Zum Tod Luise Rinsers

 

Das “Gewissen Deutschlands” nannte sie der wenig jüngere Heinrich Böll, der ihr an Einsicht in die innere Verfassung der deutschen Nachkriegsrepublik nicht nachstand. Es war, zeitgemäß, von den Nationalsozialisten geweckt worden, die die junge Volksschullehrerin wegen Hochverrats und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilten, und es war das Gewissen einer katholischen Christin, das sich mit dem Rüstzeug der Sinnsuche eines seiner selbst bereits ungewissen Bürgertums im Stile Hermann Hesses den vielfältig andrängenden Fragen der Zeit öffnete und stellte. Das Rüstzeug war weniger analytisch als parteinehmend für das als bedrohter Besitz oder als Voraussetzung einer menschenwürdigen Zukunft Erkannte und wenn sich die Autorin selbst als Christin und als Sozialistin bezeichnete, so blieb das sozialistische Bekenntnis das Ergebnis verständiger Einsicht, ohne politisches oder schriftstellerisches Programm zu werden. Dem Eintreten für das unverzichtbare Konstitutivum menschlicher Gesellschaft war auf diese Weise ein weiter Horizont gesetzt und die Autorin hat ihn, “wandelmutig”, zu großen Teilen ausgeschritten. Polnisches hat sie zuerst in ihrem Roman Jan Lobel aus Warschau (1948) behandelt, der die Rettung eines polnischen KZ-Flüchtlings durch Frau und Tochter eines deutschen Frontsoldaten schildert. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte sie zu den unbeirrbaren Parteigängern der Ostpolitik Willy Brandts, die die Grundlagen des heutigen deutsch-polnischen Verhältnisses legte. Der Beirat unserer Gesellschaft verliert mit Luise Rinser eine Vertreterin des von Hause konservativen Teils der Generation ihrer Gründungsmitglieder, der unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Katastrophe den Besitzstand bürgerlicher Zivilisation als unabdingbaren Nährboden gesellschaftlicher Fortentwicklung zu wahren und auszugestalten suchte und eben dadurch in ehrenvollen Widerspruch zu der anderen Zielen verpflichteten Entwicklung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft geriet.        C.K.

 

Abenteuer der Tugend

Prophetin einer radikalen franziskanischen Liebe: Im Alter von neunzig Jahren ist die Schriftstellerin Luise Rinser gestorben

 

Von Albert von Schirnding

 

Die Geburtstagsfeier am 30. April des vergangenen Jahres im Literaturhaus, mit dem Münchner Oberbürgermeister als Festredner, musste ohne die Neunzigjährige stattfinden. Luise Rinser war von Rocca di Papa in der Nähe von Rom nach München gekommen und beim Verlassen des Flugzeugs auf der Rolltreppe gestürzt. Der Heimatboden war der 1911 im oberbayerischen Pilzing bei Landsberg als Tochter eines Lehrers geborenen, in einem Dorf in der Chiemseegegend aufgewachsenen Schriftstellerin, die seit dreieinhalb Jahrzehnten in Italien lebte, zum Verhängnis geworden. Jedenfalls hätte eine solche schicksalhafte Deutung des Unfalls zu ihrer Optik gepasst. Die Rebellin entwickelte in der Auseinandersetzung mit der Welt ihrer Herkunft ihren sprachmächtigen Widerspruchsgeist, so sehr auch die Volksschriftstellerin aus dem vitalen Reservoir ihres Ursprungs schöpfte.

 

Mit dem Roman “Mitte des Lebens” erzielte sie im Jahre 1950 ihren ersten großen Erfolg. Edel, hilfreich und gut, wie es eigentlich nur im Buche steht, dabei kraftvoll-unkonventionell ist seine Heldin, und unzählige Leserinnen wollten ihr unbedingt gleichen. Nina war als Identifikationsfigur angelegt und wurde als solche angenommen.

