In dieser Ausgabe setzen wir die in der Ausgabe 2/2000 begonnene Berichterstattung über den internationalen Workshop zum Jahrestag des Görlitzer Vertrages fort. Wir laden zur Diskussion ein.

50 Jahre Görlitzer Abkommen – Erfahrungen deutsch-polnischer Zusammenarbeit

 

Die Haltung der polnischen Gesellschaft zum Görlitzer Vertrag

Auszug aus dem Referat von Prof. Dr. Marek Ordylowski

Ausgehend von der prinzipiellen Bedeutung der Regelung der Grenzfrage zwischen Polen und Deutschland bzw. der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Deutschland als Grundlage für die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigt sich Professor Ordylowski in diesem Zusammenhang mit den innenpolitischen Auseinandersetzungen in den ersten Nachkriegsjahren und den Veränderungen in der Haltung der Polen zu den im Lande verbliebenen Deutschen. Er führte u.a. aus:

„Aus verständlichen Gründen waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Polen besonders empfindlich, wenn es um deutsche Angelegenheiten ging. Die Furcht vor einer Wiedergeburt des Hitlerfaschismus wurde durch die damalige Partei- und Staatsführung ständig geschürt. Sie nutzten sie für ihre eigenen politischen Auseinandersetzungen, sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. So wurden die politischen Gegner, vor allem die Polnische Bauernpartei Stanis³aw Miko³ajczyks und die politische Emigration in London während des Volksentscheids 1946 und der Wahlen zum gesetzgebenden Sejm ständig beschuldigt, danach zu streben, die West- und Nordgebiete den Deutschen zurückgeben zu wollen. Der Gewinn dieser Gebiete wurde dagegen als Erfolg der polnischen Linken im Bündnis mit der Sowjetunion herausgestellt. Der Versuch, einen deutschen Staat in den westlichen Besatzungszonen aufzubauen, wurde in der polnischen Presse als ein Unternehmen dargestellt, den faschistischen Staat wiederherzustellen.

Die genannten Befürchtungen waren für die polnischen Behörden einer der Gründe, die deutsche Bevölkerung schnell aus Polen auszusiedeln. Sie hatten auch zur Folge, dass nicht selten polnisch-deutsche Ehen in der polnischen Presse verurteilt wurden. Gegen die Aussiedlung deutscher Spezialisten, die in Betrieben und im Bergbau arbeiteten, protestierten die Betriebsleitungen energisch, da sie als qualifizierte Facharbeiter gebraucht wurden. Den Betriebsleitungen gelang es, diese Facharbeiter mit ihren Familien zu halten.

Hinzuzufügen ist auch, dass eine zahlreiche Gruppe Deutscher in den von Russen besetzten Gebieten festgehalten wurde. Sie arbeiteten dort ohne Kontrolle polnischer Behörden in der Landwirtschaft und in den bestehenden Industriebetrieben.

Die Deutschen wurden gewöhnlich schlechter bezahlt als die polnischen Arbeiter. Sie hatten keinen Anspruch auf eigene Schulen und Organisationen. Es war ihnen z.B. auch verboten, polnischen Gewerkschaften beizutreten.

Das deutsche Problem wurde auch durch die internationale Propaganda genutzt. Wiederholt wurde unterstrichen, dass nur die Sowjetunion und die von ihr abhängigen Länder die Oder-Neiße-Grenze anerkennen. Die anderen Staaten, besonders die Westlichen, stellen sie nicht nur in Frage, sondern unterstützen auch den Gedanken einer möglichen Grenzrevision. Diese Einflussnahme wirkte sich negativ auf die polnische Gesellschaft aus, insbesondere auf die Bewohner der West- und Nordgebiete. Das führte zu einem Anstieg der Spannungen, Ängste und antideutschen Einstellungen. Die Lage dieser Bevölkerung unterschied sich von der in anderen Landesteilen. Handelte es sich hier doch um Aussiedler aus den Ostgebieten der Republik, die nach dem Krieg an die Sowjetunion angeschlossen wurden. Ihre antisowjetische Einstellung war mindestens genau so stark wie ihre antideutsche. Oftmals hatten sie mehr Mitgefühl mit den ausgesiedelten Deutschen, denn sie hatten selbst eine ähnliche Tragödie erlebt.

Die Situation änderte sich durch die Gründung der DDR, einem Staat ähnlich der VRP, der sich auf die gleichen gesellschaftlichen und ideologischen Grundlagen stützte. Der Ton der antideutschen Propaganda wurde milder. In der Presse erschienen immer öfter Artikel über das Leben in der DDR. Die Löhne der Deutschen, die in polnischen Betrieben arbeiteten, wurden dem Niveau der anderen Arbeiter angeglichen. Sie konnten am Wettbewerb teilnehmen. Den Bestarbeitern wurde die gleiche Prämie oder Belohnung zugesichert.

Hinzufügen muss man jedoch auch, dass die Gründung der DDR zu einer Welle des Verzichts auf die schon erworbene polnische Staatsbürgerschaft führte, verbunden mit Anträgen, die Ausreise in die DDR zu erhalten. Im Zeitraum von März 1950 bis April 1951 reisten im Rahmen der sog. Aktion „Link“ Deutsche vor allem in die DDR, aber auch nach Westdeutschland aus. Interessant ist, dass die zuständigen Stellen der DDR darum baten, die Menschen, die in die DDR ausreisen wollten, von denjenigen zu separieren, die aus politischen Gründen in die BRD übersiedeln wollten.

