Endet
das Beschreiten des brüchigen Eises der
mitteleuropäischen Geschichte in einer neuen Krise von bisher ungekanntem
Ausmaß?
(…) Janusz Reiter stellte
ungewöhnlich treffend fest, dass der Versuch einer Neuinterpretation der
Geschichte in Mitteleuropa ein Gang auf brüchigem Eis bedeutet. (…)
Diese Gespenster der
Vergangenheit tauchen bereits im Konflikt um die Benes-Dekrete auf, wie auch in
der ungewöhnlichen Aktivität der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen,
Erika Steinbach. Beträfe das nur das für Berlin projektierte „Zentrum gegen
Vertreibungen“ (was selbstverständlich einzig die Deutschen betrifft), wäre die
Angelegenheit nicht so zwiespältig. (…) [Die] Frau Vorsitzende stellt bei jeder
sich bietenden Gelegenheit deutlich weitgehendere Forderungen. Während der
letzten Wahlen zum deutschen Parlament initiierte ihr Entwurf einer
Deklaration, in dem sie die Aufnahme von Polen und Tschechien in die
Europäische Union von der moralischen und materiellen Erfüllung der
Vertriebenenansprüche abhängig machte, eine Menge Streit und bestärkte die
antieuropäische Stimmung in Polen. Wenn man der Logik Frau Steinbachs folgen
würde, müssten die Polen mit denselben Ansprüchen gegenüber ihren jetzigen
Nachbarn auftreten – gegenüber den Litauern, Weißrussen und Ukrainern. Die
Tatsache, dass nicht sie (wie übrigens auch die Polen) über die Grenzverschiebungen
und die Aussiedlungen von Millionen Menschen entschieden, wird offensichtlich
emsig von der Frau Vorsitzenden übergangen. Auf diese Weise würde durch die
Hintertür, aber ungewöhnlich erfolgreich, in die Salons der europäischen
Politik das Gespenst der Neuinterpretation der Nachkriegsordnung zurückkehren.
(…) Mit Schrecken wäre daran zu denken, wenn die Ideen von Frau Steinbach ihre
Nachfolger in den Parlamenten Polens, Litauens und der Ukraine fänden.
(Rzeczpospolita v. 6.5.2002;
der Autor, Paweł Huelle, ist Schriftsteller; Übersetzung: Wulf Schade,
Bochum)
Basil Kerski: Die Regierungskoalition übernahm die Pläne des BdV
nicht unkritisch, sie akzeptierte ein Zentrum, das im Sinne von Frau Steinbach
eine Interpre-tation des II. Weltkrieges und seiner Folgen darstellen würde, nicht. Die Regierungsparteien stellen
sich solch ein Zentrum nicht ohne Beteiligung der Polen oder anderer
europäischer Völker vor. Ich befürchte jedoch, dass die Eröffnung eines
Zentrums gegen Vertreibungen, das sich ausschließlich auf den Aspekt der Folgen
des II. Weltkrieges konzentriert – trotz des guten Willens und im Geist der
Versöhnung – in sich die Gefahr von Missverständnissen sowie der Relativierung
der historischen Ereignisse bergen kann.
Frau Steinbach vergisst, dass das
III. Reich bereits 1939 mit den ethnischen Säuberungen, der Vernichtung der
Juden sowie der Vertreibung der Slawen aus Mitteleuropa begann. Die
rassistische Eroberungspolitik wurde für die Deutschen zum Bumerang; sie
vernichtete das deutsche Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa und im Schatten
der „Rache“ gegen die Deutschen führten die kommunistischen Regierungen andere
ethnische Säuberungen durch, deren Opfer auch Polen oder Ukrainer waren. Diese
Logik bezüglich des II. Weltkrieges sehe ich in der Konzeption des BdV nicht.
