Breslau/Wrocław in der polnischen und deutschen
Nachkriegsliteratur [Buchbesprechung]
Gerade angesichts der Diskussion um die Novelle „Im
Krebsgang“ von Günther Grass, die anfangs als ein Werk bezeichnet wurde, dass
endlich auch in der deutschen Nachkriegsliteratur dem Leid der deutschen
Vertriebenen Rechnung trägt, ist die vorliegende Doktorarbeit von Anna Maria
Sawko-von Massov ein interessantes und lesenswertes Buch. Die Autorin, Anna
Maria Sawko-von Massow, wurde 1970 in Wroc³aw als Kind einer polnischen Familie,
die aus den ehemaligen östlichen Gebieten Polens, die heute zur Ukraine bzw.
Weißrussland gehören, geboren. Frau Sawko-von Massow untersucht, wie die Stadt
Breslau/Wroc³aw, v.a. die Zeit der „Festung Breslau“ in der Nachkriegsliteratur
behandelt wird. Durch ihre Arbeit wird deutlich, dass die Bearbeitung des
Themas „Flucht und Vertreibung“ mitnichten in der deutschen Literatur
übergangen worden war, sondern im Gegenteil breitesten Raum fand. Für die
meisten deutschen Leserinnen und Leser ist es wohl das erste Mal, dass sie mit
einigen Werken der polnischen Nachkriegsliteratur zu diesem Thema bekannt
gemacht werden.
Dadurch, dass Sawko-von Massow sowohl die polnische wie auch
die deutsche Literatur zum Untersuchungsgegenstand macht, werden verschiedene
Sichtweisen, je nach Erfahrungen und eigener Verarbeitung der Ereignisse, deutlich.
Der Leser bzw. die Leserin in Deutschland und Polen erfährt, dass es auf beiden
Seiten Werke gibt, die um differenzierte Darstellung unter Einbeziehung
historischer Ursachen bemüht sind.
„Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die breite Masse
der Berichte (zumeist aus der Gattung der Dokumentarberichte) von Autoren
beider Seiten, der polnischen und der deutschen, sich ‘im Persönlichen aufhält’
und häufig von Vorurteilen geprägt bzw. unterwandert ist. Bei einigen Autoren
findet sich der Durchbruch zur kritischen Reflexion der politischen und
militärischen Geschehnisse (Jerrig, Grieger, Jonca, Konieczny). Solche Texte
finden sich verstärkt bei den epischen Formen Roman und Erzählung. Nur wenige
Autoren sind fähig, einen Beitrag zur Lösung der Schuldfrage zu geben, zu ihnen
gehören Wroclaw Wodecki, Günther Anders oder Walter Laquer.
Anhand des Gesamtbestandes der Flucht- und
Vertreibungsliteratur und deren zeitlicher Entwicklung darf erwartet werden,
daß die Deutschen im Laufe der Zeit der Bearbeitung ihres nationalen
Sündenfalls näher kommen. Die Entstehung einer faschistischen Diktatur hatte
katastrophale Folgen für Menschen nahezu aller europäischen Nationalitäten,
einschließlich der deutschen. Eine der wichtigen Aufgaben der Literatur und der
Kunst allgemein ist in diesem Fall: Darstellen und damit eine mögliche
Wiederholung der Katastrophe zu verhindern.“ (Anna Sawko-von Massow, S. 186)
Anna Maria Sawko-von Massow, Breslau, Geschichte und
Geschichten einer Stadt in der Flucht- und Vertreibungsliteratur, Berlin 2001,
ISBN 3-89574-440-9, ca. 28 €
w.s.