Eine wesentliche Veränderung, sowohl im Verhältnis zu den in Polen lebenden Deutschen, als auch in der Haltung der Polen zum deutschen Problem brachte die Unterzeichnung des Görlitzer Abkommens. Die Unterzeichnung des in der Geschichte beider Völker bedeutsamen Dokuments wurde gleichzeitig als große propagandistische Aktion vorbereitet.“ [Prof. Dr. Marek Ordylowski geht ausführlich auf die umfassende Berichterstattung und Kommentierung dieses Ereignisses in Polen ein und verweist auf charakteristische Artikel, wie „Die Grenze an Oder und Neiße – eine Grenze des Friedens und der ewigen Freundschaft“, „Der Vertrag stärkt den Frieden“ oder „Gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk – eine notwendige Voraussetzung für den Frieden in Europa“. Zitiert wird u.a. aus einem Gespräch Otto Grotewohls mit Journalisten – „Wir wollen den Frieden und Eure Freundschaft... Es ist nötig, dass wir uns öfter treffen, damit wir uns besser kennen lernen, damit die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern fruchtbar gestaltet werden kann.“ Weiter fährt Prof. Dr. Marek Ordylowski fort]:

„Das Görlitzer Abkommen wurde auch sehr wohlwollend von der polnischen Emigration aufgenommen. Dieses Abkommen, so stellte sie fest, sanktioniert die polnische Westgrenze. Das führte zu Spannungen in den amerikanisch-westdeutschen Beziehungen. Denn die westdeutsche Führung erkannte das Abkommen nicht an. Ihrer Meinung nach hatte die DDR-Regierung nicht das Recht, ein solches Abkommen zu unterzeichnen, das gesamtdeutschen Charakter trug. Obwohl die Amerikaner die westdeutschen Gebietsforderungen nicht unterstützten, bemühten sie sich in dieser Frage um Zurückhaltung. Komplikationen setzten ein, als der Radiosender „Freies Europa“ aus München sendete. München war damals das Zentrum der Sudetendeutschen. Entsprechend der deutsch-amerikanischen Vereinbarung besaß die BRD das Recht, die Einstellung des Radiosenders zu fordern, wenn seine Programme nicht mit der westdeutschen Staatspolitik übereinstimmten. Unter Berücksichtigung dessen forderten die Amerikaner von der polnischen Sendeleitung, dass sie die Hörer in Polen und in der Emigration davon überzeugen sollte, dass die Grenze an Oder und Neiße eine sowjetische und nicht eine polnische darstellt. Dagegen protestierte der Direktor der polnischen Abteilung Jan Nowak-Jeziorański. In seinen Erinnerungen stellte er später fest: „Solche Ansichten konnte ein Radiosender nicht senden, der sich „Stimme freies Polen“ nannte... Der Erhalt der Westgrenze und das Erringen der Unabhängigkeit waren gleichrangige Ziele...“. Seinen Arbeitgebern eröffnete er damals, dass eine Mannschaft, die eine andere politische Linie vertreten würde, ihren Einfluss auf die Meinung in Polen verliere. Eine große Bedeutung hatte hierbei das Sicherheitsbedürfnis der Menschen, die sich in den Westgebieten angesiedelt hatten. Debatten dazu im Bundestag, im bayrischen Parlament und eine Intervention beim amerikanischen Generalkonsul in München änderten nichts an der Einstellung des Senders zum Abkommen.

Es ist interessant, dass das Görlitzer Abkommen einen wesentlichen Einfluss auf die Einstellung der Gegner einer neuen Gesellschaftsordnung in Polen hatte, denn das Bewusstsein, dass die Oder-Neiße-Grenze im Westen in Frage gestellt wurde, hielt viele Antikommunisten von Aktivitäten gegen das System ab. Für diese Menschen war Stabilität im täglichen Leben das Wichtigste.

Wenig bekannt ist die Tatsache, dass sich nach der Unterzeichnung des Görlitzer Abkommens die Lage der in Polen wohnenden deutschen Bevölkerung verbesserte. Noch im Juli 1950 wurde ein Gesetz verabschiedet, das gleiche Rechte für alle Bürger verkündete. Auf dieser Grundlage entstanden Schulen, wo in Deutsch unterrichtet wurde. Die ersten deutschen Schulen begannen schon am 1. September mit dem Unterricht. In den Spitzenzeiten 1953/54 gab es 55, davon 2 Mittelschulen. Mit der Ausreise der Deutschen verringerte sich ihre Zahl. Die letzte deutsche Schule wurde 1963, als die Kinder fehlten, geschlossen. Die Löhne deutscher Arbeiter wurden denen anderer Bürger angeglichen. Für Arbeiter in der Industrie bedeutete das, ein Recht auf Prämien und auf Zuteilung von Mangelwaren, und für die in den staatlichen Landwirtschaftsbetrieben auf Zuteilung von individuellem Land. Das hatte eine große ökonomische Bedeutung. Außerdem konnten sie den Gewerkschaften, aber auch gesellschaftlichen und politischen Organisationen angehören. Bereits im August 1950 entstanden in neun Städten erste künstlerische Laienensembles. Des weiteren wurde eine deutschsprachige Presse geschaffen. Am 11.6.1951 erschien zuerst in Wa³brzych, ab Nummer 11 auch in Wroc³aw die Wochenzeitung „Arbeiterstimme“, ab Juli 1955 wurde sie Tageszeitung, danach war sie von Mai bis Dezember 1958 wieder Wochenzeitung“.

[Nach Darstellung der Entwicklung der Zusammenarbeit schließt Prof. Dr. Marek Ordylowski]: „Die Effekte der Verständigung trugen Früchte, nicht unbedingt rein politische. Die Bedeutung des Görlitzer Abkommens war im Bewusstsein der durchschnittlichen Polen fest verankert. Es war nicht nur Lehrbuchwissen, aus der Schule nach Hause getragen, oder Propaganda, sondern die Überzeugung, dass das Abkommen den Bewohnern auf beiden Seiten der Grenze ein ruhiges und sicheres Leben garantiert. Es gab ihnen ein Sicherheitsgefühl für sich und ihre Kinder. Es sicherte den in beiden Ländern lebenden Menschen Ruhe und Stabilität.

