Brief einer Polin an Frau Gerta, eine unbekannte Deutsche

Die Geschichte eines gewissen Sekretärs

 

Verehrte Frau Gerta!

 

Ich hege nicht allzuviel Hoffnung, dass Sie dieser Brief erreicht und eine Sache aufklärt, die mir seit einiger Zeit keine Ruhe gibt. Ich habe allerdings die Hoffnung, dass Ihre Kinder oder Enkel in Deutschland wohnen und ihnen die auf den ersten Blick banale Geschichte eines Sekretärs, der nach dem Krieg in meinen Besitz gelangte, nicht durch eine Schenkung oder durch Kauf und Verkauf, sondern im Ergebnis der Geschichte, einiges verdeutlicht. Über das Drama der polnisch-deutschen Beziehungen begann ich erst unlängst ernsthaft nachzudenken. Eben im Zusammenhang mit dem erwähnten gewöhnlichen Möbelstück. Der schöne Sekretär, der bereits über 100 Jahre alt ist und der nach dem Krieg in meinen Besitz gelangte, als ich noch ein Kind war, begleitete mich mehr als ein halbes Jahrhundert (...) Er war und ist mein geliebtes Möbel; die anderen, die in meinem Zimmer stehen, sind mir im Prinzip gleichgültig. Dieser Sekretär, der mit mir von Stadt zu Stadt zog, war Zeuge meiner Erfolge und Niederlagen. Heute kann ich mir keine Situation vorstellen, in der ich diesen meinen Sekretär – und einst der Ihre – verlieren könnte.

 

Die Erkenntnis, dass er fremdes Eigentum ist, gewann ich unlängst. Nachdem ich bereits emeritiert war, begann ich, den Inhalt seiner Schubfächer zu ordnen und habe jedes einzelne vollkommen herausgezogen. Und so habe ich auf einer der Rückwände der Schubfächer einen – höchstwahrscheinlich mit einem Nagel – eingekerbten Namen entdeckt: Gerta. Ich gebe zu, dass dies auf mich einen ziemlichen Eindruck gemacht hat.

Nachdenken über Frau G.

Ich habe reflektiert: Das war einst der Sekretär nicht irgendeiner Deutschen, sondern konkret einer Gerta. Es kann sein, dass es auch ihr geliebtes Möbelstück war, so wie es dieses für mich wurde. Sicherlich saß sie genau so wie ich an ihm und erledigte ihre Hausaufgaben, dann schrieb sie Briefe an ihre Bekannten, entwarf Pläne für die Zukunft.

Unbekannte Frau Gerta, während ich Ihnen diesen Brief schreibe, bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Wahrheit über die Vergangenheit, auch wenn ich nicht weiß, wie bitter sie war, uns helfen kann, die Wunden zu heilen. Diese Wahrheit brauchen wir Polen, die wir in den Jahren der Hitlerokkupation so fürchterliche Erfahrungen machen mussten, aber ich denke, dass auch die Deutschen wie Sie und Ihre Familie sie benötigen, die infolge der Anordnungen der Mächtigen dieser Welt nach dem Krieg aus ihren heimatlichen Gefilden vertrieben wurden.

Ich kenne das Drama von Ihnen und Ihrer Familie nicht, die schön möblierte Wohnung zu verlassen, in der auch der Sekretär stand, der heute mir gehört. Ich versuche mir vorzustellen, was Sie durchgemacht haben, als Sie ihre Heimat verließen und nicht nur Ihre gesamte Habe, sondern auch die Gräber Ihrer Nächsten zurücklassen mussten. (...)

Der Krieg gegen Polen

(...) Ich wurde gerade in jenem Jahr geboren, als Hitler in Deutschland an die Macht kam. Möglicherweise war jener Januar 1933 für Sie und Ihre Familie ein freudiger Tag, weil Hitler den Deutschen neue große Perspektiven aufzeigte. Aber es ist auch möglich, dass dieser Tag sich – wie auch für meine Eltern – mit nichts besonders Wichtigem oder Drohendem verband. (...)

Ich bin aufgewachsen in einer Atmosphäre der Bedrohung durch das bolschewistische Russland und nicht durch Deutschland, obwohl die Forderungen Hitlers, die den Lebensraum betrafen, von ihm ausgingen. Heute weiß ich, dass Polen auf einen Krieg absolut unvorbereitet war. (...)

Der Befehl Hitlers vom 1. September 1939, Polen zu überfallen, traf meine Eltern völlig überraschend. Vielleicht haben Sie, Frau Gerta, am 1. September 1939 wie auch andere deutsche Kinder das neue Schuljahr begonnen. Ich, ein noch wenig verstehendes sechsjähriges Mädchen, floh mit meiner Mutter und den Schwestern vor den Bomben, die damals auf Warschau fielen. Tausende Warschauer zogen nach Osten, flohen vor den Soldaten der Wehrmacht, die in Polen eindrangen. Wir blieben in der Hauptstadt und warteten auf die Rückkehr des Vaters, der im August 1939 eingezogen worden war.

