titel des Buches spielt auf das deutsche Volklied „In einem Polenstädtchen“ an; Lied und Buch verbindet eine recht romantisch klingende erste Zeile. Doch das, was in Lied und Buch dann erzählt wird, steht für eine alles andere als romantische Realität.

Das hier vorgestellte, gerade im Donat Verlag Bremen erschienene Buch enthält die Erinnerungen eines jungen Mädchens aus Kraków, das zur Zwangsarbeit ins III. Reich verschleppt wurde. Die Erinnerungen an die 4 Jahre, die die junge Polin in dem Harzer Fachwerkstädtchen Nordhausen verbringen muss, beeindrucken durch ihre Ehrlichkeit, Vorurteilsfreiheit und Empfindsamkeit. Grausamkeiten und Demütigungen benennt sie ebenso präzise wie die Erfahrungen menschlicher Solidarität. Mit 16 Jahren hineingeworfen in eine schreckliche Realität, bleibt sie den Wertvorstellungen und Verhaltensnormen treu, die sie in ihrem Elternhaus und auf dem Lyzeum kennen gelernt hat. Ewa arbeitet in einer Kautabakfabrik, dann in der Rüstungsindustrie und schließlich aufgrund ihrer Deutsch- und Französischkenntnisse im Haushalt einer Nordhäuser Familie, die Besitzer eines Sägewerkes ist. Ohne Eltern, auf sich allein gestellt und zumeist nur getröstet von drei gleichaltrigen Freundinnen, lernt sie zu unterscheiden zwischen Menschen, die ihr schaden können und die ihr helfen wollen. Ihr Bericht ist unpathetisch und direkt. Die Naivität, mit der sie der Lager- und Arbeitswelt zuweilen begegnet, erschüttert; um so deutlicher wird, wie gefährdet ihre Existenz immer wieder war. Der Wert des Buches besteht unbedingt auch darin, dass die Autorin auf stereotype Darstellungen verzichtet, die jeden Deutschen und die gesamte deutsche Nordhäuser Umwelt als feindlich und verbrecherisch darstellt. Vielmehr erinnert sie sich auch an die guten deutschen Frauen und Männer, denen sie begegnet ist. „Es waren ihrer nicht viele“, schreibt sie, „doch ohne ihre Hilfe hätten viele von uns das Ende des Krieges und die Freiheit nicht erlebt.“

Krystyna Ewa Vetulani–Belfoure. In einem deutschen Städtchen. Erinnerungen einer polnischen Zwangsarbeiterin 1942-1945, Aus dem Polnischen übersetzt von Antje Jonas, 192 Seiten, 24,80 DM, Donat Verlag Bremen, ISBN 3-931737-62-4

 

Textauszug

“Ankunft in Nordhausen - die Kautabakfabrik Hanewacker

Ein alter Güterzug brachte uns an einem Februarabend des Jahres 1942 in ein kleines Städtchen. Statt “Raus!” schrie man lediglich “aussteigen”. In zwei Gruppen mußten wir mit unserem Gepäck einen schneebedeckten Weg entlang stadtauswärts marschieren. Plötzlich wurde in der weißen Umgebung ein großes schwarzes Gebäude sichtbar. Das Tor zum Gelände öffnete sich, man zählte uns, und wir konnten zum Essen gehen. Im Speisesaal standen lange Tische und Bänke. Es war hell und warm. Endlich sollten wir nach der langen Reise etwas in den Magen bekommen.

Im Saal fiel mir eine Gruppe junger Mädchen auf. Sie trugen weiße Kittel und auf den köpfen gelbe Hauben. Sie schienen sich zum Abmarsch versammelt zu haben. Einige gaben ihr Geschirr in der Küche ab. Man hörte sie miteinander reden, sie verstummten aber sofort, als sie uns bemerkten. Ängstlich starrten sie uns an. Ich wollte zu ihnen gehen, aber ein Wachmann hielt mich zurück. “Verboten!” sagte er. “Es ist nicht erlaubt, mit ihnen zu sprechen: Juden!” Ich sah das anders, wollte von ihnen erfahren, in welcher Fabrik ich war und was man herstellte. Vor allem interessierten mich die Arbeits- und Haftbedingungen. Wurde man geschlagen und mißhandelt oder konnte man hier einigermaßen leben? Der Wachmann ging in die Küche. Ein günstiger Moment, um mit den Mädchen ins Gespräch zu kommen. Schnell und unüberhörbar stellte ich meine Fragen. Keine Reaktion. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Lippen fest aufeinandergepreßt, als ob sie Tränen zurückhalten wollten. Ich sprach sie noch einmal an, lauter und schneller. Eine ältere Frau, die auch Kittel und Haube trug, wurde herbeigeholt. Sie fragte mich auf Polnisch, was ich wolle.

