Auszug aus dem Vortrag von Bundesminister a.D. Prof. Egon Bahr anlässlich des 30. Jahrestages des Warschauer Vertrages am 5. Dezember 2000 in Berlin
(...) Die Geburtsstunde
der Ostpolitik ist mit dem Bau der Mauer zu datieren. (...) Die Westberliner
fühlten sich als Objekt, dem übergeordneten und verständlichen Willen der
Sieger unterworfen, dass die Zementierung des Status quo, die Teilung der
Stadt, (...) hinzunehmen sei; im Interesse des Friedens. Im Interesse des
Friedens beugten sich die drei Westmächte, als sie Weisungen des Innenministers
eines gar nicht vorhandenen Staates befolgten, der ihnen vorschrieb, dass sie
nur noch einen Übergang nach Ostberlin benutzen durften; im Interesse des
Friedens beugte sich erst recht der Senat, als er der Weisung der drei
Schutzmächte folgte und die eigene Polizei zum Schutz der Mauer einsetzte.
(...) Es musste also eine ganze Menge an eigentlich Unzumutbarem zusammenkommen.
(...) Aber selbst wirklich kleine Schritte statt großer Worte konnten nur durch
Verhandlungen mit der Regierung der DDR gegangen werden, die noch gar nicht so
genannt werden durfte. Das war der erste Tabubruch (...).
Der zweite Tabubruch
ergab sich auf dem Wege des Nachdenkens über die eigenen Interessen und
Möglichkeiten. (...) Als der Planungsstab feststellte, dass keinerlei
Überlegungen oder Vorstellungen zur deutschen Einheit existierten, begann er
seine Arbeit mit dieser Zielrichtung, als ob wir schon souverän wären. Und das
führte dann schnell zum dritten Tabubruch: Es wäre nicht nur falsch, sondern,
was schlimmer ist, dumm, eine Position behaupten zu wollen, wonach erst die
deutsche Einheit kommen müsse und dann die Entspannung folgen dürfe, dass es
sicheren Frieden nicht ohne Einheit gäbe.
(...)
Wir waren uns im
Planungsstab darüber im Klaren, dass die Sieger die Deutschen nicht in die
Freiheit ihrer Einheit entlassen würden, wenn nicht alle Nachbarn sicher vor
Deutschland wären. Die europäische Sicherheit wurde denn auch für alle Regierungen
seit 1969 das vorrangige Ziel (...). Die Geschichte verlief anders. Wir haben
die Einheit, aber über ein stabiles System der Sicherheit für ganz Europa wird
noch immer gestritten. Es ist immer noch offen, ob der Weg dorthin über die
Ausweitung der NATO führen soll oder die Ausschöpfung der NATO-Russland-Akte zu
einem System der gesamteuropäischen Sicherheit verfestigt werden soll. Insoweit
ist die alte Ostpolitik unvollendet.
Die andere Erkenntnis
des Planungsstabes führte zu einem weiteren Tabubruch der bis dahin gültigen
Außenpolitik. Niemand wird Deutschland in die Freiheit seiner Einheit
entlassen, wenn danach territoriale Ansprüche zu erwarten sind. (..) Die
Anerkennung der Oder-Neisse-Linie stellte den ersten vorbereitenden Schritt zur
Einheit dar.
(...) 1970 war den
Verantwortlichen auf deutscher Seite bewusst, dass unseren Gesprächspartnern
die schreckliche Tradition gegenwärtig sein musste, wie oft sich Deutsche und
Russen zu Lasten Polens verständigt haben. Aber das durften beide Seiten im
Dezember vor 30 Jahren nicht einmal zu erkennen geben, obwohl die Bonner
gewissermaßen aus Moskau kamen und dort zusammen mit den sowjetischen Partnern
die Struktur des Warschauer Vertrages vereinbart hatten. (...)
Bei den Sondierungen
im Frühjahr 1970, die im August zum Moskauer Vertrag führten, stellte sich die
Frage der Grenzen schnell als ein Kernproblem heraus. Wenn wir uns nicht
darüber verständigten, könnten wir uns über nichts verständigen, erklärte der
sowjetische Außenminister. Die Grenzen müssten „unveränderbar“, „unberührbar“,
„unwandelbar“, „unzerbrechbar“ sein. Das war die Skala der angebotenen
Begriffe. Unsere Position stellte das Prinzip der „Unverletzlichkeit“
gegenüber. In diesen Vokabeln spiegelte sich der zunächst unüberwindbare
Interessengegensatz zwischen Zementierung des Status quo und Überwindung des
Status quo. Die Lösung wurde durch das übergeordnete Gesetz des Gewaltverzichts
er-reicht. Alle Grenzen, gleichgültig wie, wann und durch wen sie zustande
gekommen sind, müssen dem Gewaltverzicht unterliegen, sind unverletzlich, aber
können durch friedliche Übereinkunft verändert oder aufgehoben werden. (...)
Dieses Grundgesetz
des Gewaltverzichts haben die Republiken anerkannt, die sich nach dem Ende der
Sowjetunion gebildet haben. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es vergessen
wurde oder unbeachtet blieb, nachdem Jugoslawien zerbrach. Von Stabilität kann
jedenfalls nicht gesprochen werden, solange sowohl in Bosnien-Herzegowina wie
im Kosovo fremde Truppen stationiert sind, um den Ausbruch neuer Gewalt zu
verhindern. (...) Ein Gebiet mit umstrittenen oder unsicheren Grenzen kann
nicht stabil sein. (...) Neben der Unverletzlichkeit der Grenzen ist der
Gewaltverzicht das zweite Element der alten Ostpolitik, das Bedeutung für die
Gegenwart hat. Gewaltverzicht widerspricht dem Wertegefühl der USA. 1970 und in
Helsinki haben es die Amerikaner akzeptiert in einer gewissen Nachsichtigkeit,
dass es ja nichts schaden könne, solange die militärische Stärke der USA
dahintersteht und die Doktrin der Abschreckung garantiert. Meine kürzliche
Frage an ein Mitglied des Planungsstabes des State Department, ob Amerika heute
noch ein Gewaltverzichtabkommen unterschreiben würde, wurde mit der fröhlichen
Überzeugung beantwortet: „Natürlich nicht“. Man kann sich schwer vorstellen,
dass Henry Kissinger zu der Formulierung der Außenministerin Madeleine Albright
gefunden hätte: „Wozu hat man die beste Armee der Welt, wenn man sie nicht
benutzen darf?“. Aber damals gab es noch die Sowjet-Union. (...)
Unbestreitbar ist
Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg; aber unbestreitbar ist es
unmöglich, im Krieg die Menschenrechte, die solidarische Gesellschaft und die
Umwelt zu schützen.
(...)
(stark von der
Redaktion gekürzt)