Rosa Luxemburg – an der Weichsel fast vergessen, tief verehrt hingegen bei den Linken in Deutschland

 

Von Holger Politt

 

Statt einer Vorbemerkung: „Der Kommunismus als Realität... – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen... Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde... Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen!“ Karl Kraus (1920). Als der europäische Sozialismus des 20. Jahrhunderts binnen kurzer Zeit vollkommen zusammenbrach, wovon sich Anhänger wie Gegner gleichermaßen überrascht zeigten, verschwand nicht nur das große Teile des Kontinents über lange Zeit dominierende Gesellschaftssystem, auch die mit dem Sozialismus auf das Engste verknüpfte Denktradition geriet unter Generalverdacht, nichts weiter als Apologie einer letztlich zum Scheitern verurteilten Ordnung gewesen zu sein.

 

Aus den Trümmern des in sich zusammengebrochenen Staatssozialismus ragte weniges hervor, was den Übriggebliebenen noch brauchbar schien. Die Niederlage und das Gefühl derselben waren vollkommen. Zu retten – so stand zu hoffen – waren jene Bereiche, die nicht allzu sehr durch die in allgemeinen Misskredit geratene Praxis in den sozialistischen Ländern beeinträchtigt waren. Deutschlands Sozialisten stellten eine Frauenpersönlichkeit heraus, die auch nach dem illusionslosen Ende des sozialistischen deutschen Staats nichts an Anziehungskraft eingebüßt zu haben schien. Und so steht seitdem der Name Rosa Luxemburgs stellvertretend und unangefochten wie kaum ein zweiter in Deutschland für die Erinnerung an die heroische Seite der revolutionären sozialistischen Tradition. Ihr Wirken endete als der Sozialismus sowjetischer Prägung seinen Anfang nahm. Gleichwohl gilt sie heute als prominente Kritikerin bestimmter selbstherrlicher Seiten des frühen bolschewistischen Kurses, der in Lenin seinen bestimmenden Sachwalter hatte. In Zeiten wie der unsrigen, in der das Scheitern des ganzen Systems ursächlich und schnell den Auswirkungen eines einzigen, wahrlich misslichen Geburtsfehlers zugeschlagen wird, keine schlechte Empfehlung.

Und doch gründete sich der Ruhm, den unter den Nachgeborenen sie erlangte, weniger auf ihre Schriften und revolutionären Aktivitäten, wesentlich auf die ihrem Lebensoptimismus zutiefst widersprechende Tatsache, prominentestes Opfer der Reaktion und des Verrats in Deutschland geworden zu sein. Die Mörder, die, was unstrittig ist, im Interesse machtbesessener und in revolutionsschwangeren Tagen die Rettung der gesellschaftlichen „Ordnung“ anstrebender Sozialdemokraten handelten, erhoben mit ihrer Tat die Ermordete in den Pantheon des linksrevolutionären Deutschlands. Der überraschende Zusammenbruch des sowjetisch ausgerichteten Sozialismus in Europa hat die lange Tradition, sie herausragend als Verkörperung revolutionären Geistes in Deutschland zu ehren, nicht unterbrechen können. Im Gegenteil. Die langen Reihen jener, die jedes Jahr im Januar zur Gedenkstätte der Sozialisten im Berliner Friedrichshain ziehen, vermitteln eine vorerst letzte Vorstellung über die Mächtigkeit der Bewegung, die Deutschland im Zeichen der Roten Fahne einst zu verändern trachtete.

In Polen ist Rosa Luxemburg schon lange vor dem Untergang der Volksrepublik zu einem historischen und damit eigentlich erledigten Fall geworden. Bereits innerhalb der Kommunistischen Partei Polens, die 1937 bzw. 1938 auf Geheiß Stalins liquidiert wurde, gab es nach der durch Pilsudskis 1926er Mai-Umsturz entstandenen Lage vermehrt Stimmen für eine deutliche Kurskorrektur an der auf Luxemburg zurückgehenden Haltung zur nationalen Frage. So willkommen Stalin eine Diskussion um den so genannten Luxemburgismus im allgemeinen auch gelegen kam, denn in ihrer Kritik an bestimmten Seiten in der russischen Revolution antizipierte sie gewissermaßen Stalins Weg zur diktatorischen Herrschaft über Partei und Staat, so wenig berührte ihn andersherum die Sorge nicht weniger polnischer Kommunisten, sie könnten ohne die Anerkennung des polnischen Staats endgültig ins gesellschaftliche Aus geraten. Solche Tendenzen in der polnischen KP wurden, wenn es geraten schien, als „Rechtsabweichung“ denunziert und geschickt für das eigene Intrigenspiel ausgenutzt. Kaum einer der wagemutigen Kritiker des „Luxemburgismus“ in der polnischen Partei sollte dieses bitterernste Spiel überleben.