Es begannen die tragischen Jahre der faschistischen Okkupation. Als Kind musste ich mit ansehen, dass Polen an den Wänden der Häuser durch die Gestapo mit dumpfer Rücksichtslosigkeit erschossen wurden. (...) Ich ging in die Schule, wo es nicht erlaubt war, die vaterländische Geschichte zu lehren, und die Noten auf den Zeugnissen waren polnisch und deutsch. 1942 machte ich den Schmerz der Trennung von dem geliebten Vater durch, den die Gestapo brutal aus dem Haus zerrte und in ein Arbeitslager nach Deutschland brachte. In dieser Zeit, als der einzige Ernährer der Familie fehlte, unternahm meine Mutter alles mögliche, um irgendwie mit uns Kindern diesen furchtbaren Krieg zu überleben. 

Der Krieg kehrt zurück nach Deutschland

Frau Gerta, ich weiß, dass dieser Krieg in seiner Endphase auch für das deutsche Volk tragisch war. Wenn Sie mit mir gleichaltrig sind, dann wird Sie gewiss wie auch mich die Frage quälen: Hatten wir Einfluss und welchen auf den Verlauf der tragischen Ereignisse, deren symbolischer Gewissensbiss für mich der in meinem Zimmer stehende Sekretär von Ihnen wurde? Wir wissen, was seitdem in Deutschland und in Polen unternommen wurde, damit uns nach Jahrzehnten, die seit dem durch Hitler entfesselten Krieg vergangen sind, nicht eine Mauer des Hasses trennt! Wir wollen in einem vereinten Europa leben und das veranlasste mich ganz besonders, diesen Brief zu schreiben.

Der durch Hitler begonnen Krieg musste mit einer Niederlage und der Niederlage des Volkes enden, das in seiner Mehrheit den Führer unterstützte und ihm seine verbrecherischen Pläne erlaubte. (...) Millionen Deutsche, Soldaten der Wehrmacht, wurden getötet. Auf meiner polnischen Er-de finden sich ihre oft namenlosen Gräber. Schon als etwas älteres Mädchen, das mit der Mutter und zwei Schwestern am rechten Ufer der Weichsel wohnte, sah ich im Herbst 1944 die überraschten, vor der näher rückenden Roten Armee fliehenden deutschen Soldaten. Einen verwundeten jungen Burschen verband meine Mutter, die in einem Schuppen saß, in den der blutverschmierte Soldat gekommen war. Das war eine natürliche menschliche Reaktion. So etwas passierte damals öfter. Jedoch aufgrund der Verbrechen und Verwüstungen, die Hitler in meinem Land angerichtet hatte, konnte ich nach dem Krieg gegenüber den Deutschen nicht das geringste Mitgefühl empfinden. Allein schon der Klang der deutschen Sprache flößte mir Furcht ein.

Ich weiß: Später erfolgte die brutale Aussiedlung der Deutschen aus den Gebieten, die ihre Vorfahren seit Jahrhunderten bewohnten. Wir, die Polen, nannten jene Gebiete anfänglich die Wiedergewonnenen Gebiete; ihre Inbesitznahme betrachteten wir als historische Gerechtigkeit. Für die Deutschen, für Sie und Ihre Familie, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, war das eine Vergewaltigung der elementaren Menschenrechte. Sie trugen die kollektive Verantwortung für das, was Hitler tat, als er den Krieg begann und die Menschen-rechte in den von ihm unterjochten Ländern mit Füßen trat. Heute akzeptieren wir das Prinzip der kollektiven Verantwortlichkeit nicht, aber das verringert nicht ihre, der Vertriebenen, Tragödie.

Ein Strom polnischer Heimatloser zieht gen Westen

Es ist allerdings notwendig, dass Sie auch sehen, dass ebenfalls Hunderttausende Polen ihre Heimatgebiete im Osten verlassen mussten, weil die Mächtigen dieser Welt beschlossen, dass die östlichen Gebiete der Republik, die im September 1939 aufgrund des Paktes Hitler-Stalin besetzt wurden, nach dem Krieg zur Ukraine und zu Belorussland gehören werden. Die Polen aus diesen Gebieten mussten – möglicherweise unter nicht so tragischen Bedingungen wie die Deutschen – ihre Häuser, ihre Heimat verlassen und ein schwieriges Leben eben in jenen Wieder-gewonnenen Gebieten beginnen. Wenn es den durch Hitler entfachten Krieg nicht gegeben hätte, hätte es auch jene fürchterlichen Schrecken und Dramen für Millionen Polen und Deutsche nicht gegeben!

Wie mit den Deutschen umgehen?