Zwanzig Jahre nach dem Görlitzer Abkommen unterzeichneten die Regierungen Polens und der Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1970 ein Abkommen über die Normalisierung der Beziehungen. Eine Etappe in den polnisch-deutschen Beziehungen wurde beendet, die in Görlitz ihren Anfang nahm.“

 

Die politische Auseinandersetzung 1945 – 1950 in Deutschland um die Grenze

Auszug aus dem Referat von Eduard van der Wall

[Nach dem II. Weltkrieg hat es Veränderungen bei der Bevölkerung in den Gebieten östlich von Oder und Lausitzer Neiße gegeben:]

„Die deutsche Wohnbevölkerung in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und die deutsche Minderheit in Polen umfassten vor dem II. Weltkrieg etwa 11 Millionen Personen, davon gehörten etwa 1 Million zur deutschen Minderheit in Polen (das Königsberger Gebiet nicht mitgerechnet). Durch den „Bevölkerungstransfer“ 1945-50 haben gut 8 Millionen Menschen diese Gebiete verlassen, etwa 1,2 Millionen waren zu diesem Zeitpunkt in ihrer Heimat verblieben, bei etwa 1,8 Millionen war das Schicksal ungeklärt (darin sind auch Flucht- und Vertreibungsverluste enthalten). In diesen Zahlenangaben sind die Deutschen aus der Tschechoslowakei und Ungarn nicht enthalten.

Die Richtlinien der Kommandanturdienstverwaltungen der SMAD vom 4.10.1945 zur Erfüllung des Potsdamer Abkommens nannten mit 4,3 Millionen Umsiedlern für das sowjetische Besatzungsgebiet realistische Zahlen für die bis dahin in die SBZ umgesiedelten Menschen. Das war ein Viertel der Bevölkerung. Wenn man diese Zahlen vergleicht, war diese Zahl doppelt so hoch wie in den westlichen Besatzungszonen. Ende Oktober 1946 wurden in den vier Besatzungszonen über 10 Millionen Flüchtlinge gezählt, wobei die meisten Flüchtlinge auf die SBZ entfielen:

Britische Zone: Bevölkerungszuwachs von 3,67 Millionen (18%) gegenüber 19,8 Millionen Einwohnern 1939

Amerikanische Zone: Bevölkerungszuwachs von 3,25 Millionen

Französische Zone: Nahm Flüchtlinge nur widerwillig und erst später auf; bei einer Volkszählung im September 1950 hatte sich die Zahl der Einwohner um etwa 2 Millionen erhöht

Sowjetische Zone: Der Bevölkerungszuwachs bis zum 31.12.46  betrug  4.013.673 Personen, bis 1950 weitere 300.000 (insgesamt etwa 25% der Bevölkerung).

Die Oder-Neiße-Grenze - umstritten auch im Osten Deutschlands

Auf einer Kundgebung am 14.9.1945 analysierte Otto Grotewohl u.a. die Lage und die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz. Einleitend stellte er fest, dass „diese Beschlüsse dem deutschen Volk die Rechnung für die von Hitler verschuldete Verwüstung vorlegten“. Dann wies er auf das Elend der Flüchtlinge hin, deren Ausweisung aus den östlichen Gebieten sich nicht in den von der Potsdamer Konferenz beschlossenen humanen Modalitäten vollzogen habe und die nun in ein amputiertes Staatsgebiet eingegliedert werden mussten. Dann berührte er das Problem der Kriegsgefangenen und betonte dabei, dass „gerade unter diesen sich die erbittertsten Hitlergegner befunden hätten, die sich voll Vertrauen auf die Ritterlichkeit der Vereinten Nationen gefangen nehmen ließen“. Diese Rede, die im Zentralorgan der SPD „Das Volk“ erscheinen sollte, gab Anlass zu Differenzen mit sowjetischen Zensuroffizieren. Nach einer längeren Unterredung mit Oberst Tulpanow wurden jene Ausführungen gestrichen, in denen Grotewohl zu den Fragen der Grenzziehung, des Flüchtlingselends und der Kriegsgefangenen Stellung genommen hatte.

Der Jahrestag der Novemberrevolution wurde 1946 feierlich mit Kundgebungen begangen, so von der SPD am 11.November. Nachdem Grotewohl auf die Entwicklung, die zu Hitler und dem totalen Zusammenbruch geführt hatte, eingegangen war, sprach er wieder das Thema der Ostgrenze und der Flüchtlinge an: „Die Demokratie wird in Deutschland nur dann lebensfähig sein, wenn das deutsche Volk den Lebensraum behält, den es seiner Größe nach zu beanspruchen hat. In einem um ein Drittel verkleinertem Haus kann ein 65 Millionen Volk nicht leben. Die Grenze kann daher auch nicht die Oder-Neiße-Grenze sein. Um ein so großes Volk zu ernähren, benötigt man einen ausreichenden Landbesitz oder eine Industriekapazität, die uns in die Lage versetzt, durch Export unserer Erzeugnisse und den Import von Lebensmitteln die Ernährung sicherzustellen“. Am nächsten Tag wurde Grotewohl‘s Mitarbeiter Gniffke zu Tulpanow zitiert und belehrt.

Gleich nach dem Vereinigungsparteitag von KPD und SED im April 1946 wurde eine Stellungnahme des stellvertretenden SED-Vorsitzenden Max Fechner zur neuen Ostgrenze veröffentlicht: „Es ist allgemein bekannt, dass die in Potsdam gezogene Linie im Osten noch nicht endgültig ist. Die endgültige Festlegung wird durch den Friedensvertrag erfolgen. Ich habe mit dieser Feststellung nichts Neues gesagt“.