“Warum sprechen sie nicht Polnisch, sie sind doch Jüdinnen.”

“Sie können kein Polnisch.” (S. 9)

 

 

Bronjas Erbe

Beate Rygiert.

Es gibt inzwischen auf dem deutschen Büchermarkt viele Bücher über Polen und Deutschland im 2. Weltkrieg: Dokumentationen, eine Vielzahl von Erinnerungen polnischer und deutscher Überlebender des 2. Weltkrieges, es gibt eine stattliche Anzahl von Übersetzungen polnischer Autoren, die diese Zeit beschreiben.

Das vorliegende Buch scheint einer gesonderten Gattung anzugehören. Dieser Roman trägt zunächst die Züge eines Reiseromans: Ein Vater und seine erwachsene Tochter begeben sich Anfang der 90er Jahre auf eine Reise nach Polen, um lange nicht gesehene und der Tochter noch völlig unbekannte Verwandtschaft zu besuchen. Doch diese Reise ist mehr als eine zuweilen abenteuerliche Fahrt mit dem Wohn-mobil durch polnische Landschaften, verschlafene Dörfer und große Städte, ist mehr als die Begegnung mit Menschen, die sich Zeit für die Ankömmlinge nehmen, die mit ihrer Kultur und Gastfreundschaft, ihrer Religiosität, Sprache und Kultur die beiden Reisenden immer wieder erstaunen

Die Reise-Handlung ist untrennbar mit der eigentlichen „darunter liegenden“ Handlung des Romans verknüpft, ist deren Anlass und dramaturgisches Element, das als Rahmen die gesamte Konstruktion des Romans trägt. Diese „darunter liegende“ Geschichte erzählt die Suche des Vaters Janek Zygler nach einem kleinen Ort an der Weichsel, an den er nur noch undeutliche Erinnerugen besitzt und den er dennoch unbedingt finden muss. Denn: Die Reise dorthin wird zur Vergewisserung einer doppelten Identität des Vaters, von der seine Tochter Ewa nach und nach Kenntnis erhält. Janek Zygler ist das Kind deutschstämmiger Eltern und lebt in Turek, einem kleinen Ort südöstlich von Poznañ. Er spricht Polnisch. Der Einmarsch der Deutschen bedeutet für Janek das abrupte Ende seiner Kindheit. Von einem Tag auf den anderen wird aus Janek ein Johannes, das Kind muss Deutsch lernen und darf nicht mehr mit seinen polnischen Freunden spielen. Ein Riss geht durch den 11jährigen und durch die Familie. Die heißgeliebte Mutter Bronja verlässt ihren Sohn und Mann, geht mit einem brutalen deutschen Zivilbeamten „heim ins Reich“ und nimmt den kleinen Bruder mit. - Was macht einen Menschen zu einem Polen und zu einem Deutschen? Diese Frage kann sich der Junge Johannes nicht beantworten, er kämpft gegen die Verlassenheit in der Welt, er will sterben und läuft als 17jähriger Anwärter der Waffen-SS doch um sein Leben, als die russische Front immer weiter nach Osten vordringt...

Nach 6o Jahren schmerzen die Wunden immer noch. Der inzwischen pensionierte Johannes Zygler begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit; die der Tochter anvertrauten Erinnerungen sollen den Schmerz lindern helfen, sollen einer durch den Krieg zerbrochenen Kindheit und Identität im nachhinein ein Stück Normalität verleihen. In dem Maße, wie der Vater Gewissheiten formulieren kann, verschwimmen für Ewa die Konturen einer bislang festgefügt geglaubten Identität. Ewa wird hineingezogen in die Zeit ihrer Großmutter, sie tritt „Bronjas Erbe“ an.

Die Spannung des Romans entsteht aus dem häufigen Wechsel der Schauplätze. Vergangenheit und die Gegenwart der Reise werden in einzelnen Szenen dargestellt, die in raschem Tempo aufeinanderfolgen.

