Er war „Kultura“

Von Holger Politt

Im September 2000 starb in Paris Jerzy Giedroyc. Der 1906 im Litauischen geborene Pole wurde zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der polnischen Publizistik im 20. Jahrhundert. Für seine Bewunderer war er einfach der Redakteur! 1994 legte Giedroyc zusammen mit dem Historiker Krzysztof Pomian eine Autobiografie vor (deshalb „Autobiografia na cztery ręce“, auf Deutsch etwa: Autobiografie zu vier Händen), aus der alle angeführten Zitate stammen.

 

Erzogen wurde er im Elternhaus ganz im Sinne föderativer Vorstellungen, wie sie etwa Piłsudski vertrat, der eine möglichst weit reichende Einbindung der östlichen Gebiete der früheren Rzeczpospolita für erstrebenswert und durchsetzbar hielt. Für die aus den so genannten östlichen Grenzgebieten stammende Familie musste allein der Gedanke an ein diese Gebiete nicht mehr einschließendes, wiedererstehendes Polen unerträglich sein. Solche Gedanken prägten allerdings das politische Denken Dmowskis, des großen Konkurrenten Piłsudskis und unangefochtenen geistigen Führers der Endecja [Nationaldemokratie-Partei der politischen Rechten]. Deshalb „herrschten zu Hause ganz entschieden Anti-Endecja-Überzeugungen. Entscheidend war die östliche Herkunft unserer Familie, für die das Endecja-Modell des polnischen Katholiken einfach nicht hinzunehmen war, so wie auch nicht die Idee eines Polens mit einer einzigen Nationalität und einer einzigen Konfession.“ Ein strammer Parteigänger Piłsudskis indes wurde er nicht. Piłsudskis Staatstreich von 1926 hatte das wohl verhindert: „Der Mai-Umsturz bedeutete für mich einen dramatischen Konflikt. Eigentlich war ich Piłsudski-Anhänger, besaß zugleich jedoch starke legalistische Gefühle. Der Legalismus obsiegte.“

Giedroyc stieg zum Ministerialbeamten auf und erlebte gewissermaßen aus erster Hand die Schwächen des polnischen Staates. Polen, so rückblickend seine bittere Einschätzung, sei „ein Staat wie bei Gombrowicz“ gewesen, „der auch nicht ein einziges Problem zu lösen versuchte. Es war Chaos.“ Schuld daran hätten in erster Linie allerdings die Polen selbst getragen, dieses - wie er in aller Übertreibung meinte - schreckliche Volk: „Gewiss, jedes Volk ist fürchterlich. Doch die Polen zeichnen sich durch eine besondere Schwäche des Charakters und eine unentwickelte Administration aus. Auch über Frankreich könnte viel Schlechtes gesagt werden. Zum Glück ist es aber im Besitz einer Verwaltung, die seit monarchistischen Zeiten keiner Veränderung unterlag und das Rückgrat des Landes bildet.“

Nebenher begann der Staatsbeamte mit der Zeitungsarbeit. „Bunt Młodych“, so hieß das zweiwöchentlich erscheinende Blatt zunächst, zeichnete sich durch ausgeprägte „Staatseinstellung“ aus. Man stritt für ein möglichst starkes Polen, in dem nationale Minderheiten ihren festen und durch Autonomieregelungen abgesicherten Platz haben sollten. Peinlich jedoch, dass in diesem Wunschpolen für die jüdischen Mitbürger ein derartiger Platz nicht vorgesehen war: „Wir waren überzeugt, in Polen bestehe ein jüdisches Problem, ein Problem des Gettos, das sich nicht auf dem Weg der Assimilation lösen ließe... Als einzigen Ausweg sahen wir deshalb die massenhafte Emigration der Juden aus Polen nach Palästina an.“ Wenigstens in dieser Hinsicht war der eingefleischte Endecja-Gegner gar nicht so sehr weit weg von den Ansichten Dmowskis. Er selbst schob die Verantwortung für das Fehlverhalten der damaligen Zeit zu, hätten doch solche Gedanken beinahe zum guten, d. h. staatstragenden politischen Ton gehört. Beste Gelegenheit, hier einiges richtig zu stellen, gab es gleichwohl, nämlich als einige Landsleute dreißig Jahre später, also im Jahre 1968, in ähnlich gedankenloser und dummer Weise dachten, sie könnten mit diesem Thema „große Politik“ machen. Da es sich aber um Leute des gegnerischen politischen Lagers handelte, gab auch der Redakteur der „Kultura“ eher der Versuchung nach, es diesem kräftig zu geben, spürte daher weniger die einmalige Chance, eigenes peinliches Fehlurteil aus vergangenen Tagen öffentlich zu diskutieren.

