In enger Zusammenarbeit zwischen dem Simon Dubnow-Institut für jüdische Geschichte e.V. an der Universität Leipzig und dem Polnischen Institut in Leipzig fand am 25. Oktober d.J. eine Gedenkveranstaltung statt, die sich zu einem bemerkenswerten Ereignis im politischen und wissenschaftlichen Leben der Stadt gestaltete. Denn hier wurde -gestützt auf präzise Quellenkenntnis sowie die internationale Einordnung der lokalen Vorgänge- eine bisher nicht vorliegende Analyse der Situation jüdischer Bürger Leipzigs bis zum Oktober 1938 vorgenommen.
Das Symposium widmete sich umfassend dem dramatischen Jahr
1938, das ebenso vom blinden Appeasement der europäischen Mächte wie von der
skrupellosen Erweiterung der Naziherrschaft geprägt war. Spezieller Gegenstand
der Untersuchung aber war die als “Polenaktion” bezeichnete Austreibung von
3000 jüdischen Bürgern Leipzigs, die auf Weisung des
Reichssicherheitshauptamtes der SS geschah. Betroffen davon waren bis dato in
Leipzig integrierte Bürger, die nicht im Besitz deutscher Pässe waren und
dadurch als Staatenlose bzw. polnische Staatsbürger doppelt diskriminiert
waren. Sie sollten per Gesetz in Massentransporten an die polnische Grenze
transportiert werden. Gestützt auf langjährige regionale Forschungen,
vermittelte Prof. Manfred Unger, der frühere Direktor des Sächsischen Staatsarchivs,
ein Bild vom Forschungsstand und der Quellenlage, die deutlich ausweisen, dass
sich die Lage für die jüdischen Bürger 1938 durch eine rigorose Sondergesetzgebung
und die forcierte Arisierung des Besitzes zuspitzte, bis die SS schließlich für
1652 Haushalte bzw. 3364 Personen in Leipzig das Aufenthaltsverbot aussprach.
Prof. Unger stellte eindrucksvoll dar, dass dieses Vorgehen
von 1300 Leipziger Juden nicht widerspruchslos hingenommen wurde, nachdem ihnen
der polnische Generalkonsul Unterstützung und Asyl im Konsulat anbot. In einem
Akt von denkwürdiger Amtscourage im richtigen Augenblick gelang es Konsul
Feliks Chiczewski, zumindest die Hälfte der Betroffenen zu warnen und in den
Konsulatsräumen in der Wächterstraße 32 zu beherbergen, bis die akute Gefahr
vorüber war. Diese Tat zu würdigen, war im Anschluss an die Tagung auch Ziel
einer Fotoausstellung im Polnischen Institut sowie der feierlichen Einweihung
einer Gedenktafel für den mutigen Konsul am Ort des Geschehens - in der Villa
Uri.
Stefan Held, Mitarbeiter im Dubnow-Institut, relativierte in
seinem Beitrag die damaligen Möglichkeiten einer Abschirmung der Verfolgten und
Flüchtlinge nachdrücklich. Denn infolge der Appeasementpolitik der Mächte
entwickelte sich gerade das Jahr 1938 zum Krisenjahr in der Geschichte der
europäischen Flüchtlingspolitik. Oft entstanden Verzögerungen der Vertreibung
nur durch ein Kompetenzgerangel, wie es auch zwischen der Stapostelle in
Leipzig und dem Polizeipräsidium der Fall war.
Die Tat von Konsul Chiczewski war ebenso ungewöhnlich wie
mutig, da sie eine Gruppe der besonders schutzlosen sogenannten Ostjuden
betraf, deren Angehörige nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen,
sondern früher aus ostpolnischen und russischen Gebieten zugewandert und
demzufolge zum Teil entweder staatenlos bzw. im Besitz von nur zeitweilig
gültigen polnischen Pässen waren. Der Konsul fasste also den Entschluss, gegen
Weisungen des Polnischen Außenministeriums zu verstoßen, weil- wie der Direktor
des Veranstalter-Institutes, Prof. Dan Diner treffend äußerte- gegen die
staatliche Integrität verstoßen wurde.