Das in diesem Jahr erschienene Buch ist Beate Rygierts erster Roman, ein großartiges literarisches Debüt, das sie, man ahnt es, dem Lebensweg ihres Vaters gewidmet hat...

Beate Rygiert. Bronjas Erbe. Roman, 320 Seiten, Claassen Verlag München, ISBN 3-546-00191-5

 

 

Der große Polenprozeß von 1847 in Berlin

Daniela Fuchs

Bereits vor 2 Jahren erschien diese bemerkenswerte Monographie, die allen an polnischer Geschichte interessierten Lesern (und nicht zuletzt Lehrern und Schülern!) hiermit unbedingt empfohlen sei. Der Polenprozess war seinerzeit der größte Prozess, der vor einem preußischen Gericht verhandelt wurde. Außerdem gab er der preußischen Rechtsentwicklung neue Impulse. Die Autorin schreibt: “Die reine aktenmäßige Behandlung der Straftaten wurde durch die Mündlichkeit des Verfahrens und die Öffentlichkeit der Verhandlung ersetzt. Die Richter saßen nun den Angeklagten direkt gegenüber. Die Straftaten, die bisher in objektiven Festestellungen aufgrund fester Regeln beurteilt worden waren, konnten nun unter Berücksichtigung psychologischer Momente sowohl für als auch gegen den Angeklagten verhandelt werden.“ Worum ging es in dem von der Presse lebhaft begleiteten Prozess: Die Zentrale der Polnischen Demokratischen Gesellschaft, der als führender militärischer Fachmann Ludwik Mierosławski angehörte, sowie das dieser Organisation zugehörende Komitee unter Leitung von Karol Libelt hatten in allen drei Teilgebieten einen Aufstand geplant. Am 5. Februar 1846 wurde der gesamte Aufstandsplan sowie die Namen Dutzender Verschwörer der preußischen Polizei verraten. Zwar kam es dennoch u.a. in Krakau, in Galizien und in Stargard zu Unruhen, doch der Aufstand war damit vor dem eigentlichen Ausbruch bereits gescheitert. Über 250 Polen aller Gesellschaftsschichten wurden verhaftet und in Berlin angeklagt.

Die Autorin schildert den Prozessverlauf sehr detailliert, ohne dabei die Vielzahl der dazu recherchierten Dokumente in langen Zitaten dem Leser aufzubürden. Vielmehr

kommen prominente und namenlose Zeitgenossen zu Wort, die den Prozess sehr unterschiedlich bewerten. Abgedruckt ist beispielsweise der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim, die sich für die Schwester des angeklagten Ludwik Mierosławski verwendet, und dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV.

Weitere Kapitel der Monographie widmen sich der Verteidigung der Angeklagten sowie der Befreiung der Aufständischen durch eine dem König abgerungene Begnadigung, der sich ein Triumphzug der Polen durch Berlin anschloss, dem Tausende Berliner begeistert folgten.

Auch die Vorgeschichte des Prozesses wird in die Darstellung mit einbezogen, so dass nicht zuletzt der mit diesem historischen Gebiet nicht vertraute Leser ein überschaubares Gesamtbild der historischen Verläufe des 18. und 19. Jahrhunderts vermittelt bekommt.

Schließlich sei auf das attraktive Layout und Format der 80 Seiten umfangreichen Broschüre hingewiesen. Zahlreiche Abbildungen der Akteure sowie Zeitungsberichte und Landkarten lassen im besten Sinne des Wortes das nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten aufbereitete Geschichtsereignis lebendig werden.

Daniela Fuchs. Der große Polenprozeß von 1847 in Berlin. Schriftenreihe des Vereins „Biographische Forschungen und Sozialgeschichte e.V.“ 1998, Verlagsbuchhandlung Thomas Friedrich Berlin, Tel.040/ 526 97 868 und Fax: 030/ 526 10 61. Die Broschüre kann gegen eine Schutzgebühr von 10,-DM bei der Autorin bestellt werden. Dr. Daniela Fuchs, Tel. 030/ 931 10 90

 

 

 

Rationalismus und Irrationalismus

Matian Dobrosielski

Marian Dobrosielski, Wissenschaftler und Diplomat, ist durch Vortrag und Gespräch den Mitgliedern und Freunden unserer Gesellschaft vertraut. Das hier empfohlene Buch ist ein Sammelband. In ihm sind Früchte des wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens des Autors zusammengetragen, “um den programmatischen Horizont” derer zu erweitern, die sich mit dem Thema der deutsch-polnischen Nachbarschaft befassen (S.7).