Auch wenn nach dem Ende des zweiten Weltkriegs es in der Volksrepublik an Versuchen nicht mangelte, Rosa Luxemburg „einzubürgern“, wurden doch beispielsweise unzählige Straßen im Land nach ihr benannt, blieb sie aus Sicht der gewöhnlichen Gesellschaft eine Außenseiterin, eine Fremde, weil sie unter den Kritikern eines unabhängigen polnischen Staats die namhafteste und wohl auch entschiedenste war. Da ihre harte Position bezüglich der nationalen Frage in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als konsequenter und authentischer Ausdruck des marxistischen Denkens ausgelegt wurde, schien jene Formation, die zur Begründung der Legitimität ihrer Herrschaft nicht umhin kam, auch auf Marx sich berufen zu müssen, gut beraten, immer wieder die deutliche Distanz ihr gegenüber zu betonen. Was in Zeiten der Volksrepublik den führenden PVAP-Genossen nie recht gelang, nämlich den Verdacht ihrer Landsleute auszuräumen, einer berühmten Maxime Luxemburgs folgend immer zuerst Sozialist und bestenfalls erst dann und unter Umständen Patriot sein zu können, wurde zur Aufgabe für ihre Nachfolger. Die politische Stiftung der sich sozialdemokratisch orientierenden SLD erhielt den Namen Kazimierz Kelles-Krauz, der in den 1890er-Jahren, ähnlich jung und euphorisiert durch den sozialistischen Gedanken wie Luxemburg, allerdings Marxismus und Unabhängigkeit untrennbar zusammendachte. Ersterer, so seine Überzeugung, zeige zwingend, dass das Proletariat Polens Vorreiter im Unabhängigkeitskampf werden müsse. Eine sozialistische Perspektive der Gesellschaft könne erst von dieser Stufe aus in Angriff genommen werden.

Rosa Luxemburgs vehemente Ablehnung des Unabhängigkeitsgedankens speiste sich aus einem tiefen Misstrauen gegen die zeitgenössischen Verfechter des Polen-tums. Sie sah in ihnen in erster Linie gefährliche, wie sie es nannte kleinbürgerliche Schwärmer, die mit ihrem Engagement für eine historisch überholte Sache zum treuesten Sachwalter einer der Sache des Proletariats äußerst schädlichen Ideologie geworden seien. Unter dem Deckmantel aufrichtiger und unschuldiger patriotischer Gesinnung werde objektiv gegen die Interessenlage des Proletariats in den polnischen Gebieten verstoßen. Folglich dürfe das Proletariat diesem Schwärmen für eine totgesagte Idee keinerlei Zugeständnisse machen. Deshalb richtete sich Luxemburgs Hauptaugenmerk in dieser Frage zunächst auf die Ausein-andersetzung mit der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), die als Partei des „Sozialpatriotismus“ sie abqualifizierte. Die Entscheidung, die sie forderte, lautete: „hie Sozialismus, hie Patriotismus“. Kompromisse in der Diskussion, etwa mit Kelles-Krauz, der in den Reihen der PPS für eine Verbreitung der marxistischen Theorie stritt, waren fortan undenkbar. Die durch Luxemburg ideologisch maßgeblich ausgerichtete Sozialdemokratie des russischen Teils (SDKPiL) bekämpfte jedes kleinste Zugeständnis an den Unabhängigkeitsgedanken als Verrat an den Ideen des für eine sozialistische Perspektive kämpfenden Proletariats. Die vorgebrachten Argumente stützten sich im wesentlichen auf die in ihrer Dissertation über die industrielle Entwicklung Russisch-Polens dargelegten Erkenntnisse, die dank der konsequenten und rechten Anwendung der Marxschen Theorie (worunter seinerzeit unisono die materialistische Geschichtsauffassung verstanden wurde) auf den zu untersuchenden Gegenstand sie gewonnen zu haben meinte.

