Unter diesem Titel begann im Herbst 1980 eine Artikelserie in der liberalkatholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. Ausgangspunkt dafür war eine Predigt am 19. Oktober 1980 auf dem Krakauer Wawel zu streikenden Arbeitern der Gewerkschafts- und Sozialbewegung Solidarność . Diese Predigt hielt ein bis dahin weitgehend unbekannter Priester und er entwickelte hier eine ethische Grundlinie für die Auseinandersetzung zwischen Staatsapparat und großen Teilen der in Polen lebenden Menschen. Obwohl eindeutig parteiisch zu Gunsten der aufbegehrenden Bevölkerung verfing er dabei nicht in Aggression gegen die andere Seite, sondern gab Vorschläge, auf welcher Grundlage und worum die Auseinandersetzung zu führen sei. Durch diese Form – in der Sache hart, aber in der Auseinandersetzung flexibel - schuf er mit die Grundlage dafür, dass die Machtfrage 10 Jahre später, Ende der 1980er Jahre, nicht in einem großen Blutbad endete, sondern zum Runden Tisch – in die polnische Form des Dialoges - führte.
Der Autor dieser Artikelserie war der Philosoph und Priester
Józef Tischner, der am 28. Juni dieses
Jahres in Krakau nach langer schwerer Krankheit starb. Dieser Mann, ein enger
Mitarbeiter der von Tygodnik Powszechny und Freund des Papstes Johannes Paul
II., ist in Deutschland wohl nur einem kleinen Kreis bekannt, obwohl er in
Polen eine bekannte und bedeutende katholische Persönlichkeit war. Der
Philosoph und Priester – in dieser Reihenfolge nannte er seine ‘Berufung’ – stand
in Polen hauptsächlich für zwei Dinge: Er war der erste Solidarność-Priester
mit überörtlicher Bedeutung und er stand innerhalb des polnischen Katholizismus
für einen offenen, toleranten Glauben und damit im schroffen Gegensatz zu den
engstirnigen national-konservativen bis nationalistisch-fremdenfeindlichen
katholischen Strömungen. Für diese wurde er v.a. in den 90er Jahren zu einem
ihrer größten Feindbilder.
Die Ethik der Solidarität
Einer größeren Öffentlichkeit in Polen wurde Tischner
bekannt, als er auf der Grundlage der Predigt vom 19. Oktober 1980 eine “Ethik
der Solidarität” entwickelte, die durchaus bewusst zweideutig war. Zum einen
entwickelte er hier eine organisationsunabhängige Philosophie der
gesellschaftlichen Solidarität unter polnischen Verhältnissen, zum anderen war
diese Philosophie auch als Leitlinie für die gerade entstehende Gewerkschafts-
und Gesellschaftsbewegung Solidarność(=Solidarität) gedacht. Einen
großen Raum widmete er dabei philosophischen Ausführungen zur Arbeit, wobei der
dialogische Charakter seiner Philosophie und Theologie deutlich wird: “Eine der
schmerzlichsten Formen des Verrates
besteht darin, einen arbeitenden Menschen zu einer sinnlosen Arbeit zu
verurteilen.” und: “Die Arbeit des Menschen ist eine Form zum anderen Menschen
zu sprechen, eine Sprache, die ihn vernichtet oder vorwärts bringt.”
Grundlage der Philosophie Tischners ist dessen Überzeugung,
dass Gott sich in jedem Menschen verwirklicht. Deshalb ist für Tischner ein
Verdammen eines anderen Menschen, sei er ein ‘normaler’ Sünder oder ein Gegner
der Kirche, als katholischer Priester nicht möglich. Jedem Menschen gebührt die
christliche Nächstenliebe. So sagte Tischner einmal: “Es gibt zweit Formen von
seelsorgerischem Mut: Da ist einmal der Mut, der sich traut einem anderen
Menschen dessen Sünden vorzuhalten und es gibt den Mut, der sich traut dem
Sünder die Großartigkeit der Barmherzigkeit Gottes zu zeigen. Am meisten finden
wir in der Kirche die erstgenannte Form vor.” Selbstverständlich hält Tischner
die zweitgenannte Form für die bessere.
Zentral ist für Tischner, wie sich der oder die Einzelne
gegenüber seinem Mitmenschen verhält. Handeln muss immer dialogisch angelegt
sein. Wichtig ist nicht so sehr das verbale Bekenntnis zum Glauben und zur
Kirche, wichtig ist das, was man tut – und zwar für den anderen Menschen und ob
man bereit ist, einem anderen v.a. einem kritischen Menschen zuzuhören und ernst zu nehmen. Hier hebt er
die Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln deutlich hervor. Nichtgläubige
bezieht er ausdrücklich dabei ein.
Mit dieser Haltung hat er sich den Zorn eines bedeutenden
Teils der katholischen Kirche in Polen zugezogen, v.a. von dem Teil, der das
Erziehen und Führen des seiner Meinung nach eigentlich unmündigen Gläubigen für
notwendig erachtet. Gegen diesen Teil der Kirche, den Tischner als eine Gefahr
für die Entwicklung des christlichen Glaubens in Polen erachtete, trat er offen
auf: “Das Christentum in Polen bedroht heute weder der Laizismus noch der
Atheismus (wenigstens aktuell), sonder die Parodie einer Religion”. Tischner
münzte diese Worte nicht zuletzt auf die Teile der katholischen Kirche, auch
der Kirchenhierarchie, die sich offen mit den nationalistischen christlichen
Parteien verbanden. “Wenn es um die sogenannten “christlichen” politischen
Parteien geht, so(...) sehe ich in ihnen die polnische Abspaltung des zutiefst
undemokratischen Lefebrismus. Dazu schweige ich nicht, und zwar deshalb
schweige ich nicht, damit mir niemand irgendwann das vorwirft, was man
Heidegger vorwirft, dass er als Philosoph schwieg und zusah, wie vor seinen
Augen die Freiheit abstarb”.
Es scheint so, dass ein offenerer Katholizismus, für den Tischner innerhalb der polnischen katholischen Kirche stand, langsam an Boden gewinnt. Das betrifft sowohl die kirchliche Hierarchie (s.a. das Interview mit Bischof Pieronek zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses Jahres, S. 5-6) als auch die Gläubigen, wie der Ausgang der Präsidentschaftswahlen deutlich machte.