Ursprünglich erschienen sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten in wissenschaftlichen und politischen Zeitschriften vornehmlich in der Monatszeitschrift “dziś” (“heute”). Sie konzentrieren sich auf die philosophisch-weltanschaulichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation und auf deren gesellschaftspolitische Ausdrucksformen. Im gedanklichen Wechselwirken mit Karl Popper und Cyprian Norwid behandelt er die großen Ideen von Demokratie, Pluralismus, Toleranz und Bürgergesellschaft sowie Bürgerstaat, Frieden, Abrüstung, Sicherheit und den Anteil gesellschaftlicher Bewegungen an diesen Prozessen. Vor dem Hintergrund und in Verbindung mit der Situation vor allem in Europa, bewegen und prägen die Überlegungen des Autors die Vision einer Welt ohne Waffen und Kriege. Sie ist bei Dobrosielski nicht eine Utopie, sondern ein erstrebens- und erreichbares Ziel, an dem Nicht-Regierungsorganisationen mitzuwirken aufgerufen sind.

Im Spannungsfeld von europäischer und Welt-Politik blendet der polnische Diplomat nicht aus, dass in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg das deutsch-polnische Verhältnis durch die Existenz von zwei deutschen Staaten geprägt worden ist. Auch auf diesem Feld verhindert Dobrosielski die Entstehung neuer “weißer Flecken”, z.B. dadurch, dass deutsch-polnische Beziehungen allein und ausschließlich auf bundesdeutsch-polnische Beziehungen reduziert werden.

Marian Dobrosielski hat zeitlebens den aufrechten Gang bevorzugt, ist allzeit seiner Überzeugung treu geblieben und lebte ein durch und durch polnisches und damit zugleich europäisches Leben. Der 1923 in Tschernowitz Geborene entzog sich 1939 dem Zugriff durch die deutschen und sowjetischen Eroberer und floh über Rumänien nach Frankreich, um dort als Freiwilliger in die Polnischen Streitkräfte einzutreten. Er nahm am antifaschistischen Kampf in Westeuropa teil und wurde mit seiner 2. Schützen-Division in der Schweiz interniert. Hier erwarb er die Hochschulreife und studierte an der Züricher Universität Philosophie, hier promovierte er 1948.

In Bern begann seine Karriere als Diplomat an der Botschaft der Volksrepublik Polens. Sein Weg führte ihn in den Folgejahren auf den Botschafterposten in London und als Unterstaatssekretär ins Warschauer Außenministerium. Dobrosielski habilitierte sich und nahm auch im wissenschaftlichen Leben seines Landes wichtige Aufgaben wahr, so als Direktor des Instituts für Philosophie an der Warschauer Universität und auch als Direktor des Polnischen Instituts für Internationale Beziehungen (PIZM). Seine Arbeiten bezeugen seine wissenschaftliche Leistungs- und seine politische Gestaltungskraft.

Dr. Gerd Kaiser

Matian Dobrosielski: Racjonalizm i Irra-cjonalizm. 24 Szkizze Filozoficzno-Poli-tyczne. Warszawa. 1999. 235 S.

 

 

 

Polen-Information

seit 1970 die etwas andere Dokumentation

In drei Jahrzehnten wurden Informationsquellen über Polen und das deutsch-polnische Verhältnis ausgewertet, die in anderen Dokumentationen nicht immer zu finden sind. Entscheidend ist oft, unter welchen Gesichtspunkten eine Quelle interessant erscheint oder nicht. Das betrifft sowohl die Zeit vor, als auch nach der sogenannten Wende in Polen. Diese umfangreiche Dokumentation, nach moderner Datentechnik strukturiert, ist demnächst - so die Ankündigung des Herausgebers Udo Kühn - auch über das Internet erreichbar. Diese Datenbank zu Polen ist auch deshalb interessant, weil sie sich nicht mit der bloßen Notierung von Artikeln, Nachrichten, Dokumenten usw. begnügt, sondern auch eine kurze und prägnante Einschätzung und Bewertung vornimmt.

Bestellung: Udo Kühn, Am Diebsberg 6, 64711 Erbach-Bullau