Diesen komplizierten Hintergründen nachgegangen zu sein,
zeichnete diese Veranstaltung am Markt 10 besonders aus. Drei polnische Spezialisten
für Geschichte der internationalen Lage in der Zwischenkriegszeit, Prof. Jerzy
Tomaszewski, seine junge Kollegin Dr. Jolanta ¯yndul aus Warschau sowie Dr.
Stanis³aw Zerko vom Instytut Zachodni, Poznań hatten Gelegenheit, eine
außerordentlich differenzierte Analyse der Vorgeschichte und der Hintergründe
der “Polenaktion” aus polnischer Sicht vorzunehmen. Dazu gehörten tiefere
Einblicke (Zerko) in die komplizierten deutsch-polnischen sowie
polnisch-russischen Beziehungen nach Abschluss beider Nichtangriffspakte, die
von Warschau zwar als ein Balancieren zwischen der UdSSR und Deutschland
dargestellt wurden, indessen zur Schützenhilfe für Deutschland gerieten. Dazu
gehörte die diffizile Darstellung bestimmter Akte der polnischen Innenpolitik,
die den Beifall Berlins fanden und sich zum Schaden für Polen auswirkten.
Wie auch andere ausländische Vertretungen beobachteten die
polnischen Konsulate die seit 1936 fortschreitenden Verfolgungen der Juden im
Reich nicht nur passiv, sondern die Beobachtung der einsetzenden
Emigrationswelle veranlasste Polen zu Maßnahmen, um die Aufnahme von Tausenden
mittelloser Juden zu verhindern. Auslöser für die sich überstürzenden
Aktivitäten der Polenvertreibung aus Deutschland war der Anschluss Österreichs
Mitte März 1938. Seit diesem Zeitpunkt kündigte die Beck-Regierung allen polnischen
Staatsbürgern im Ausland die Einschränkung der Rückkehrmöglichkeiten an.
Nachdem der Sejm am 6. Oktober 1938 sogar ein Gesetz erlassen hatte, das die
letzte Frist für eine Pass-Verlängerung auf den 29. Oktober 1938 festsetzte,
hielt das deutsche Außenministerium die Zeit für gekommen, die lange
beabsichtigte Austreibung in Gang zu setzen und Polens Schutzmaßnahmen zu
unterlaufen. Damit begann die gewaltsame organisierte Verschleppung von 17 000
Personen an die polnische Grenze.
Welche Verzweiflung die meist mittellosen, zum Teil nicht
polnisch sprechenden Juden erfasste, spiegelte sich in der Tat des jungen
Herschl Grynszpan wider, dessen Eltern ins Lager Zbąszyn an die Grenze
verbannt worden waren. Um das Gewissen der Welt aufzurütteln, hatte er in einer
Verzweiflungstat auf einen deutschen Diplomaten in Paris geschossen und damit
auf tragische Weise den willkommenen Vorwand gegeben, um am 9.November 1938 in
ganz Deutschland jene Welle von Judenpogromen in Gang zu setzen, die später auf
zynische Weise als “Reichskristallnacht” bezeichnet wurden.
Ein weiterer Komplex von Beiträgen widmete sich der
Situation der Opfer. So sprach Prof. Gertrud Pickhan, jetzt Dresden und vormals
Dubnow-Institut, anhand einer breiten Quellenbasis über das Leben der
abgeschobenen Juden im Übergangs-Lager Zbąszyn, und was besonders
anrührte, über die Aussagen des einzigen, heute in Israel überlebenden
Nachkommen der aus Dortmund vertriebenen und in Bełżec ermordeten
Familie Schiffmann. Der Situation des Jüdischen Schulwerkes infolge der
“Polenaktion” in Leipzig widmete sich Prof. Barbara Kowalzik, ehem.
Pädagogisches Institut in Leipzig, die Wesentliches zum wenig bekannten Bild
des bis 1937/38 mit über 600 Schülern arbeitenden, sich jahrzehntelang selbst
tragenden jüdische Schulwesens beitragen konnte.
Eindrucksvoll war die abschließende außenpolitische Diskussion, die das Flüchtlingsdilemma entsprechend einordnete, und besonders das Schlusswort Prof.. Dan Diners, das sich dadurch auszeichnete, dass es die Aufmerksamkeit auf die revisionistische Außenpolitik, auf die Zerstörung einer Konzeption der kollektiven Sicherheit und auf die verheerende Rolle der Appeasementpolitik gegenüber Hitlerdeutschland lenkte.