Grass mit der „Gustloff“ auf schlingerndem Kurs durch die
Geschichte
Die Novelle über den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ hat in der Öffentlichkeit eine äußerst kontrovers geführte Diskussion ausgelöst. Buch und Autor sind vielfach als Tabubrecher willkommen geheißen worden; andere, insbesondere linke Feuilletonisten, haben sich zornig über den Ideologen Grass und dessen Beitrag zur Geschichtsrevision geäußert. Zwei Beispiele: „Die gelungene Darstellung der Wiederkehr des Verdrängten – durchsetzt mit überraschender Kritik an der deutsche Linken - ist spannend und lehrreich zugleich“, schreibt die „Woche“. Dagegen urteilt der Rezensent in der linken Zeitschrift „Konkret“ (3/2002) über Grass: „Heute will der ehemalige Hitlerjunge und Wehrmachtssoldat hingegen sagen: wer an Auschwitz denkt, muss die deutschen Opfer mitdenken. Brav, Günter. Ruhig, Brauner!“
Größer sind die Kontraste in der Bewertung eines Buches wohl
kaum denkbar! Dass dieser Text so unterschiedlich verstanden wurde, hat Gründe.
Doch dazu später.
Was beschreibt Günter Grass? Er rekonstruiert das Schicksal
des KdF-Dampfers „Wilhelm Gustloff“. In Hamburg gebaut und getauft auf den
Namen des von einem Juden erschossenen Schweriner Landesgruppenleiters der
NSDAP Wilhelm Gustloff, war es viele Male mit KdF-Passagieren nach Norwegen
unterwegs, dann in den Kriegsjahren Ausbildungsschiff und Kaserne, bis es am
30. Januar 1945, getroffen von drei Torpedos eines sowjetischen U-Bootes, in
der Ostsee versank. - Tausende Flüchtlinge, darunter an die 4000 Kinder und
Säuglinge, U-Boot-Rekruten und Marinehelferinnen fanden den Tod. - Diese historischen Tatsachen, zu denen auch
gehört, dass das Schiff nicht als Rotkreuz- oder Flüchtlingsschiff
gekennzeichnet, sondern bewaffnet war und einen grauen Kriegsanstrich trug,
sind nicht neu, liegen seit langem gedruckt vor, was Grass in seinem Bericht
auch vermerkt. Also erfindet Grass eine Figur, Tulla Pokriefke, die als
schwangere junge Frau von der sinkenden „Gustloff“ gerettet wird und in der
Stunde des Untergangs des Schiffes ihrer Träume und späteren Albträume auf
einem Torpedoboot ihren Sohn Paul zur Welt bringt, der nun als Journalist und
beauftragt vom “Alten” (Grass), daran geht, die Geschichte des Schiffes und die
Geschichte seiner nationalsozialistisch, stalinistisch und sozialistisch
verbohrten Mutter, seine eigene Geschichte als politisch opportunistischer
Schreiber und gescheiterter Vater sowie die Geschichte seines Jungnazi-Sohnes
Konny zu erzählen. Letzterer bestückt im Internet eine Website mit Worten und
Bildern seiner Begeisterung für den „Blutzeugen“ und Namensgeber des Schiffes.
So kommt er mit einem virtuellen Gegner in Berührung, einem Abiturienten, der
sich als Jude ausgibt. Die beiden treffen sich. Der junge Pokriefke erschießt
den Möchtegern-Juden und wird verurteilt. Der Vater besucht den Jungen im
Strafvollzug.
Und das Ende? Die
Freunde des verurteilten Jung-Nazis Konny warten auf ihn – im Internet: “’Wir
glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...’ Undsoweiter
undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“
Man mag darüber streiten, inwieweit die Novelle
vordergründig konstruiert wirkt; und man mag auch darüber streiten, inwieweit
die Pokriefkes als Figuren abstrakte Sprachhülsen bleiben. Im übrigen ist die
literarische Qualität des Textes fast einmütig als nur mäßig eingeschätzt
worden. Dem kann ich mich anschließen.
Die eigentliche Schwäche des Buches besteht für mich in der
Art und Weise, w i e die Figur des Paul Pokriefke die Geschichte der
„Gustloff“ und die drei Biographien der
Binnenhandlung (Gustloff, Frankfurter und Marinesko) sowie der Rahmenhandlung
(Tulla Pokriefke, Paul Pokriefke und
Konny Pokriefke) abhandelt! Grass kommentiert diese seine Figur des
Journalisten Paul Pokriefke nicht; kein Wort der kritischen oder ironischen Distanz
zu Pokriefke lässt sich aus der Novelle herauslesen. Folglich lese ich das, was Pokriefke sagt, denkt und
schreibt, als vom „Alten“ autorisiert
Genau hier beginnt meine Kritik am Text. Da Grass für mich
nirgends als den Text wertende Instanz auftaucht, muss ich davon ausgehen, dass
Pokriefke ihm aus der Seele spricht, dass Grass mit seiner Figur verschmilzt,
sie des Autors Medium wird und ausspricht, was und wie Grass zum Thema denkt.
