Ein „Zentrum gegen
Vertreibungen“ in Breslau ?
Von Markus Meckel
Seit einigen Jahren wirbt der „Bund der Vertriebenen“ in Deutschland und seine Vorsitzende, Frau Steinbach, für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, das nach deren Vorstellung unter der Beteiligung des deutschen Staates in Berlin errichtet werden soll. Obwohl es dafür in Deutschland nicht nur im konservativen Lager, sondern auch unter Sozialdemokraten wie dem Bundesinnenminister Otto Schily und Peter Glotz manche Sympathie und Zustimmung gibt, trifft diese Vorstellung in den Reihen der regierenden Koalition auf breite Ablehnung. Bei einer Podiumsdiskussion in Potsdam, bei der es um die Geschichte der deutschen Kultur im östlichen Europa ging, äußerte der Staatsminister für Kultur im Bundeskanzleramt Nida-Rümelin seine Sympathie für den Vorschlag Steinbachs. In meiner Entgegnung bekräftigte ich meine Ablehnung und meinte, dass ich mir ein Zentrum gegen Vertreibung nur ganz anders vorstellen könne: Man könnte es mit Polen gemeinsam errichten, etwa in Breslau.
So kämen allein durch die Wahl des Ortes automatisch schon
zwei Vertreibungsgeschichten nach Kriegsende 1945 zur Sprache – sowohl die der
Deutschen aus den früheren deutschen Gebieten wie auch die mit der von Stalin
durchgesetzten Westverschiebung Polens verbundene Vertreibung der Polen aus den
ehemaligen polnischen Gebieten in der heutigen Ukraine, Weißrußland und
Litauen. (...)
Von Beginn an müsste man in europäischen Dimensionen denken
und sich nicht auf nationale, aber auch nicht auf bilaterale Geschichtsdarstellung
beschränken. Das sollte dann natürlich auch in der Ausstellung und in der
Zusammensetzung von Gremien zum Ausdruck kommen. (...) Aber auch die neuere
Vertreibungsgeschichte in Südosteuropa müsste Thema sein. Es ginge um das Leid
der Menschen und die gemeinsame Verantwortung, dass solches nicht wieder
geschehen darf.
(...) Gegenüber manchen Irritationen ist es mein Anliegen,
dass der Ursprung dieser Idee deutlich wird, aber auch ihr intendierter
Zusammenhang. Natürlich kenne ich den berechtigten polnischen Grundsatz: Nichts
über uns ohne uns! Ich glaube auch nicht dagegen verstoßen zu haben. Wie soll
man eine Idee bei einer Podiumsdiskussion abstimmen? Doch man soll eine Idee
kritisch diskutieren. (...)
Es gibt heute - anders als in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts - einen breiten internationalen Konsens darüber, dass Vertreibungen,
heute wird oft von "ethnischen Säuberungen" gesprochen, Unrecht sind
und verhindert werden müssen. Vertreibungen beruhen auf der Kollektivschuldthese
und sind nach unserem Verständnis heute immer Unrecht. Jede Darstellung von
Vertreibungen der Vergangenheit muss diese Position deutlich machen,
gleichzeitig aber natürlich den jeweiligen historischen Kontext, in dem dann
wiederum Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden dürfen. Und da ist es
natürlich klar, dass der deutsche Überfall auf Polen der historische
Hintergrund war für die Vertreibung der Deutschen, während die vertriebenen
Polen erst Opfer des Hitler-Stalin-Paktes waren und dann noch einmal der
siegreichen Antihitlerkoalition, für die Vertreibungen noch legitim erschienen.
Das lange dem Schweigen anheim gegebene Leid der Menschen
bei diesen Vertreibungen soll erinnert und dargestellt werden. Es kann und darf
nicht darum gehen, dieses Leid des einen Volkes gegen das der anderen zu wenden
oder aufzurechnen. Die jeweiligen Hintergründe und Zusammenhänge von
Vertreibungen und zwangsweisen Umsiedlungen waren recht verschieden - das Leid
der Menschen dagegen ähnelt sich sehr.
Ich bin in der DDR aufgewachsen, in welcher weder die
Vertreibung der Deutschen Thema der Erinnerung und Aufarbeitung war, noch wurde
jungen Menschen das Leid etwa der Polen nahe gebracht, welche durch die
Westverschiebung Polens ebenfalls vertrieben und umgesiedelt wurden und nun
vielfach in unserer unmittelbaren Nachbarschaft lebten. Ähnliche Erfahrungen
des Verschweigens wurden wohl in allen kommunistischen Ländern gemacht, auch in
Polen und der Tschechoslowakei.
Solches Beschweigen wirkt nach und hat Folgen - wenn auch in
unterschiedlichem Maße. In Polen habe ich nach 1990 eine ungeheure Entwicklung
erlebt, die durch die Solidarność länger vorbereitet war. Da hatte
man sich in ganz anderer Weise, als es öffentlich üblich war, mit der Geschichte
auseinandergesetzt. Eine längere Versöhnungsgeschichte hatte seit der
Ostdenkschrift der Ev. Kirche in Deutschland und dem Brief der polnischen
katholischen Bischöfe Mitte der 60er Jahre ihre Wirkung getan. (...) [Ich habe]
im Dezember 1996 in Warschau eine Konferenz der polnischen
Robert-Schuman-Stiftung erlebt, bei der ganz offen über die Fragen der
Vertreibung diskutiert wurde. Es waren auch Vertreter der Vertriebenen
eingeladen (sogar Herr Hupka war anwesend). Selbst wenn man ihren Standpunkt
nicht teilte - man hörte einander aufmerksam zu. Artur Hajnicz und Wlodzimierz
Borodziej hatten einen intensiven deutsch-polnischen Dialog und entsprechende
gemeinsame Prozesse der Forschung über diese Fragen in Gang gebracht. (...)
Solche Erfahrungen in Polen haben mir Mut gemacht, einen
solchen wie den genannten Vorschlag auszusprechen. Es ist gut, wenn eine
Diskussion darüber in Gang kommt, in Polen wie in Deutschland. Ich halte ein
solches Projekt nur für sinnvoll, wenn wir es schaffen, unsere schwierige
Geschichte gemeinsam zu schreiben und Lehren aus ihr ziehen. Und gerade in der
Frage der Vertreibung sind diese Lehren ganz aktuell und notwendig. (...)
(Rzeczpospolita, 7.3.2002; der Autor, Markus Meckel, MdB-SPD, ist Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages; Kürzungen durch POLEN und wir)