Doch der Reihe nach. Giedroyc verließ nach dem Ende der Zweiten Republik seine Heimat - ein Abschied für immer. Die Kriegsstationen hießen zunächst Rumänien, dann Palästina, schließlich zum Ende hin Italien, wo er vorerst blieb. In Rom schlug 1947 die Geburtsstunde der Monatszeitschrift „Kultura“, die fortan das Wirken von Giedroyc ausschließlich bestimmen sollte. Hinter der Zeitschrift stand das „Instytut Literacki“, anfänglich eine Filiale der Anders-Armee. Die ersten Publikationen erschienen bereits 1945. Zu ihnen gehörten Mickiewicz` in Paris abgefasste prophetische Schrift „Die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft“ und das Buch „Prometeusze“ des eher unbekannten Stanisław Szpotañski. Ersteres, so Giedroyc, sei das Manifest, das andere eine Warnung über die schwierigen Bedingungen der Emigration gewesen. Denn auf die ließen Giedroyc und seine unentbehrlichen Helfer sich endgültig ein, als Institut nebst Zeitung noch 1947 gen Frankreich zogen und Quartier im Pariser Vorort Maisons-Laffitte fanden. Von denen, die das Erscheinen der „Kultura“ lange Jahre ermöglichten, sollten der Maler Józef Czapski (1896-1993), der Journalist Juliusz Mieroszewski (1906-1976) und das Ehepaar Hertz - Zofia (geb. 1911), das Organisationstalent der Zeitung und Aleksander (1895-1983), von Beruf Soziologe - genannt werden. Anfänglich teilte Giedroyc sich die Redaktionsarbeit mit dem Schriftsteller Gustaw Herling-Grudziński (1919-2000), der jedoch zurück in Italien blieb.

Das bittere Los der Emigration wählte Giedroyc, weil er seinem Staat auch nach dessen nicht mehr rückgängig zu machendem Untergang wenigstens im moralischen Sinne die Treue hielt. Der neue Staat, der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs Polens schnellen Wiederaufbau verantwortete, wurde von ihm nicht als wahrhafter Interessenvertreter der Polen auf internationaler Bühne wahrgenommen. Die Bedingungen der Entstehung der Volksrepublik erinnerten ihn wohl an Szenen des Romans „Unersättlichkeit“ von Stanisław I. Witkiewicz, in denen die Bürger des eroberten Landes durch herunterschlucken einer besonderen Pille der neuen Ordnung gefügig gemacht wurden. Ließ die Wirkung dieser Pillen nach, wurden die Bürger allerdings wieder aufmüpfiger und widerspenstiger. Auf diese Hoffnung zählte der Redakteur, auch wenn er nicht an ein rasches Ende der Volksrepublik und der Sowjetunion glauben mochte. Dennoch erklärt sich vor diesem Hintergrund sein ambivalentes Verhältnis zur Heimat: „Obwohl es keinen Zweifel gab, dass wir im Westen bleiben würden, entsprach die eindeutige und bedingungslose Ablehnung der polnischen Wirklichkeit nicht unserer Haltung. Wir wollten auf diese Wirklichkeit einwirken. Vor allem aber wollten wir objektive Informationen über das haben, was sich in der Heimat tat.“ Entsprechend dieser Haltung lehnte es Giedroyc ab, „Kultura“ als Bühne für die Agitation gegen die Rückkehr nach Polen bzw. für das Verlassen des Landes zu missbrauchen.

Natürlich war diese Einstellung innerhalb der Emigration äußerst umstritten. So gab es schärfste Reaktionen beispielsweise aus London, als in einer Reportage aus Polen das Wort Befreiung ohne Anführungsstriche gedruckt wurde. General Anders ließ sogar den Vertrieb der „Kultura“ untersagen. In seinen Erinnerungen schrieb Giedroyc zwar, dass das Weglassen der Anführungsstriche lediglich aus Unachtsamkeit erfolgte, also eigentlich nicht gewollt gewesen sei, und doch wirft diese kleine Begebenheit am Rande ein bezeichnendes Licht auf die verhärteten Fronten jener Zeit.