Auch die SED stellte anfangs die Grenzziehung in Frage

Waldemar Schmidt, Mitglied des Berliner Landessekretariates der SED, begründete bei einer Sitzung des Parteivorstandes in dieser Zeit den mangelnden Rückhalt der Partei in der Bevölkerung damit, „weil wir es peinlich vermeiden, an den Dingen im Osten auch nur zu rühren“. Auf einer Funktionärskonferenz am 12. Juli 1946 erklärte Fred Oelßner als es um die Argumentation bei der Grenzfrage ging: „Die neuen Ostgrenzen Deutschlands seien nur festgelegt worden, weil sie für die Sicherheit der Sowjetunion unerlässlich seien“. Ebenfalls im Juli betonte Grotewohl, „dass die Grenzregelung im Osten die SED ebenso berühre, wie die im Westen“ (Saargebiet).

Die SED war durch die vielen Eingaben und Informationen sehr gut über die Stimmung bei den Umsiedlern informiert. Vertreter von Flüchtlingsgruppen, auch Parteimitglieder sandten ihre Forderungen mit dem Wunsch nach Rückkehr in ihre Heimat an die Parteiführung und erzeugten damit einen Handlungszwang.

Auf einer Beratung des Zentralsekretariats der SED am 9. August 1946 wurde zu dieser Frage festgestellt, dass die SED mit dieser Grenzziehung nicht einverstanden war. Die Ausführungen begannen mit der These, dass die von den drei Siegermächten vereinbarte „Übertragung der Verwaltung deutscher Gebiete bis zur Friedensregelung an Polen“ keine Gebietsabtrennung bedeute. In einer zweiten These wurde die Hoffnung der SED zum Ausdruck gebracht, dass “aus dem neu zu schaffenden Geist des Friedens und der Demokratie eine Verständigung über die Ostgrenze erfolgen wird. Sie sei gewiss, dass sie mit ihrer politischen Arbeit für die Sicherung der antifaschistisch-demokratischen Entwicklung in Deutschland auch zu einer Lösung der Ostgrenzenfrage im Sinne der Lebensinteressen unseres Volkes beiträgt“. Es wurde die Erwartung ausgesprochen, dass die alliierten Mächte bei der endgültigen Festsetzung der deutschen Ostgrenze eine weitsichtige Politik verfolgen. Pieck sprach die Hoffnung aus, dass auf der bevorstehenden Friedenskonferenz gewisse Korrekturen in der Ostgrenzenfrage gemacht werden: „Mit dieser Stellungnahme soll zum Ausdruck kommen, dass wir diese Frage noch nicht als völlig abgeschlossen ansehen, sondern der Meinung sind, dass das deutsche Volk dazu beitragen soll, einen Teil dieses Gebietes wieder zu erhalten. Diese Position haben wir nicht gegen den Willen der Vertreter der Sowjetunion bezogen“.

Die Erklärung Molotows am 16. September 1946: „die Grenzfrage im Osten könne niemanden erschüttern. Schon die geschaffenen Tatsachen zeugten davon, dass dies schon jetzt einfach unmöglich wäre. Die Umsiedlung sei schließlich kein Experiment gewesen“, löste in der SBZ heftige Diskussionen aus und wurde missbilligt. Sie wurde erst zwei Tage später veröffentlicht. Wilhelm Pieck meinte dazu auf einer Sitzung des Zentralsekretariates am 18. September 1946, „die Stellungnahme Molotows sei eine Angelegenheit der Sowjetregierung. Angelegenheit der SED sei es hingegen, die Interessen des deutschen Volkes wahrzunehmen“.

Am 1. Oktober 1946 erklärte Grotewohl, es ist „unsere Pflicht, die uns gegebene Möglichkeit mit Umsicht und Sachlichkeit bis zum Äußersten auszunutzen. Die Stellungnahme der SED sei ja erst vor kurzem erfolgt. Insgesamt trete die SED für vernünftige Grenzregelungen ein“. Nachdem im Oktoberheft der „Einheit“ dazu ausgeführt wurde – „aus verständlichen Gründen kann die SED im gegenwärtigen Moment keinen Erfolg von der Besprechung der Ostfrage in der Presse und in Versammlungen versprechen”, erschien am 18. Oktober ein Leitartikel in der „Täglichen Rundschau“, in dem deutsche Politiker gewarnt wurden, dass sie nicht berufen sein werden, die Fragen der deutschen Grenzen und der deutschen Gebiete zu entscheiden“.

Nach der Rückkehr einer SED-Delegation bestehend aus Pieck, Grotewohl, Ulbricht, und Fechner aus Moskau, wo sie Gespräche mit Stalin, Molotow, Berija, Shdanow und Suslow führten, berichtete Grotewohl über die Ergebnisse Stalin zitierend: „In der Frage der Einheit Deutschlands müssen wir schrittweise weiter kommen. Die SED ist eine deutsche Partei. Wir müssen sie unterstützen, denn sie muss den Kampf um die Gestaltung Deutschlands von Innen her führen. Die SED muss sich mit der KP in den Westzonen vereinigen. Deutschland braucht seine Einheit und seinen Friedensvertrag. Erst dann ist der Kampf um einen dauerhaften Frieden gewonnen. Darauf kommt es uns entscheidend an. Und darum müssen wir länger in Deutschland bleiben, als uns selbst lieb ist. Genosse Grotewohl hat die Frage der Grenzziehung angeschnitten. Was beispielsweise die Ostgrenze angeht, so kann die SED als eine deutsche Partei selbstverständlich einen anderen Standpunkt einnehmen als wir oder die Polen. Die SED braucht in der nationalen Frage den anderen Parteien keinen Agitationsgrund gegen sich zu geben“. Mit diesem Besuch schien die Unabhängigkeit der SED gesichert zu sein. Die SED trat selbstbewusst für die deutsche Einheit ein, auch für eine Revision der Ostgrenze. Demgegenüber bestand damals bei den westlichen Alliierten der Plan zur Zerstückelung Deutschlands.