Nach dem Krieg gelangte meine Familie nach Zabrze (Hindenburg), wo viel Arbeit wartete und das Wichtigste, eine möblierte Wohnung. Meine Eltern leben schon lange nicht mehr und sind in Zabrze beerdigt (...). Ich habe allerdings nie erfahren, welche Gedanken und Gefühle sie bewegten, als sie das im Laufe des Lebens von Ihrer Familie Erworbene in Besitz nahmen. Mir haben die Eltern den Sekretär geschenkt. In jener Zeit hat die offizielle Propaganda Gefühle des Hasses gegenüber den Deutschen, jenen Westdeutschen, geschürt, denn mit den Ostdeutschen befanden wir uns gemeinsam im sozialistischen Lager. Wir haben die westdeutschen Revisionisten zurückgewiesen, die die Rückkehr in die Gebiete an Oder und Neiße forderten. Polen erstand wieder nach den Kriegszerstörungen, die Wunden heilten. Ich kehrte nach Warschau zurück, um zu studieren. Allmählich geriet die Zeit des Krieges und der Hitlerokkupation in Vergessenheit.(...)

Und plötzlich, völlig unerwartet trat Mitte der sechziger Jahre ein besonderes Problem zu Tage:

Wir und die Deutschen.

Es geschah dies in Zusammenhang mit dem Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe, in dem sich die heute bereits historische Formulierung fand: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Sie müssen wissen, dass nicht nur ich, sondern die Mehrheit der Polen psychisch nicht vorbereitet war, die, wie ich heute weiß, weitsichtige Geste der polnischen Bischöfe zu akzeptieren, die durch die damaligen Instanzen Volkspolens nicht akzeptiert wurde. (...) Das Problem unseres Verhältnisses zu den Deutschen wurde jedoch von den polnischen Bischöfen auf die Tagesordnung gesetzt und erforderte irgendeine Lösung. Man konnte der Frage nicht mehr ausweichen: Sollen Polen und Deutsche auch weiterhin in gegenseitigem Hass leben oder müssen Wege zur Versöhnung gesucht werden?

Erst 1970 kommt die Gewissheit

Als erwachsene und gebildete Person sah ich, dass in Deutschland eine neue Generation herangewachsen war, die nicht vom Gift des Hasses gegenüber anderen Völkern infiziert war, dass in der Bundesrepublik Deutschland mit der Nazi-Vergangenheit abgerechnet wurde. Ich sah auch, dass Ende der sechziger Jahre Willy Brandt in Erscheinung trat, der erklärte, dass man „die Deutschen nicht mehr fürchten muss“. Gleichzeitig suchte er nach Möglichkeiten des Dialogs mit den polnischen Behörden. Aber – sicher wissen Sie das auch – war die Voraussetzung für einen solchen Dialog die Anerkennung unserer Westgrenze an Oder und Lausitzer Neiße durch die BRD. Für sie, die Vertriebenen (man sagte Umsiedler), war das schwierig zu akzeptieren. Für Millionen Polen wurde der 7. Dezember 1970, als es endlich zur Unterzeichnung des Vertrages in Warschau über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland kam, zu einem Tag der Freude und geweckter Hoffnungen für die Zukunft. Ihr Staat anerkannte unsere Westgrenze als dauerhaft und unantastbar. Seit dieser Zeit konnte man über weitere Schritte zur Versöhnung nachdenken. Der Anfang war gemacht. Er musste die gewünschten Früchte tragen.

Erinnerungen für die Zukunft

Später, Ende der achtziger Jahre, ging der Jahrzehnte dauernde Abschnitt des kalten Krieges zu Ende, als die Berliner Mauer fiel, die ihr Volk trennte, als Polen die volle Souveränität erlangte. Ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Aussöhnung war die Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Jetzt bereits mit dem vereinigten Deutschland. Der Prozess der Annäherung, der Versöhnung, des gegenseitigen Verständnisses dauert an und wird sich gewiss mit unserem Eintritt in die Europäische Union vertiefen.

Unbekannte Frau Gerta! Ich reiche Ihnen die Hand zur Versöhnung. Ich bitte nicht um Verzeihung, weil das im Kontext dessen, was ich in diesem Brief geschrieben habe, unangemessen wäre. Ich bitte um Verständnis und ums Überdenken der Situation, die ich Ihnen im Zusammenhang mit dem Auffinden des Namens Gerta, (...) zu beschreiben bemüht war. Nur durch das Erkennen der eigenen Wurzeln und des Verständnisses für das Drama der Geschichte, das wir durchlebten, können wir an ein freundschaftliches Zusammenleben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft denken. Ihr Sekretär, an dem ich diesen Brief schreibe, möge ein Möbelstück sein, das uns fernerhin nicht trennen wird. Ich werde es meinen Kindern und Enkeln zusammen mit diesem Brief an Sie  weitergeben. Ich möchte, dass Sie wissen, welch tragische Wahrheit in diesem gewöhnlichen-ungewöhnlichen Möbel steckt. Ich hoffe, dass unsere Enkel auch auf neue Art und Weise auf das schauen, was uns, Polen und Deutsche, in der Vergangenheit trennte. Ich glaube zutiefst, dass ihr Bewusstsein niemals durch das Gift des Hasses getrübt sein wird und das Leben selbst die noch in unseren Völkern vorhandenen Voreingenommenheiten beseitigt.

Ich grüße Sie aus Warschau

Eleonora Anna Salwa                             

(Aus: Trybuna Nr. 178 vom 23. November 2001, Beilage, Übersetzung: Diemut Lötzsch, Berlin; Zwischenüberschriften von der Redaktion)