Reden wir über Meckels Vorschlag

 

Von Włodzimierz Borodziej

 

Stellen wir uns folgende Situation vor: Der Vorsitzende der polnisch-ukrainischen parlamentarischen Gruppe im Sejm [polnisches Parlament-Anm. d. Übers.], ein Politiker, der sich um den Dialog zwischen unseren Ländern überaus verdient gemacht hat, tritt mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, in Lemberg ein Museum – genauer gesagt: ein Dokumentationszentrum – für die Opfer des Stalinismus zu errichten. Polen wie Ukrainer waren Opfer, aber auch – und das nicht nur in Einzelfällen – Funktionäre des Systems; zwischen Ostsee und Adria gibt es viele Völker, die eine ähnliche Vergangenheit haben, und es lohnt sich wohl, über diese Vergangenheit in einem größeren, internationalen Kreis zu sprechen – zum einen, damit keiner jemals mehr auf solche Gedanken kommt; zum anderen aber auch, um die Wunden und Verletzungen nicht nur als Ergebnis des Handelns der anderen, „bösen“ Seite aufzufassen, sondern die eigene Haltung und ihren historischen Kontext besser zu verstehen.

Einige Tage später bekämen wir dann in einer großen ukrainischen Tageszeitung zu lesen, dass die Polen „über ein Stück Lembergs verfügen“ wollen, „ohne jedoch vorher die Hausherren über diese Absicht in Kenntnis zu setzen“. „Das ist ein Fehlstart“, schlösse der ukrainische Kommentator, „und verheißt nichts Gutes. Verschieben wir das Projekt, bis es ausgereift ist.“

Wir würden mit den Schultern zucken. Wie oft haben wir schon versucht, die Ukrainer zu überzeugen, dass wir Lemberg nicht wollen, sondern dass es uns nur um gute Nachbarschaft und darum geht, es den nächsten Generationen leichter zu machen, miteinander zu reden. Das bringt offenbar nichts, und man müsste tatsächlich auf die nächste Generation warten – aber worauf würden wir warten, wenn selbst der erwähnte Kommentator den Kopf in den Sand steckt, obwohl wir ihn für einen der ernsthaftesten potentiellen Gesprächspartner auf östlicher Seite gehalten hatten?

Der Kommentar von Andrzej Kaczyński (Rzeczpospolita vom 26.2.2002) zur Initiative von Markus Meckel (Vorsitzender der deutsch-polnischen parlamentarischen Gruppe im Bundestag), in Breslau ein internationales Dokumentationszentrum zur Vertreibung einzurichten, erinnert stark an die – in diesem Fall fiktiven – Untiefen des polnisch-ukrainischen Dialogs. Dabei kommt es gar nicht darauf an, woher der Autor die Gewissheit nimmt, dass in Breslau eine Filiale des in Berlin geplanten „Zentrums gegen Vertreibungen“ entstehen soll. Der Vorschlag lautete anders: Breslau statt Berlin. Auch ist es lässlich, nicht mitzubekommen, dass Meckel fast auf der Stelle von der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, attackiert wurde, die sich für die Entstehung des Dokumentationszentrums in Berlin ausspricht – mit dem zur Sache nichts beitragenden Argument, dass Vertreibung keine rein deutsch-polnische Angelegenheit sei – als ob der Ort, an dem das Zentrum entsteht, irgendetwas mit dem Programm dieser Einrichtung zu tun hätte. Betrübt hat mich der Kommentar von Kaczyński jedoch aus einem anderen Grund.