Grass – Pokriefke aber präpariert das Schiff und sein
Schicksal sowie das Flüchlingsschicksal der Tulla Pokriefke aus dem
historischen Kontext heraus; was der Katastrophe vorausging, bleibt ungenannt.
Was sich seit 1939 in Polen, der Sowjetunion und in den anderen von
Nazi-Deutschland angegriffenen und besetzten Ländern abspielte, bleibt
vollkommen unerwähnt! Weshalb die Flüchtlinge in das Schiff hineingepfercht
wurden, bleibt unklar. Der russische
U-Boot-Kommandant Marinesko wird als beutehungriger Kriegsmann mit negativen
Eigenschaften charakterisiert. Pokriefke meint:
„Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es
kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen. Gustloff, zum
Beispiel, dem einzig des Führers Wille das Ziel setzte, oder Marinesko, der in
Friedenszeiten nur eines, das Schiffeversenken übte, oder David Frankfurter,
der eigentlich sich selbst erschießen wollte, dann aber, um seinem Volk ein
Zeichen zu geben, eines anderen Fleisch mit vier Löchern durchbohrte.“ Die drei
Figuren werden hier ungeachtet ihres ganz unterschiedlichen politischen und
historischen Kontextes gleichgesetzt und ein und derselben Kritik unterzogen;
sie sind dem Journalisten alle gleich suspekt und unsympathisch. Sie haben alle
drei Unrecht begangen. Differenziert. wird nicht.
Auch in der Rahmenhandlung der Novelle bleibt fragwürdig,,
warum Vater Pokriefke seinen Sohn nicht zur Rede stellt, sondern interessiert
(woran eigentlich?) verfolgt, wie der Sohn unermüdlich braunes Gedankengut
produziert. Auch die Mutter, die den Enkelsohn mit ihrer vertrackten
Begeisterung für das KdF- Schiff in den Ohren liegt, wird nicht ins Gespräch
gezogen.
Grass individualisiert in der Novelle ein deutsches
Flüchtlingsschicksal - das kann ihm nicht angelastet werden. Doch die komplett
unterlassene Einbindung dieses Schicksals in den historischen Kontext ist
kritikwürdig. Für mich steht dabei außer Frage: Von den direkt Betroffenen,
zumal den damaligen Flüchtlingskindern, kann eine solche objektive Betrachtung des
eigenen Schicksals als Folge des Krieges sicher nicht verlangt werden. Wer als
Flüchtling oder Bombenopfer überlebt hat, dem kann und will ich als nach dem
Krieg Geborene nicht abverlangen, das eigene Leid als historisch logisch,
notwendig und gerecht zu empfinden.
Aber von Grass als einem nach eigener Aussage politischen
Menschen und Autor muss ich verlangen, dass er Ursache und Wirkung nicht aus
dem Blick verliert!! Mit dem Blick auf das Einzelschicksal ohne Gesamtkontext
aber nimmt Grass in Kauf, dass Ursache und Wirkung außer acht geraten und
schließlich außer Kraft gesetzt werden könnten. Weil der Bezug auf die
Verursacher des Krieges nicht mehr thematisiert wird, entsteht eine Ambivalenz
in der Darstellung, in der Haltung der Figur Grass-Pokriefke zum historischen
Sachverhalt. Folglich ist das Buch als überfälliger Tabubruch oder als
hellbraune Entgleisung gelesen worden. Hier liegt das eigentliche Problem. Das
Buch zeigt ein Dilemma unserer Gesellschaft: Die entgegengesetzten Reaktionen
auf das Buch beweisen, wie unterschiedlich immer noch oder schon wieder die
Geschichte des Zweiten Weltkrieges gegenwärtig angeeignet wird. Dieses Dilemma
aufzuzeigen, wäre verdienstvoll gewesen, doch Grass hat dieses Anliegen
bedauerlicherweise nicht verfolgt! Das Dilemma besteht darin, dass einerseits
der zeitliche Abstand zum historischen Tatbestand des Zweiten Weltkrieges zum
als berechtigt empfundenen Spielen mit bisherigen Tabus (die deutschen Opfer,
die Vertreibung) führt (das ist vermutlich auch die Position des Günter Grass).
Andererseits wird der Übergang „von einem nationalen Kriegsgedächtnis zu einem
kulturellen Gedächtnis, das die Dinge nicht mehr gegeneinander aufrechnen will,
sondern nebeneinander sehen kann“ (M. Jeismann, Historiker, in einem Gespräch mit
Günter Grass in „Literaturen 5/02, S. 23), von vielen in unserer Gesellschaft
und von vielen Lesern der Novelle als gefährlicher Versuch der
Geschichtsrevision kritisiert.
Bei aller Kritik könnte die Auseinandersetzung mit der Novelle dennoch zweierlei leisten. Der Leser wird sich unweigerlich positionieren müssen. Und: Er wird nachdenken müssen über die Widersprüche und Defizite bisheriger Aneignung der Geschichte des Dritten Reiches in Ost- und Westdeutschland und im vereinigten Deutschland bis auf den heutigen Tag.