Sehr geehrter Herr Michnik!
[...] Wenn Sie den deutschen Bundeskanz-ler um Unterstützung
dieser Initiative bitten, so verstehe ich das als ein Angebot von Ihnen, den
polnisch-deutschen Dialog über Vertreibungen zu unterstützen. Aus meiner Sicht
stelle ich fest, dass der Bundeskanzler die Verantwortung für die Schaffung
eines “Zentrums gegen Vertrei-bungen” in Deutschland – in Berlin – nicht auf
diese Weise von sich schieben kann. Er kann nicht aufgrund Ihrer Einladung
diesen dramatischen Teil der deutschen Geschichte loswerden, indem er ihn nach
Polen deportiert.
Seit dem 6. September 2000 existiert in Deutschland eine
gemeinnützige Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“. Der Sozialdemokrat Peter
Glotz und ich stehen ihr gemeinsam vor. Die Stiftung sieht in ihrem Statut
ausdrücklich Berlin als Standort vor, an dem das Schicksal sowohl der deutschen
Vertriebenen als auch der anderen [auf diese Weise verfolgten, Anm. d. poln.
Übers.] europäischen Nationen dokumentiert und präsentiert werden soll. Und das
nicht ohne Grund. Die über 15 Millionen deutschen Vertriebenen kommen aus
vielen Ländern Europas. Somit ist dies keinesfalls in erster Linie ein
polnisch-deutsches Thema, sondern gleichermaßen ein deutsch-tschechisches,
deutsch-ungarisches, deutsch-rumänisches, deutsch-slowenisches usw. (...)
In Deutschland hätte solch ein Zentrum schon lange gebaut
werden sollen. Unser Land kann sich vor dieser Aufgabe nicht mehr länger
drücken. Wenn die Polen sich ebenfalls mit diesem Thema befassen wollen – um so
besser! Vertreibungen müssen auf der ganzen Welt als menschenrechtswidrig
verurteilt werden. (...)
Zum Schluss frage ich offen: Habe ich Sie falsch verstanden,
wenn Ihre Schlussfol-gerungen nicht nur bei mir den Eindruck hervorgerufen
haben, dass Ihnen daran gelegen ist, ein solches Zentrum nicht in Deutschland
entstehen zu lassen? Ich lade Sie herzlich zum Gedankenaustausch und zur
Podiumsdiskussion in Berlin ein.
(Gazeta Wyborcza, Internet vom 19.5.2002; die Autorin,
Erika Steinbach, ist Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen in Deutschland; Übersetzung:
Mark Brüggemann, Oldenburg)
Der offene Brief von Adam Michnik und Adam Krzemiński
an die Regierungschefs in Deutschland und Polen zum Vertriebenenzentrum ist
eine wichtige Stimme, die sich um ein kluges historisches Gedächtnis und eine
gute Zukunft der polnisch-deutschen Beziehungen sorgt. In der Sache gibt
es da weder etwas hinzuzufügen noch
etwas zu streichen. Als Begleiterscheinung zur Lektüre dieses Textes wie auch
anderer Texte der vergangenen Tage kommen jedoch einige Reflexionen und der
intuitive Verdacht auf, dass wir uns erneut in eine Falle haben locken lassen,
die bestimmte Funktionäre des Bundes der Vertriebenen aufgestellt haben. Erika
Steinbachs Idee, die ausschließlich ein Bestandteil der Kampagne zur
Bundestagswahl ist, hat eine unbesonnene, emotionale und politisch gefärbte
Debatte hervorgerufen, die gegenwärtig nicht zum Beginn einer vertieften
polnisch-deutschen Diskussion über ein so wichtiges, politisch und moralisch
aufgeladenes Problem werden kann – und das in verschiedener Hinsicht: (...)
Was eigentlich soll momentan Gegenstand einer großen
internationalen Debatte sein? (...) Wie können wir die Frage entscheiden, ob
das Zentrum in Berlin oder in Breslau entstehen soll, wenn wir außer dem Namen
gar nicht wissen, was da entstehen soll. Zwar umschreibt der Polen sehr
freundlich gesinnte SPD-Abgeordnete Markus Meckel allgemein den europäischen Aspekt
des Zentrums, doch bleiben grundsätzliche Fragen wie die nach Funktionen und
Aufgaben des Adressaten, im Endeffekt auch hinsichtlich der Finanzierung des
Vorhabens offen. Die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass wir, was Aktionismus,
spektakuläre Gesten und konjunkturabhängige Unternehmungen betrifft, unseresgleichen
suchen. Wenn wir dann aber die Fahnen eingeholt, das Feuer der Emotionen
gelöscht und die Symbole weggeräumt haben, gehen wir jeder für sich nach Hause
und überlassen die Verwirklichung der erhabenen Absichten anderen. Ein solches
Schicksal hat viele Paragraphen getroffen, die im polnisch-deutschen Vertrag
über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 enthalten
sind. Es fehlte an Konsequenz, entsprechenden Institutionen und finanziellen
Mitteln, um die schönen Wünsche und Ideen umzusetzen.
Würde ein “Zentrum gegen Vertreibungen” als eventuelles
Museum oder Ort für Begegnungen und Debatten über ein so grundlegendes Thema
wie die Massenver-treibungen seine belehrenden Funktionen erfüllen? Meine
Antwort fällt negativ aus. Vieles spricht dagegen. In Polen ist in den
vergangenen Jahren viel getan worden, um der Gesellschaft Wissen über die
Vertreibungen verschiedener Nationen und ethnischer Gruppen näherzubringen. Die
polnisch-deutsche Serie „Deutsche in Polen 1945-1950. Eine Auswahl von Dokumenten“,
herausgegeben von Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, ist nur ein
Beispiel für die vielen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen
Bemühun-gen. Am „Instytut Zachodni“ sind Materialien für Schüler und Lehrer
entstanden, in denen ein Themenkomplex das Problem der Vertreibungen in Europa
ist. (...) [Keiner] hat auch nur einen symbolischen Złoty zum Kauf dieser
Publikationen aufgewandt (...). In Polen ist eine ganze Reihe von
Begegnungszentren für Jugendliche und für den polnisch-deutschen Dialog
entstanden; diese Zentren wurden mit finanzieller Unterstützung von der
Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit errichtet. Die Mehrheit von ihnen
schlägt sich mit gewaltigen finanziellen Problemen herum, die das Funktionieren
dieser wichtigen Einrichtungen erschweren. (...) Unser Staat, der mit einer
riesigen Menge existentieller Probleme zu kämpfen hat, kann keinen weiteren
symbolischen Monumentalbau gebrauchen.
Jugendliche aus Białystok oder Lehrer aus den Bieszczady werden nicht nach
Breslau fahren, um über die Vertriebenen zu diskutieren. Notwendig sind
hingegen die Vision und die konsequente
Realisierung des großen Projekts, das die Vertiefung des Wissens der jungen
Polen und Deutschen übereinander ist.
Unerlässlich sind dabei tägliche mühsame Arbeit und die Ausnutzung des
beträchtlichen Potentials an Intellekt, Kräften und gutem Willen, und daran
fehlt es auf beiden Seiten der Grenze nicht. Heldentum und große politische
Gesten sind dafür nicht erforderlich.
(Gazeta Wyborcza, Internet vom 20.5.2002; Anna Wolff-Powêska, Histori-kerin und Politologin, ist Direktorin des Instytut Zachodni (Westinstitut) in Posen; Übersetzung: Mark Brüggemann, Oldenburg)