Die Gedichte der Zofia Ilińska (1921-1995)

 

Die Geschichte einer polnisch-englischen Lyrikerin

 

Von Hans-Christian Trepte

 

Den Lesern von "POLEN und wir" ist sie schon einmal begegnet - als eine der Hauptfiguren in dem Roman "Das Haus der Bronskis" (siehe "POLEN und wir" 4/1998). Darin schildert der englische Autor des Buches Philip Marsden mit viel Wärme und einem beachtlichen erzählerischen Talent die vergangenen und heutigen Zeiten in den "kresy", den ehemaligen polnischen Randgebieten, die heute zu Weißrussland gehören. Der Roman verknüpft die Biographien der Zofia Ilińska und ihrer Mutter Helena mit einem Reisebericht. Marsden hatte die Exilpolin und Lyrikerin Zofia Ilińska 1992 auf ihrer Reise in das Land  und in das Dorf ihrer Kindheit begleitet. Dieses Buch strahlt Wärme aus und das glücklicherweise ohne jeglichen Anflug von Sentimentalität. Es ist ein Roman über Polen und über die Lebensfreude und das Leid der zwei tapferen Frauen- Helena und Zofia Ilińska.

 

Zofia Ilińska wurde 1921 im Nordosten der östlichen Grenzgebiete der Zweiten Polnischen Republik (II Rzeczpospolita) geboren, die heute zu Litauen bzw. zu Belarus gehören. 1920 waren ihre Eltern in die alte Heimat zurückgekehrt, um ihr niedergebranntes Gut bei Moryn am Niemen wieder aufzubauen. Sechzehn Jahre später, am 17. September 1939, musste die Familie erneut flüchten. Dem Geheimabkommen zwischen Ribbentropp und Molotow folgend, hatte die Rote Armee Ostpolen besetzt. Über das noch freie Litauen gelangte Zofia Ilińska in den Westen und fand in England eine neue Heimat. In Essex erlernte sie die englische Sprache, um schließlich englische Literatur an der Universität von Reading zu studieren. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sie zwei Gedichtbände in polnischer Sprache vollendet. 1946 heiratete sie und zog nach St Mawes in Cornwall. Dreißig Jahre lang führte sie mit ihrem Ehemann verschiedene Ferienhotels; geschäftliche Verpflichtungen hielten sie dabei oft vom Schreiben ab. In ihrem Buch Horoscope of the Moon schreibt sie über ihr Leben nach dem Ableben ihres Mannes und über den plötzlichen Tod ihres einzigen Sohnes, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Während der kurzen Cornischen Sommer kümmerte sie sich um ihre Feriengäste, die langen Winter waren dagegen ganz dem Lesen und Schreiben vorbehalten. Zofia Ilińska las in polnischer, englischer und französischer Sprache; ihr großes literarisches Vorbild war T. S. Eliot. So übertrug sie u.a. sein Murder in the Cathedral (1939, deutsch Mord im Dom, 1946) ins Polnische.

Den Gedichtband Address of Paradise (1996), bereits in der englischen Adoptivsprache geschrieben, widmete Zofia Ilińska fast ausschließlich ihrer gespaltenen bzw. doppelten Identität und dem Problem der Sprache bzw. des Sprachwechsels. Die in Englisch verfassten Gedichte einer aus dem polnischen Sprach- und Kulturkontext stammenden Autorin stellen eine Ausnahme dar. Wenn ein Sprachwechsel in der Fremde des Exils erfolgreich vollzogen wurde, dann geschah das in erster Linie in der Prosa und Dramatik, doch fast nie in der Lyrik. Zahlreiche, in den englischen Text eingeflochtene polnische Wörter unterstreichen die polnische Herkunft und kulturelle Identität von Zofia Ilińska.  Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durfte sie 1992 ihr Heimatland am Fluss Niemen (Memel) wiedersehen. Wie bereits vor siebzig Jahre ihre Eltern kam nun die Tochter in ihr Dorf zurück, fand ihr Vaterhaus verwüstet und die Gräber zerstört vor. Nach ihrer Rückkehr nach England stiftete sie einen Fonds, um die Gräber und die kleine Kapelle wieder aufbauen zu lassen. Im Juni 1994 fuhr sie aus Anlass der Kirchweihe der katholischen Kapelle wieder in ihr geliebtes Land am Niemen. Es sollte ihre letzte Reise sein. Kurz nach ihrer Rückkehr nach England erkrankte sie; Krebs wurde diagnostiziert, an dem sie im Oktober 1995 starb.

Address of Paradise, die dritte in englischer Sprache verfasste Gedichtsammlung der Autorin, ist zum größten Teil ein Ergebnis der in das Land der Kindheit unternommenen Reisen. Mit ihren Gedichten versucht die Autorin, die immense Distanz zwischen ihrer ersten Welt am Niemen und der zweiten Welt im britischen Cornwall zu überbrücken. Beim Wiedersehen mit der alten Heimat musste sie erstaunt feststellen, dass sie am heimatlichen Fluss nur in polnischer Sprache schreiben konnte. So ist das Gedicht "Niemen", das Zofia Ilińska am Flussufer in den Sinn kam, in polnischer Sprache entstanden und wurde später von der Verfasserin ins Englische übertragen.

Zu den wichtigsten Schlüsselwörtern im literarischen Werk von Zofia Ilińska gehören die Ausdrücke "word" (das Wort) und "roots" (Wurzeln). Beide Begriffe widerspiegeln die eigene Exilerfahrung, den komplizierten Sprachwechsel, das Schreiben in einer fremden Sprache, die traumatische Entwurzelung nach Flucht und Vertreibung und die problematische Neuverwurzelung im Gastland sowie die daraus erwachsene doppelte kulturelle Identität, die von der sensiblen Dichterin immer wieder künstlerisch hinterfragt und zum Ausdruck gebracht wird. Bezüge zur Bibel werden im literarischen Werk der Ilińska ebenso deutlich wie der stete Bezug auf die gesamte europäische Kultur im westlich-abendländischen Sinn.

Zofia Ilińska fühlte sich als ein Kind Europas, sie kam aus einem Teil des Kontinents, der mit den dort einst lebenden bunten Menschengewirr aus Polen, Weißrussen, Juden, Russen und Zigeunern, durch Kriege, Revolutionen und Vertreibung verschwunden ist und nur noch in den Erinnerungen der Überlebenden fortlebt. Das Bändchen Address of Paradise, aus dem hier eine Auswahl von Gedichten vorgestellt wird, gehört zu jenen wertvollen intim-persönlichen Zeugenaus-sagen, in denen sich das Leben und das Leid von Millionen Europäern aus dem "anderen Europa" widerspiegeln, die ihre alte Heimat verloren und das Glück hatten, eine neue zu finden.

 

Der Autor und Übersetzer der Gedichte ins Deutsche war Dr. Hans-Christian Trepte, Polonist, Leipzig.