Das bekam auch Czesław Miłosz zu spüren, als er Anfang der 1950er-Jahre die Fronten des kalten Kriegs wechselte, indem er den Posten im diplomatischen Dienst der Volksrepublik eintauschte mit dem Los des Emigranten. „Die Sache mit Miłosz war ein grundlegendes Ereignis in unserem Verhältnis zur Emigration. Für uns war das kein Problem. Das war eher das Problem der Emigration, die ihn feindlich aufnahm.“ Miłosz hatte nach seinem Übertritt in dem Beitrag „Nie!“ in „Kultura“ erklärt, er sei kein Emigrant und werde auch niemals einer werden. Kein Wunder, dass ihm in Emigrationskreisen für lange Zeit seine Funktion in der Heimat vorgehalten wurde. Daran änderte auch das Erscheinen des Buches „Verführtes Denken“ wenig, das 1953 in der Biblioteka „Kultury“ herausgegeben wurde. Mit diesem sich an Witkieiwicz` „Unersättlichkeit“ anlehnenden Buch wurde Młłosz im Westen eigentlich erst richtig bekannt. Die polnische Emigration freilich las es anfangs gleichwohl als Rechtfertigung eines Kollaborateurs.

Einem anderen berühmten Emigranten, dem 1939 nach Argentinien ausgewanderten Schriftsteller Witold Gombrowicz, der die Polen vor Polen zu schützen bemüht war, boten „Kultura“ und das „Instytut Literacki“SS die Möglichkeit, sich seinen Landsleuten wieder unmittelbarer zuwenden zu können. 1951 stellte „Kultura“ Ausschnitte des Romans „Trans-Atlantik“ vor, 1953 wurde in Paris das gesamte Werk herausgebracht, bevor es dann 1957 auch in Polen erscheinen konnte. Giedroyc beförderte nach Kräften den Versuch der Selbstverständigung des eigenwilligen und zerrissenen Schriftstellers: „Ich schlug ihm vor, Tagebuch zu führen, denn auf der Grundlage des ‚Trans-Atlantik‘ und seiner Briefe war ich überzeugt, dass diese Form ihm besonders liegen müsste.“ Die Tagebücher, zu Lebzeiten des Autors 1957, 1962 und 1966 erschienen, zählen zu den größten Publikumserfolgen in der Verlagstätigkeit von Giedroyc.

Das Konzept der „Kultura“, Kontakte zur Heimat zu suchen und zu befördern, sich ihnen in jedem Fall nicht zu verwehren, erwies sich in den 1960er und 1970er-Jahren als wichtige Voraussetzung für die Lebenstüchtigkeit der Zeitung. „Kultura“ wurde in dieser Zeit im Printbereich tatsächlich zu einer konkurrenzlosen Stimme der polnischen Emigration, die auch in Polen selbst in allen politischen Lagern mit Interesse vernommen wurde. Eine Zäsur in diesem Sinne stellte sicherlich die Zeit der KOR dar. Nach Arbeiterprotesten im mittelpolnischen Radom kamen 1976 Intellektuelle zusammen, die sich fortan für Interessen der Arbeiter engagieren wollten, eben ein Komitee zur Verteidigung der Arbeiter gründeten. Seither war „Kultura“ noch politischer, öffnete sich verstärkt aktuellen Problemen des gesamten ostmitteleuropäischen Raums und des europäischen Teils der Sowjetunion. „In der zweiten Hälfte der 70er-Jahre und in den 80er-Jahren tendierte‚Kultura’, die zuvor gleichermaßen ein literarisches bzw. kulturelles und politisches Blatt gewesen war, merklicher in Richtung Politik.“ Giedroyc hatte durchaus Not, in den folgenden stürmischen „Solidarność“-Zeiten für distanzierten Blick, kühlen Kopf zu sorgen. „Ungemein viele Personen aus Polen meinen, sie seien durch ‚Kultura’ erzogen worden, doch ich habe das Gefühl, dass es nur wenige solcher Fälle gibt.“

Nach 1989 blieb Giedroyc dem Ort seines Exils treu, er blieb in Paris. Den zurückgehenden Verkaufszahlen konnte er entnehmen, dass die Zeit für „Kultura“, für das Projekt seines Lebens, abzulaufen beginnt. Die Mission, der sich „Kultura“ in den Anfangsjahren verschrieben hatte, war gewissermaßen vollbracht. Folglich be-schloss der Redakteur, mit seinem Ende werde auch das Kapitel „Kultura“ für immer geschlossen: „Nach meinem Tod hört ‚Kultura’ auf zu erscheinen.“ Das „Instytut Literacki“ indes solle bestehen bleiben als Archiv und Bibliothek. Es wird fortan künden von der Geschichte einer Zeitschrift, von einer großartigen Lebensleistung.