Langsamer Wandel in der Haltung zur Grenzfrage

Die Position zur Ostgrenze wurde allmählich - ohne einen Parteibeschluss - verändert. Nunmehr galt die Forderung zu einer Revision der Grenze als die Position von reaktionären Kräften aus dem Westen. Diese Neuinterpretation finden wir in einem Artikel von Paul Merker, wo er vor „unverantwortlichen Elementen, die die Umsiedlung zur nationalistischen Volksverhetzung missbrauchen“, warnte.

In der nachfolgenden Zeit erschienen in den Presseorganen in der SBZ immer mehr Beiträge über Polen, sowohl polnische Stellungnahmen zur Grenzziehung, wie auch weitere Informationen. Diese Berichterstattung deutete schon auf eine Revision in dieser Frage hin. Damit änderte sich die Grundhaltung allmählich, wobei zu berücksichtigen ist, dass es höchste Zeit war, das getrübte Verhältnis zu Polen zu verbessern. Dies wurde begünstigt durch den Wandel in Polen. Eine erste öffentliche Anerkennung der Ostgrenze erfolgte im Jahr 1948, als die Sowjetunion auf die Blockbildung der volksdemokratischen Staaten drang. Es sollte nunmehr ein besseres gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Polen aufgebaut werden. Dafür musste man auch die Bevölkerung der SBZ gewinnen.

Anfang 1948 bereitete Grotewohl eine Veränderung der bisherigen SED-Politik vor. Er betonte dabei aber noch einmal: „Nicht wir haben die Grenzveränderung herbeigeführt. Wir haben sie daher auch nicht zu verantworten“. Eine erste offizielle Anerkennung der Grenzziehung sprach Grotewohl auf dem 2. Deutschen Volkskongress am 17. März 1948 aus, und wies dabei „die Schuld für die Grenzziehung jenen zu, die das deutsche Volk zweimal in einen Weltkrieg hineingehetzt haben“. Dabei ging er auch auf das neue Verhältnis zu Polen ein: „Durch die Schaffung eines freundschaftlichen Verhältnisses mit dem polnischen Nachbarn könne aber auch die Möglichkeit wachsen, die Erträge und Erzeugnisse der unter die Verwaltung Polens gestellten Gebiete für die Verbesserung der Lebensverhältnisse auch dem deutschen Volke nutzbar zu machen“. Nunmehr wurde also eine veränderte Position hinsichtlich der Grenzfrage mit einer fruchtbaren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem östlichen Nachbarn verknüpft.

Ohne eine Anerkennung der polnischen Westgrenze war eine Annäherung an Polen und ein gutnachbarschaftliches Verhältnis nicht möglich. Die spürbaren Veränderungen in der sowjetische Deutschlandpolitik machten zudem eine eindeutigere Kursbestimmung in der Haltung zur Oder-Neiße-Grenze erforderlich. Die Zeit des gewissen Spielraumes war vorbei. Bei ihrem Besuch in der Sowjetunion im Januar/Februar 1948 wurde der SED Delegation mitgeteilt, dass für sie die Regelung der Ostgrenze endgültig sei. Pieck notierte am 31. Januar 1948 unzweideutig: „Die Ostgrenze infrage stellen, heißt auch andere Grenzen infrage stellen – heißt Krieg“. Die zunehmenden alliierten Kontroversen führten dann endgültig zu einem Kurswechsel. Auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1948 hatte Molotow den sowjetischen Standpunkt bekräftigt, dass der Beschluss über die Oder-Neiße-Linie endgültig sei.

Auf einer Kundgebung mit Umsiedlern im Sommer 1949 in Berlin rief Wilhelm Pieck diese dazu auf, „sie sollen nicht dem an ihnen versuchten Massenbetrug über die Rückkehr in die alte Heimat zum Opfer fallen, sondern sie müssen mit der Tatsache rechnen, dass dies nicht mehr der Fall sein wird“.

Die Überzeugungsarbeit für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Grenze verlief jedoch – trotz des Abkommens von Zgorzelec – mühsam. Erst die Zeit konnte die Wunden heilen.“

 

Auszüge aus der Diskussion und ausgewählten Beiträgen

Peter Florin

„Als Leiter der Politischen Hauptabteilung des Außenministeriums der DDR war ich bei der Unterzeichnung des Abkommens von Zgorzelec anwesend. Wir waren uns der geschichtlichen Bedeutung dieser Stunde bewusst. Unterzeichnet wurde ein Abkommen zur Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze. Man ging davon aus, dass die Grenze an Oder und Neiße auf der Potsdamer Konferenz festgelegt worden war und seit geraumer Zeit tatsächlich bestand. Bei der Markierung dieser Grenze ist es zu einigen geringfügigen Veränderungen gekommen, so z.B. auf Usedom. Die Brunnen zur Wasserversorgung der nunmehr polnischen Stadt Świnoujście wurden polnisches Territorium.

Die Vertreter der DDR haben die Verantwortung für die Entstehung der Oder-Neiße-Grenze stets abgelehnt. Sie war eine Folge der imperialistischen Politik Deutschlands gegenüber Polen. Nach der Entstehung der DDR wurde von der Staatsführung entschieden, alles zu tun, um ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk herzustellen. Die entscheidende Voraussetzung für freundschaftliche Beziehungen war und ist die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.

Nicht alle Bürger der DDR haben das Abkommen von Zgorzelec begrüßt. Jedoch die in der DDR wirkenden politischen Kräfte haben die entsprechenden Entscheidungen zur Unterzeichnung dieses Abkommens getragen. Es gehörte Mut dazu, in dieser Zeit ein solches Abkommen abzuschließen. Jahrzehnte mussten vergehen, bis die Bundesrepublik Deutschland sich gezwungen sah, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Es erfüllt mich mit großer Genugtuung, dass das Werk von Zgorzelec seine geschichtliche Prüfung bestanden hat.