Als wichtigstes Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung, den dieser Teil Polens nach der Niederlage des Januaraufstands genommen hatte, nannte die Autorin die Ausrichtung der Interessen der einheimischen Bourgeoisie auf die durch die Nähe zum attraktiven russischen Markt mehr oder weniger akzeptabel erscheinende Situation der Aufteilung des Landes. Die eine große gesellschaftliche Klasse der Gegenwart zeige mithin kein gesondertes Interesse mehr an der nationalen oder polnischen Frage, habe sich von derartigen Absichten losgelöst, was die Autorin an anderer Stelle stets durch den Verweis auf das gescheiterte positivistische Programm nachzuweisen suchte. Denn mit diesem vorzugsweise literarischem Programm der 1880er-Jahre habe die bürgerliche Klasse in Russisch-Polen letztmalig ernsthaft versucht, sich die Sache der Nation und der polnischen Unabhängigkeit auf die Fahnen zu schreiben. Das Scheitern dieses Programms komme folglich dem Abschied von einer nicht mehr haltbaren Illusion gleich, was also bedeutete, dass das Engagement für das Geschäftsinteresse im modernen Kapitalismus immer dann, wenn es sich zu lohnen scheint, auf altgewordene und nicht mehr zeitgemäße Tradition zu verzichten weiß.

Weshalb nun, so Luxemburgs prinzipielle Fragestellung, sollte das Proletariat, die andere wichtige gesellschaftliche Klasse, diese von der Bourgeoisie zu Seite gelegte Angelegenheit unbedingt zu der seinigen machen? Bereits durch seine Zusammensetzung zeige das Proletariat in Russisch-Polen nur noch wenig Verbindendes mit dem alten Polen, von dessen Auferstehung in der romantisch-messianistischen Literatur geträumt wurde. Weder der aus bäuerlicher Herkunft stammende polnische noch der aus kleinen und kleinsten Verhältnissen stammende jüdische Arbeiter könnte ein gesondertes Interesse haben an einer Aufgabe, an der bereits das alte Adelspolen, die romantischen Aufständischen und die einheimische Bourgeoisie gescheitert seien. Sein Interesse könne er nur wahren im unbeirrten Kampf gegen die einheimische Bourgeoisie, denn selbst das Wunder der Auferstehung Polens würde an seiner misslichen Lage keinen Deut ändern.

Luxemburgs unabhängigkeitsfeindliche Auslegung der vorgebrachten wirtschaftlichen Tatsachen beruhte auf zwei folgenschweren Fehleinschätzungen. Erstens übersah sie die innerhalb der polnischen Diskussion um Unabhängigkeit und zu-künftige Gestalt des Landes sich anbahnenden Veränderungen. Die politische Meinung nahm allmählich Abschied von der tatsächlich als Illusion sich immer mehr erweisenden Vorstellung, es könnte eine Auferstehung in den Grenzen von 1772 geben. Die nationalen Erweckungsbewegungen in Litauen, Belorussland und der Ukraine richteten sich nicht nur gegen die russische Herrschaft, sie verweigerten sich auch prononciert einem zukünftigen polnischen Hegemonialanspruch. Ironischerweise gab es in den Überlegungen jenes Politikers, der später als Vater der polnischen Unabhängigkeit sich durchsetzen und in die Geschichtsbücher Eingang finden sollte, bei Józef Piłsudski tatsächlich noch die meisten Anklänge an die Illusionen des 19. Jahrhunderts. Sein Schwärmen für eine große Föderation der Polen, Litauer, Ukrainer und Belorussen uferte tatsächlich bis zu den Grenzen von 1772 aus, fand aber sehr schnell sein Maß in den Tücken der Tages- oder Realpolitik. Zurück zu Luxemburg. Sie bewertete diese sich abzeichnenden Änderungen im geistigen Klima des Landes als zusätzliche und willkommene Bestätigung ihrer Überlegungen. Sie bekämpfte aus voller Seele den Patriotismus als eine der Arbeiterbewegung feindliche Ideologie somit in einer Gestalt, die tatsächlich durch die Zeit überholt wurde. Den auch unter Polen an Einfluss gewinnenden modernen oder bürgerlichen Nationalismus allerdings, der im Programm der Endecja überaus deutlich sich verkörperte, übersah sie weitgehend.

Dafür witterte sie Unheil umso mehr aus einer Richtung, die für eine schlagkräftige und ideell bewährte politische Bewegung der Arbeiter Polens sehr wichtig gewesen wäre. Die Anzeichen einer verstärkten Rückbesinnung auf das Erbe des polnischen Messianismus im geistigen, insbesondere literarischen Leben wertete sie lediglich als vergeblichen Versuch einer kleinen Schicht der Gesellschaft, den verloren gegangenen Führungsanspruch wenigstens auf geistigem Gebiet zu beanspruchen. Zwischen die Mühlensteine der Geschichte gekommen, unentschlossen, an welche der beiden Hauptklassen sie sich anschließen sollten, offerierten diese besorgten Köpfe einen angesichts der übersichtlichen Kampfsituation völlig überflüssigen Blick zurück, der alleine den Kräften des „Sozialpatriotismus“ Vorschub leiste. Und so beschimpfte noch als zögernde, schwankende „Kleinbürger“ sie diejenigen, die wenig später als „Intellektuelle“ in der Öffentlichkeit weithin bezeichnet wurden. Das Misstrauen gegen Intellektuelle nistete sich unter dem Vorwurf, es handle sich bei ihnen um die unbelehrbaren und unverbesserlichen Schwärmer einer untergegangenen Idee, in die revolutionäre, auf den Sozialismus zielende Arbeiterbewegung Polens ein. Eine Weichenstellung, die noch Jahre später teuer bezahlt wurde.