Das gleiche Schreibrezept bewährte sich in den rasch einander folgenden Romanen “Daniela”, “Der Sündenbock”, “Abenteuer der Tugend” und “Die vollkommene Freude”. Mit diesem 1962 erschienenen Buch endete die Reihe der Romane, denen Luise Rinser ihren außerordentlichen Ruhm und eine riesige Lesergemeinde, die ihr bis heute die Treue hält, verdankte.

Man würde es sich aber zu leicht machen, sie als Erbauungsschriftstellerin abzutun. Die Bücher sind blendend erzählt. Und es gibt noch eine andere Luise Rinser, eine der leiseren, differenzierteren Töne. Man lese die anrührende Kindheitsgeschichte “Die gläsernen Ringe” nach, mit der sie 1941 im S. Fischer Verlag debütierte. Die Lektüre lohnt immer noch. Eine geradezu klassische Novelle legte sie 1948 mit der Erzählung „Jan Lobel aus Warschau” vor.

Als die Autorin älter wurde, trat das Pädagogische einerseits, das Rebellische andererseits immer stärker in den Vordergrund. Als Lehrerin hatte sie angefangen, und die Tendenz, auf den Leser belehrend, verbessernd, helfend und tröstend einzuwirken, führte nun zu traktathaften Büchern wie “Gespräche über Lebensfragen”, “Gespräch von Mensch zu Mensch”, und zu den zahlreichen, als Tagebuchaufzeichnungen firmierenden Sammelbänden, in denen sie Reiseeindrücke festhielt und ihre Ansichten zu Gott und der Welt, einer sehr im Argen liegenden, überaus veränderungsbedürftigen Welt voller Ungerechtigkeit und menschlichem Elend äußerte. Das Religiöse spielt dabei immer eine dominierende Rolle. Die ursprüngliche katholische Position wurde durch zunehmend scharfe Kritik an der Kirche und eine gewisse Neigung zu esoterischen Bewegungen schließlich weit über ihre angestammten Grenzen ausgedehnt.

Es fehlte ihr weiß Gott nicht am Mut, auch an der Lust zum Widerspruch. In den späten siebziger Jahren sah sich Luise Rinser bald zur “Sympathisantin” abgestempelt -

das Wort war ein eindeutiges Schimpfwort und musste nicht eigens um diejenigen, denen die Sympathie galt, ergänzt werden. Sie mischte sich ein und erregte Anstoß. Der Prophetin einer radikalen franziskanischen Liebe schlug ungewöhnlich viel Hass entgegen.

Ihre Ehe mit Carl Orff in den fünfziger Jahren war ein Missverständnis, das sie aber viele Sympathien kostete. Dass sie ihre Briefe an den Jesuitenpater Karl Rahner noch 1994 veröffentlichte, wurde ihr als unerhörte Taktlosigkeit angekreidet. Die ihr von den Grünen angetragene Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten im Jahre 1984 trug auch nicht unbedingt zu ihrer Reputation bei.

Da sie sich als eine Art Jeanne d’Arc im Kampf gegen das Böse sah, auch gern in die Märtyrerrolle schlüpfte, musste sie es sich gefallen lassen, dass man ihr die eigenen Fehler besonders hämisch vorrechnete. Sie war 1944 bei den Nazis denunziert und von ihnen eingesperrt worden. Ihr eindrucksvolles “Gefängnistagebuch”, das schon 1946 erschien, trug ihr den Ruf einer Widerstandskämpferin im Dritten Reich ein. Dann aber entdeckte man auch in ihrem Frühwerk das obligatorische Hitler-Gedicht.

Der württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger wünschte einst viel Erfolg im Kampf gegen Luise Rinser. Das allein müsste eigentlich schon alles aufwiegen, was man ihr an Selbstgerechtigkeit vorwarf. Nun ist Luise Rinser in einem Stift im oberbayrischen Unterhaching gestorben. Sie war eine bedeutende literarische Figur und eine Frau, nehmt alles nur in allem, von großem Format.                  

 

(Der Artikel ist anlässlich des Todes von Luise Rinser im März dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Wir danken Herrn von Schirnding und der Süddeutschen Zeitung für das einmalige Nachdruckrecht.)