 

Prof. Dr. Siegfried Prokop

Die Oder-Neiße-Grenze gilt spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges nach allen Kriterien des Völkerrechts als anerkannt, was die Debatte über die Entstehungsgeschichte in ihrer ganzen Differenziertheit erleichtert. Nicht hinreichend ist auf der heutigen Konferenz bisher verdeutlicht worden, dass die Oder-Neiße-Grenze auf den Kriegskonferenzen der Alliierten durchaus in unterschiedlicher Gestalt gesehen wurde:

Die Maximalvariante wurde von Josif W. Stalin in Übereinstimmung mit dem Polnisch-Sowjetischen Geheimvertrag vom 27. Juli 1944 auf der Jalta-Konferenz vorgeschlagen. In dem „Abkommen über die polnisch-sowjetische Grenze“ hatte die sowjetische Regierung anerkannt, dass „die Grenze zwischen Polen und Deutschland auf einer Linie westlich von Swinemünde zur Oder, wobei Stettin auf polnischer Seite bleibt, weiter den Lauf der Oder aufwärts zur Mündung der Neiße und von hier an der Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze festgelegt werden soll.“ Auch der zweite Grenzvertrag vom 16. August 1945 mit der Regierung der nationalen Einheit enthielt diese Festlegung.

Die Minimalvariante vertraten Churchill und Roosevelt, die die Grenze an der Oder und östlichen Neiße fixiert wissen wollten. Das 1978 erstmals veröffentlichte sowjetische Protokoll der Kriegskonferenzen enthält Äußerungen von Churchill und Roosevelt zur Begründung ihres Grenzvorschlages, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen. Churchill: „Es wäre kaum angebracht, die polnische Gans mit deutschen Leckerbissen so voll zu stopfen, dass sie an Unverdauung zugrunde ginge.“ Roosevelt: „Die USA-Delegation sei auch damit einverstanden, dass Polen auf Kosten Deutschlands entschädigt wird, und zwar durch Ostpreußen südlich von Königsberg und Oberschlesien bis zur Oder. Doch scheine ihm, Roosevelt, eine Verschiebung der polnischen Grenze bis zur westlichen Neiße kaum gerechtfertigt.“

Der Differenz in der konkreten Ausgestaltung der Oder-Neiße-Grenze zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion wurde unmittelbar nach Ende des Krieges in gewisser Weise Rechnung getragen. Zunächst zählte das Gebiet Stettin/ Swinemünde noch zum Postleitgebiet der sowjetischen Besatzungszone. Stettin hatte längere Zeit eine sowjetische Hafenverwaltung. Das Krankenhaus von Swinemünde behielt bis zum Spätsommer 1945 seine deutsche Verwaltung.

Eine Veränderung trat mit der in Potsdam stattfindenden Berliner Konferenz Ende Juli/Anfang August 1945 ein. Auf dieser Konferenz wurde gleich am Beginn die Differenz in der Ausgestaltung der Oder-Neiße-Grenze angesprochen, worauf auch Josif Stalin zusammenfassend einging. Er sagte: „Ich möchte Herrn Churchill und den anderen, die bei der Krimkonferenz zugegen waren, die Ansicht in Erinnerung rufen, die damals Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill vertraten und der ich nicht zustimmte. Herr Churchill sprach von einer Westgrenze Polens entlang der Oder bis zur Mündung der Neiße in die Oder, und zwar der östlichen Neiße. Ich trat für eine Linie westlich der Neiße ein. Nach dem Schema von Präsident Roosevelt und Herrn Churchill blieben Stettin und auch Breslau und das Gebiet westlich der Neiße bei Deutschland.“

Die Diskussion über den Grenzverlauf unter den Alliierten

Die Frage wurde zur Klärung an die Außenminister überwiesen, vor denen auch die polnische Regierung ihre Sicht zur Grenzfrage darlegen konnte. Die sowjetische Seite zeigte dabei durchaus auch Kompromissbereitschaft, d.h. sie war während der Potsdamer Konferenz bereit, auf den westlichen Vorschlag zum Grenzverlauf einzugehen. Rolf Badstübner, der sich gründlich mit den Archivquellen befasst hat, schreibt dazu in seinem letzten Buch: „Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Stalin und Molotow in Potsdam bereit waren, der östlichen Neiße zuzustimmen, bot Byrnes sein Junktim an, das darin bestand, bei Zustimmung der Sowjetunion zum amerikanischen Reparationsplan eine Grenzziehung entlang der westlichen Neiße zu akzeptieren.“ Byrnes hatte vorgeschlagen, die Teilung Deutschlands in Reparationsgebiete vorzunehmen und in diesem Falle die polnische Verwaltung entlang der Oder-Neiße-Linie (Maximalvariante) bis zur entgültigen Entscheidung über den Grenzverlauf durch einen Friedensvertrag zu akzeptieren. Molotow und Stalin stimmten diesem janusköpfigen und höchst unmoralischen Vorschlag zu, der für die Bewohner der sowjetischen Zone die bittere Konsequenz nach sich zog, dass sie im Vergleich zu den Bewohnern der Westzonen mit vielfach höheren Reparationen belastet wurden. Die Teilung in Reparationsgebiete machte die Spaltung Deutschland für den Westen attraktiv, da durch sie die Hauptreparationslast langfristig nach Osten geschoben werden konnte (–mit der schließlichen Zuspitzung bis zum Arbeiteraufstand vom Juni 1953).