(…)
Das Problem der SPD ist, dass die
Parteiführung, außer einigen wenigen Abgeordneten des Bundestages wie Markus
Meckel oder Angelika Schwall-Düren, überhaupt nicht über das Thema nachgedacht
hat. Eine durchdachte Politik dieser Partei war bis zum Auftritt Gerhard
Schröders auf dem Kongress des BdV im Herbst 2000 sichtbar. Der Kanzler
erklärte damals ausdrücklich, dass seine Regierung nicht beabsichtige, das
Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu realisieren. Wenn man heute den in den
Bundestag eingebrachten Antrag der SPD liest, fällt mir eine Orientierung
schwer, was in dieser Partei geschieht. Ich würde diesen Antrag zwar nicht als
Kapitulation vor dem Vertriebenenmilieu werten, der Text ist jedoch ein sehr
oberflächlicher und ratloser Versuch, den Vorschlag von Frau Steinbach in solch
ein Projekt umzugestalten, das den polnisch-deutschen Beziehungen nicht schaden
würde.
(…) Ich meine, dass man die Idee
von Frau Steinbach zurückweisen kann, ohne irgendeine institutionelle
Alternative vorzuschlagen. Es ist ein Fehler auf die Logik der
Vertriebenenorganisationen einzugehen, quasi offensiv einen Kompromiss sucht.
Aber im Grunde realisiert man deren Konzeption - nur unter Beteiligung der Polen
und anderer Völker sowie an einem anderen Ort.
(…) Mit der Forschung über die Folgen des II.Weltkrieges beschäftigen sich in Deutschland und Polen viele Nichtregierungsorganisationen. Aber auch an vielen renommierten historischen Orten wird zu dieser Problematik gearbeitet. Im Juni eröffnen Premierminister Miller und Kanzler Schröder das Willy-Brandt-Institut an der Universität Wroc³aw als ein polnisch-deutsches wissenschaftliches Institut, das sich mit der Geschichte und der aktuellen Entwicklung der zweiseitigen Beziehun-gen beschäftigen wird. Die Konzeption dieses Instituts in Wroc³aw ist weitsichtiger als die Konzeption für das „Zentrum gegen Vertreibungen“. Ich erinnere auch daran, dass sich nicht weit von Wroc³aw das Internationale Jugendbegegnungszentrum in Krzyżowa auf dem ehemaligen Besitz der „vertriebenen“ Familie von Moltke befindet. Diese Institution leidet an Finanzmitteln. Das Defizit in den polnisch-deutschen Beziehungen besteht nicht im Mangel an Institutionen, die sich mit den Vertreibungen beschäftigen, sondern es gibt ein Erziehungssystem, das in beiden Ländern Probleme mit der Vermittlung des heutigen historischen Wissens an junge Leute bezüglich der polnisch-deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert hat, um damit eine Änderung des kollektives Gedächtnis zu verursachen und bezüglich des Verständnisses der Nachbarn.
(Rzeczpospolita v. 17.5.2002;
Gespräch mit Basil Kerski, Chefredakteur der deutsch-polnischen
Monatszeitschrift „Dialog“; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)
Angelika Schwall Düren,
Abgeordnete der SPD
Ich schließe die Bildung eines
Zentrums in Wroc³aw nicht aus, denn dort sind in zweiseitiger Hinsicht die
Erfahrungen von Vertreibungen sichtbar. Zum einen erlebten sie die Deutschen,
zum anderen die Polen, die dorthin kamen, nachdem sie zum Verlassen ihrer
Ostgebiete gezwungen wurden. Diese gemeinsamen Erfahrungen können der
Versöhnung dienen. Meiner Meinung nach kann man nicht ausschließen, dass im
Verlauf der Diskussion andere Partner erscheinen, die fordern, dass das Zentrum
an einem anderen Ort entstehen soll. Wir müssen uns also darüber verständigen,
wo dieser Ort für Forschung, Dokumentation und Erinnerung entstehen muss. (…)
(Rzeczpospolita v. 17.5.2002; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)