Das zweite Fehlurteil Luxemburgs betraf den wirklichen Zustand und die Entwicklungsperspektive des Proletariats in Polen und vor allem in Russland. In Verkennung der Marxschen Warnung, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selber machten, aber unter vorgefundenen Bedingungen, die nicht ihrem Willen gehorchten, ging sie von einem Zustand des Proletariats aus, der einem Lehrbuch hätte entsprungen sein können. Denn Luxemburg fand in ihm geradezu den idealen, weil jungfräulichen Vollstrecker des ehernen, gesetzmäßigen Ganges der geschichtlichen Entwicklung, der zur Befreiung dieser Klasse selbst und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft von revolutionärer Tat sich durch nichts würde abbringen lassen. Die staatliche Unabhängigkeit hielt sie deshalb im polnischen Fall für eine völlig überflüssige Frage, da sie durch die Geschichte – wenn auch zum Leidwesen der patriotisch gesinnten Polen - bereits ausreichend und endgültig beantwortet wurde. Da Sozialismus als Nahziel des revolutionären Prozesses für sie selbstredend die Überwindung aller Nationalstaatlichkeit bedeutete, stellte sich ihr die Frage nach dem Sinn des Unabhängigkeitskampfes einfach nicht mehr. Zu welchem Zweck sollte dem Proletariat dieses eher nebensächliche Problem angetragen werden?

Luxemburgs revolutionäre Ungeduld andererseits ist angesichts der Situation der Jahrhundertwende überaus verständlich. Fast scheint sie die Flucht aus den gefährlichen Fallstricken des Nationalismus und des Imperialismus ihrer Zeit herbeizuflehen, für die sie im zeitgenössischen Proletariat, egal ob in Deutschland, Polen, Russland oder anderswo in Europa, den geeigneten Vollender sah. Anziehend für uns Nachgeborene, dass in der Stunde der bitteren Niederlage, die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit jubelnden, kriegsbegeisterten und bereitwillig nationalistischen Parolen folgenden Massen bedeutete, sie sich nicht beirren ließ und klaren Kurs hielt auf die Stunde der Entscheidung. Warum hätte sie diese in der Zeit der tiefsten revolutionären Erschütterungen, die das moderne Europa mit dem Ende des Krieges jemals zu sehen bekam, nicht für herangereift halten sollen? Doch ihre Ermordung bezeichnete gleichnishaft das Ende der Hoffnungen auf eine proletarische Revolution in Deutschland. Dass ausgerechnet polnische Arbeiter, die in beträchtlicher Größenordnung und freiwillig im Sommer 1920 als Damm gegen die „bolschewistische Flut“ sich verwenden ließen, die allerletzte und weiß Gott ungünstigste Möglichkeit einer solchen Revolution auslöschten, indem sie den Ruf, das Vaterland zu verteidigen, höher stellten als alle Aufrufe zu Solidarität mit den Klassenbrüdern anderswo, kann mit dem Wissen über den weiteren Geschichtsverlauf durchaus als tragischer Fall verstanden werden.

Auch wenn Rosa Luxemburg als Prophetin der Revolution offensichtlich scheiterte, so blieb sie unter den Deutschen, die das Ziel einer die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse überwindenden gesellschaftlichen Ordnung nicht aufgaben und nicht aufgeben, ein Mensch höchster Wertschätzung und Verehrung. Zwei Jahre nach ihrem Tod auf der Barrikade der Revolution würdigte Georg Lukács sie in dem Beitrag „Rosa Luxemburg als Marxist“, worin er sie vor allem als Autorin der berühmten Arbeit „Die Akkumulation des Kapitals“ auswies. Über die Richtigkeit ihrer Hauptthese, dass durch die Unmöglichkeit einer unbegrenzten Akkumulation das Ende der kapitalistischen Produktion prognostizierbar werde, bei Gelegenheit mehr.