Die Sowjetunion muss sich des Problems z. T. bewusst gewesen sein, denn eine vom sowjetischen Außenminister Molotow am 16. August 1945 eingesetzte Kommission nahm eine Bewertung der von Polen an die UdSSR abgetretenen und der von Deutschland übernommenen Gebiete vor. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass Polen einen wertmäßigen Gewinn von sechs Milliarden Dollar zu verzeichnen hatte, obwohl es 77290 qkm im Vergleich zur Vorkriegszeit verlor. Polen verpflichtete sich in einem Abkommen mit der UdSSR vom 19. September 1945 über die neue Westgrenze an der westlichen Neiße, der Oder einschließlich dem Abschnitt Greifenhagen-Stettin-Swinemünde zu verbilligten Kohlelieferungen an die SBZ/DDR. Die Forschung hat bisher noch keine detaillierte Auskunft darüber gegeben, in welchem Umfange der beabsichtigte Interessenausgleich tatsächlich stattfand. Ich gehe von der Annahme aus, dass die Regelung bis zum Herbst 1956 funktionierte. Die Sowjetunion operierte im Zusammenhang mit der in Potsdam erreichten Verständigung sehr vorsichtig. Erst nachdem im sich bis November hinziehenden Umlaufverfahren das Potsdamer Protokoll (später als Potsdamer Abkommen bezeichnet und nicht zu verwechseln mit dem am 2. August veröffentlichten Kommunique) unterzeichnet vorlag, gestattete Stalin die Besetzung des 850 qkm großen Gebiets um Stettin westlich der Oder durch polnische Truppen 19. November 1945. Die SED konnte vor allem vor den Wahlen im Herbst 1946 in gewissem Umfange für Grenzkorrekturen votieren. Im September äußerte Max Fechner, „dass die SED sich jeder Verkleinerung deutschen Gebiets entgegenstellen wird. Die Ostgrenze ist nur provisorisch und kann erst auf der Friedenskonferenz unter Mitwirkung aller großen Siegerstaaten endgültig festgelegt werden.“ Am 19. September fasste in diesem Sinne der Parteivorstand der SED den Beschluss „Die SED und die Grenzfrage“.

Wolfgang Harich, der erste Theaterkritiker der „Täglichen Rundschau“, machte bei der letzten gesamtdeutschen Rundfunk-Live-Sendung am 11. Juni 1948 auf die Möglichkeit einer Korrektur der Grenze im Ergebnis eines Friedensvertrages aufmerksam, falls „wir als einheitlicher Staat durch eine deutsche Nationalversammlung vertreten werden.“ Damit war vor der gesamtdeutschen Öffentlichkeit darauf hingewiesen worden, dass auf die Möglichkeit einer Korrektur verzichtet, wer Deutschland durch einseitige Konstituierung eines separaten Staates spaltet. Die Unterschrift unter den Görlitzer Vertrag durch die DDR-Regierung erfolgte erst, nachdem in diesem Sinne alle Messen gelesen worden waren.

 

Prof. Dr. Kurt Pätzold

I. Aspekte zur Grenzziehung

Der Schritt ist den Politikern in Berlin (Ost) nicht leicht gefallen und das aus mehreren Gründen. Zum einen war er nicht dazu geeignet, sie in der Bevölkerung populär zu machen, von der doch ein nicht unerheblicher Teil aus eben den Gebieten stammte, von denen nun festgelegt wurde, dass sie dauernd Bestandteil des polnischen Staatsgebietes sein würden. Zum anderen war die Unterschrift Otto Grotewohls in Görlitz das Eingeständnis, dass alle Hoffnungen, die sich an eine partielle Revision der Grenzziehung von Potsdam noch geknüpft hatten, begraben werden konnten. Denn es war in öffentlichen Reden – und das keineswegs nur aus taktischen Gründen – wiederholt erklärt worden: Würden die Deutschen entschlossen einen Weg der Demokratisierung ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Zustän-de erreichen und sich für alle Zukunft von dem Gedanken einer Gewaltpolitik gegenüber ihren Nachbarn lossagen, dann könnte sich ergeben, dass über die Grenze im Osten noch einmal geredet werden würde. Das drückte fraglos mehr einen Wunsch denn eine reale Perspektive aus. Seit die Aussiedlung erfolgte und Polen in Dörfer und Städte einzogen, die einst Deutsche bewohnten, war der diplomatische Akt von Potsdam durch ein mächtiges Faktum manifestiert worden. Wer konnte glauben, dass binnen weniger Jahre große Menschengruppen gleichsam hin- und dann wieder „hergeschoben“ werden würden?

Nichts weniger als leicht gefallen ist den ostdeutschen Politikern die Unterschrift unter das Abkommen über die Grenze an Oder und Neiße aber auch deswegen, weil doch nicht wenige von ihnen auch eigene Bande und Beziehungen zu den Landstrichen und Regionen besaßen, über deren Zukunft nun definitiv entschieden wurde.

Und schließlich genügt es, an die Ernährungssituation des Jahres 1950 zu erinnern, um sich der ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedenken und Sorgen zu erinnern, die damals existierten. Die Politiker und Ideologen an der Spitze der SED hatten die Bevölkerung – sich mit der These vom „Volk ohne Raum“ auseinandersetzend – bereits vordem darauf einzustellen gesucht, dass es möglich sei, sich auch auf dem Boden der SBZ/DDR und durch die Möglichkeiten des Außenhandels auskömmlich zu ernähren. Doch der Beweis dafür war noch keineswegs erbracht. Viele fragten sich, ob mit dem Verlust landwirtschaftlich geprägter, Überschüsse liefernder Provinzen der Mangel an Lebensmitteln und deren Rationierung nicht eine Dauererscheinung bleiben werde.

Die Revision der Ostgrenze war ein durchaus Ernst zu nehmendes Ziel westdeutscher Politik, dessen Erreichung sich an Vorstellungen über die Entwicklung der Konfrontation der einstigen alliierten Mächte und die Verschärfung des Kalten Krieges knüpften. Den Revanchisten aber lieferte das Abkommen gleichsam die ideologisch-politische Munition gegen die DDR und es wurde genutzt, um erfolgreich Hass gegen den ostdeutschen Staat zu schüren.