Seit dem Zerfall Jugoslawiens wissen wir, dass über den Mechanismus, der die Durchführung von ethnischen Säuberungen ermöglicht, noch lange diskutiert werden wird, und dass der Widerstand gegen Zwangsumsiedlungen zum Kanon der europäischen Grundwerte gehört und noch lange gehören wird. Anders gesagt: Wir kommen um dieses Thema nicht herum. Dass es nicht einseitig dargestellt wird, daran ist uns gelegen, damit nicht 70 oder 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Auffassung entsteht, das Ganze sei eine spezifisch deutsche Erfahrung. Polnische Historiker und Publizisten haben in den vergangenen zwölf Jahren gewaltige Anstrengungen unternommen, indem sie ethnische Säuberungen auf polnischem Boden untersuchten und diskutierten, deren Opfer bis 1945 Juden und Polen, nach 1945 Deutsche, Polen und Ukrainer waren. Zu dieser Debatte haben wir viel beizutragen – besonders die sehr aktiven Historiker in Breslau. Gern hören wir auch die Meinung der anderen, weil es nichts Schlimmeres als ethnischen Autismus gibt. Könnten wir uns also etwas Besseres wünschen als die Wahl von Breslau als Standort eines internationalen Dokumentations-, Forschungs- und Diskussionszentrums, das sich mit einer der dramatischsten Erfahrungen großer Menschenmassen im 20. Jahrhundert befasst?

Reden wir ernsthaft über Meckels Vorschlag. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten oder sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen. Das ist eine Chance, keine Bedrohung.                                            

 

(Rzeczpospolita, 7.3.2002; der Autor, Włodzimierz Borodziej, ist Professor für Geschichte und Prorektor der Warschauer Universität; Übersetzung: Mark Brüggemann, Oldenburg)

 

 

Das Projekt ist ausgereift

 

Andrzej Kaczyński

 

Das Projekt von Markus Meckel und Prof. W³odzimierz Borodziej enthält genau das von mir Angemahnte: Dass das Leid der einen Nation nicht dem Leid der anderen Nation gegenübergestellt wird; dass es zu keinem Aufrechnen kommt. In der vorgesehenen Form ist das Zentrum zur Vertreibung eine Idee, deren Verwirklichung man sich nur wünschen kann, und Breslau ist dafür ein idealer Ort.

Der Vorschlag hat sich als völlig ausgereift erwiesen(...). Sein Kontext bleibt dennoch schwierig. Es genügt, an die Reibereien zu erinnern, die unter den Ländern der Visegrad-Gruppe entstanden, als Ungarn zur Unzeit und in der Sache nicht richtig an Tschechien und die Slowakei appellierte, die Beneš-Dekrete zu revidieren, die die Enthebung der Deutschen von Grund und Boden, beweglichem Eigentum und Staatsbürgerrechten besiegelten. Oder nehmen wir (...) das immer noch nicht wiedergutgemachte und – nach Meinung unserer ukrainischen Mitbürger – unzureichend gewürdigte Leid, das ihnen durch die staatlich angeordnete Umsiedlung bei der „Aktion Weichsel“ zugefügt wurde [bei dieser Aktion wurde 1947 der überwiegende Teil der Ukrainer aus den Südostgebieten Polens zwangsweise in andere Gebiete Polens umgesiedelt - Anm. d. Übers.]. Ob wir das wollen oder nicht – diese Sachverhalte sind immer noch mit der Tagespolitik verwoben und werden häufig nicht im Geist von Dialog und Versöhnung aufgegriffen, sondern aus völlig anderen Motiven heraus – z.B. aus Anlass bevorstehender Wahlen in Deutschland oder in der Ukraine oder anlässlich der Verhandlungen um die Bedingungen eines Beitritts zur Europäischen Union.

Die Erläuterungen Markus Meckels – unter anderem die Tatsache, dass er seinen Vorschlag dem Projekt des Bundes der Vertriebenen entgegenstellt – erlauben mir, meine Vorbehalte zurückzunehmen, was ich gern tue; Meckels Erklärung aber, wie er die Ursachen und den historischen Hintergrund der Völkerwanderung des 20. Jahrhunderts im östlichen Mitteleuropa sieht, verdient Anerkennung und weckt den Wunsch zum Dialog. Ich stimme mit Professor Borodziej überein, dass ethnischer Autismus etwas Schlechtes, Flucht aber eine noch schlechtere Methode ist, schwierige Probleme zu lösen.

 

(Rzeczpospolita, 7.3.2002; der Autor, Andrzej Kaczyński, ist Kommentator; Übersetzung: Mark Brüggemann, Oldenburg)