Drei Bundeskanzler – Adenauer, Erhardt und Kiesinger – waren schon abgetreten, als der Sozialdemokrat Brandt mit seiner denkwürdigen Geste der Bußfertigkeit vor dem Mahnmal im Gebiet des einstigen Warschauer Ghettos auch verdeutlichte, dass die Westdeutschen kein Recht besaßen, diesem Staat gegenüber drohend mit Ansprüchen hervor zu treten. Das war so etwas wie eine Pioniertat, aber eben nur aus der Perspektive der westdeutschen Nachkriegssituation und es bedeutet eine Geschichtsfälschung, wenn sie nun in eine „gesamtdeutsche“ Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen hineinmontiert wird, die es damals nicht gab.

II. Aspekte zur “Vertreibung der Deutschen”

Was bis heute dazu dient, die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen zu vergiften, ist die Darstellung der „Vertreibung“ der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, die nur einen Teil der Vorgänge erfasst, an denen in keiner Phase etwas zu beschönigen ist, deren Darstellung aber gerade dann widersprochen werden muss, wenn und wo sie darauf zielt, die Polen des Jahres 1945 und der folgenden Jahre als grausam, gewalttätig und mörderisch hinzustellen und sie mit den deutschen Massenmördern von Kulmhof, Auschwitz, Treblinka, Bełżec, Sobibor gleichzusetzen. Das geschieht bis auf den heutigen Tag, so eben erst wieder in einem Blättchen, das für die „Breslauer“ bestimmt ist und in dem vom „Holocaust an den Deutschen“ geschrieben wird.

Diese Art und Weise, die Geschichte der ostdeutschen Bevölkerung in den Jahren 1945 ff. „einzuordnen“, ist aber auch deshalb kritikwürdig, weil sie ganze tragische Entwicklungen vor Kriegsende und das Verhalten der deutschen Bevölkerung während der letzten Monaten des Krieges ausblendet. Das Thema des stumpfen und dumpfen Weitermachens der übergroßen Masse der Deutschen, ihre Gefolgstreue gegenüber den faschistischen Machthabern bis in die vielberufenen „fünf Minuten nach zwölf“ scheint nicht auf. Die zerstörerische Rolle der Bonzokratie der NSDAP und nicht minder der Wehrmachtsführer und –befehlshaber wird umgefälscht in eine Rettungsaktion für Millionen Deutsche. Diese beschönigende Rolle haben in ihren Memoiren deutsche Generale und Admirale bald nach Kriegsende in der Bundesrepublik in Wort und Schrift für sich in Anspruch genommen.

Zunächst: ein erheblicher Teil der Deutschen hatte die Gebiete jenseits von Oder und Neiße bereits vor Kriegsende verlassen. Das mag Evakuierung, Flucht oder wie immer genannt werden, bildet aber die Vorgeschichte der Aussiedlung und Vertreibung. In der Stadt, die heute Wroc³aw heißt und die damals unter allen Städten des Ostens die meisten Einwohner zählte, hatte deren übergroße Mehrheit, mehr als drei Viertel, ihre Wohnungen bis Anfang Februar 1945 bereits verlassen. Aufgefordert worden waren sie dazu von Nazibonzen, die in der letzten Januardekade treppauf und treppab liefen, um den Breslauern Beine zu machen. Und sie hatten damit wenig Mühe. Die Angst vor dem Kriege, die Ahnung, dass Richter und Rächer nahten, die Furcht vor dem „Bolschewismus“, der ihnen seit 1917 als mörderisches Gespenst auf Plakate gemalt worden war, ließ die Stadtbewohner eilig ein paar Sachen packen, die einen sich mit Schlitten auf den ungewissen Weg in bittere Kälte machen, die anderen zu den Bahnhöfen drängen oder mit Lastwagen westwärts gelangen. So begann die Leerräumung nicht nur dieser Stadt keineswegs in erster Linie aus Rettungsgründen. Breslau sollte in eine „Festung“ verwandeln werden, damit der längst aussichtslos gewordene Krieg fortgesetzt werden konnte – bis zur letzten Patrone. Schussfeld zu bekommen, darum ging es auch anderswo. Wären die Leute geblieben, wo sie waren, hätte es weder das beliebig gegeben noch wären genügend Lebensmittel verfügbar gewesen, um – wie in Breslau - bis in die ersten Maitage auszuhalten, dadurch das Sterben und die Qualen so vieler verlängernd.

In diesem Verhalten der Deutschen zeigte sich noch einmal, dass das Bild von den wenigen Machthabern an der Spitze des Naziregimes als den allein Verantwort-lichen falsch war. Sie besaßen 1945 nirgendwo mehr die Macht Millionen Deutsche an dem Entschluss zu hindern: Wir bleiben wo wir sind, denn einmal muss dieser Krieg doch zu Ende gehen. Zugerichtet, wie sie waren, taten sie, was von ihnen verlangt wurde, nicht zuletzt deshalb, weil sie keine Alternative für ihre Entscheidungen und Handlungen mehr sahen. Sie blieben in der Hand ihrer „Führer“.

Gewiss, die Massenbewegung von Ostpreußen, Schlesiern, Pommern und Brandenburgern nach Westen war als Aussiedlung nicht gedacht. Das falsche Bewusstsein, zurückkehren zu können, ändert indessen nichts an den Fakten, dass Dörfer ganz und Städte weitgehend menschentleert waren, als der Krieg zu Ende ging. Das ist auf das Folgende nicht ohne Einfluss geblieben. Erinnert werden muss an diese Vorgänge nicht nur, damit die Geschichte „vollständig“ beschrieben wird, sondern um das Thema „Der Faschismus und die Volksmassen“ von Legenden, Mythen und absichtsvollen Auslassungen zu befreien.